Regeln, Codes und
Blutrituale
Antonio Pelle aus dem 'Ndrangheta-Clan hat
Berichten zufolge den Rang eines vangelista (wörtlich: Evangelisten) erreicht,
eines hohen Entscheidungsträgers, wofür er seine Treue auf die Bibel schwören
musste
In einer kriminellen Organisation zählt vor allem die Hierarchie.
Eine vor ein paar Jahren von der italienischen Regierung in Auftrag gegebene
Untersuchung mit dem Namen Crimine-Infinito
hat die komplexen Strukturen der kalabrischen Mafia 'Ndrangheta enthüllt. Wie
sich herausstellte, hatte die 'Ndrangheta, die lange als „horizontale
Mafia" galt, und die man für eine simple Konföderation verschiedener Clans
hielt, eine verborgene hierarchische Struktur mit einer zentralen
Führungsperson—genau wie die besser bekannte Cosa Nostra.
Das Führungsorgan der 'Ndrangheta ist die crimine (das Verbrechen),
die von dem capo crimine
(Anführer des Verbrechens) kontrolliert wird. Sein Sprecher, der mastro di giornata
(Meister des Tages), gibt seine Befehle weiter. Unter ihm liegt die Ebene der
Obersten: der mastro
generale (Allgemeiner Meister), der capo società (Anführer der Gesellschaft) und
der contabile
(Buchhalter).
Die Basis der 'Ndrangheta sind die einzelnen 'ndrine, also Clans, die
aus den Mitgliedern einzelner Familien bestehen (die oft durch arrangierte Ehen
erweitert werden). Jede 'Ndrina hat ein klar abgegrenztes Territorium, genannt locale unter sich, das
nicht immer genau mit administrativen Zonen übereinstimmt: Es kommt vor, dass
eine Stadt in mehreren Locali aufgeteilt ist, oder dass mehre Städte zu einer
Locale gehören. Die Crimine steht über allen Locali, egal wo auf der Welt sie
sich befinden, und jeder muss sich ihren Befehlen bis aufs Letzte unterordnen.
Jedes Locale hat mindestens 49 Mitglieder und untersteht einem capo locale, der auch als capo bastone (oberster
Stab) bezeichnet wird—nach dem Stab, den Schäfer benutzen, um die Schafe
zusammenzutreiben. Dieser organisiert die kriminellen Aktivitäten seines
Territoriums, beraumt Treffen ein, entscheidet über Aufnahmen oder
Beförderungen und löst Konflikte. Genau wie dem Capo Crimine in der zentralen
Führung der 'Ndrangheta, steht auch jedem Capo Locale ein Capo Società zur
Seite, eine Art Manager; ein mastro
di giornata, der seine Anweisungen an die Untergebenen weitergibt;
und ein Contabile, der die Einnahmen aus den illegalen Aktivitäten verwaltet,
die auch als valigetta
(Aktenkoffer) bezeichnet werden.
Die Locali haben jeweils eine Doppelstruktur: die società minore (kleinere
Gesellschaft), die die einfachsten Mitglieder umfasst, und die società maggiore (größere
Gesellschaft), die auch als società
santa (heilige Gesellschaft) bezeichnet wird, und der deren
Vorgesetzten angehören. Zudem gibt es in der 'Ndrangheta zahllose weiter Ränge
(die als doti bezeichnet werden), und die Position eines Mitglieds bestimmt
seine Aufgaben, Pflichten und sein Gehalt. In der Società Minore wird der
unterste Rang von den giovane
d'onore (Jugendlichen der Ehre) eingenommen, den Nachkommen des
Capo und Mitgliedern qua Erbrecht. Über ihnen folgt der Grad des picciotto d'onore (jungen
Mannes der Ehre), die erste Rolle, die neuen Mitgliedern der 'Ndrangheta nach
ihrem Beitritt zugeteilt wird. Er verrichtet Zuarbeiten, vor allem solche
körperlicher Natur, bis er in den Rang des camorrista
(wörtlich übersetzt: jemand, der das Schutzgeld einsammelt) aufsteigt.
Die höchsten Tiere in der Società Minore werden sgarristi (Soldaten)
genannt. Wenn man das Oberhaus der Locale, die Società Maggiore, erreicht, wird
man zum santista
ernannt (die Bezeichnung zeigt an, dass man Mitglied der Società Santa ist).
Eine Stufe darüber steht der vangelista (der Evangelist), der so genannt wird,
weil er der 'Ndrangheta seine Treue auf die Bibel schwören muss (er trägt auf
seiner linken Schulter zudem ein tätowiertes Kreuz). Als Nächstes kommt der
trequartino (drei Viertel), der Hoheitsrechte über drei Viertel der
Organisation innehat (er hat ein Kreuz auf der rechten Schulter und eine
smaragdgrüne Rose auf der Fußsohle).
Dann geht es weiter in den Rängen nach oben: quartino (ein
Viertel), padrino (Pate), crociata (Kreuzritter), stella (Stern), bartolo
(Wortursprung unbekannt), mammasantissima (Heiligste Mutter) und infinito
(Unendlichkeit). Die Società Maggiore gipfelt in der Figur des
conte agadino. Der
Name bezieht sich vermutlich auf den Conto Ugolino (Ugolino della Gherardesca,
den Graf von Donoratico), der in Dantes Göttlicher Komödie im Hungerturm seine
eigenen Kinder auffrisst. Der Anführer der 'Ndrangheta kann seine Kinder
auffressen, sie verkaufen oder opfern, ohne dass er eine Vendetta zu befürchten
hat. An der Spitze der 'Ndrangheta angekommen zu sein, heißt, dass man die
Macht hat, sein eigen Fleisch und Blut zu töten oder zu verraten.
Den verschiedenen Rängen der 'Ndrangheta sind bis zu einem
bestimmten Punkt religiöse Referenzen und Heilige zugeordnet. (Den Picciotti
ist die Santa Liberata zugeordnet, den Camorristi die Santa Nunzia und den
Sgarristi die Santa Elisabetta.) Dazu passt, dass man das Initiationsritual der
'Ndrangheta auch als „Taufe" bezeichnet. Die Mitglieder stellen sich dabei
in einem hufeisenförmigen Halbkreis auf und nehmen den Täufling von einem
„Garanten" entgegen, einer Art Paten, der für das zukünftige Mitglied und
dessen glaubhafte Entschlossenheit, dem Clan beizutreten, bürgt.
Ein Capo Società führt das Ritual durch, stellt dem Initianten
Fragen und liest ihm den Ehrenkodex vor, den er beim Preis seines Lebens
einhalten muss. Die Mafiataufe ist eine „Bluttaufe": Man schneidet dem
neuen Mitglied mit einem scharfen Messer in den Finger, sodass ein Blutstropfen
auf eine Gebetskarte des Erzengel Michael fällt, der als Schutzheiliger der
'Ndrangheta gilt. Dann wird diese an einer Ecke leicht angebrannt. Am Ende der
Zeremonie ist ein neuer „Mann der Ehre" erschaffen worden. (Jede
Beförderung auf einen höheren Rang erfordert dann ein eigenes Ritual.)
Es klingt unwahrscheinlich, aber bis heute, während ich das
schreibe, treten junge Menschen kriminellen Organisationen durch solche
archaischen Rituale bei. Und nicht nur in Italien, sondern auf der ganzen Welt.
In der Nacht vom 15. August 2007 vollzog sich in Duisburg, mitten im scheinbar
so friedlichen Deutschland, der letzte Akt einer 16 Jahre andauernden Fehde.
Die Nirta-Strangio und die Pelle-Vottari—die zwei mächtigsten Clans aus San
Luca, dem kalabrischen Dorf, das als Hauptsitz der 'Ndrangheta gilt, lagen seit
1991 im Streit.
Das Ganze hatte mit einem schlichten Karnevalsstreich begonnen:
Während der Feierlichkeiten warfen ein paar Typen aus der Nirta-Strangio vor
einer von den Pelles betriebenen Bar mit Eiern und Mehl und verschmutzten dabei
das Auto eines Familienangehörigen der Vottari. Das wurde sofort als Affront
verstanden, weil alle wussten, dass die Strangios ihren Einfluss in der Gegend
zu erweitern versuchten. Und so begann eine Fehde, die in den folgenden
anderthalb Jahrzehnten über ein Dutzend Todesopfer gefordert hat. Der letzte
Mordfall, bei dem sechs Menschen starben, ereignete sich in jener Nacht in
Duisburg, als die Nirta-Strangio versuchten, einen einige Monate
zurückliegenden Mord zu rächen.
Sie töteten vor dem italienischen Restaurant La Bruno, wo eines
der Opfer gerade seinen 18. Geburtstag gefeiert hatte, sechs überwiegend junge
Männer, die in Verbindung zu den Familien der Pelle-Vottari standen. Eine
verbrannte Gebetskarte mit dem Bild des Erzengel Michael wurde in der Tasche
des Ehrengastes gefunden, weshalb die Ermittler annahmen, dass im Restaurant
wahrscheinlich ein Initiationsritual der 'Ndrangheta stattgefunden hatte. Im
Inneren gab es eine Statue des Erzengels und in einem fensterlosen Raum im
hinteren Bereich des Restaurants zahlreiche Bilder der Madonna di Polsi, die
von den Mitgliedern der 'Ndrangheta verehrt wird, über einem langen Tisch mit
zwölf Stühlen. Der Hintergrund für die Zeremonie, wie auch für die Morde, lag
circa 2.000 Kilometer südlich in der Kleinstadt San Luca. Regeln, Codes und
Rituale sind von San Luca bis nach Deutschland gereist, ebenso wie in den Rest
Europas und die USA—an jeden Ort, nach dem die 'Ndrangheta ihre Tentakel
ausgestreckt hat.
In einer kriminellen Organisation zu sein heißt, Mitglied einer
Struktur zu sein, die teils als Gewerbe, teils als religiöser Orden und teils
als eine Art altertümliche Armee funktioniert (und wie die römische Armee in
Legionen unterteilt ist). In allen Mafias gibt es zahlreiche Legenden und
Kodizes, die dazu dienen, eine gemeinsame Identität aufzubauen. Rituale sind
hilfreich, weil sie einer Welt ohne Regeln zu Regeln verhelfen: Die
italienischen Mafiafamilien gelten als die vertrauenswürdigsten
Untergrundorganisationen der Welt, weil sie Regeln haben, die nicht denen der
offiziellen Jurisprudenz, also dem Gesetz, entsprechen, sondern dem
Verhaltenskodex und der Disziplin illegaler Operationen.
Es mag paradox erscheinen, dass gerade ein Land, das weltweit für
das generelle Fehlen von Regeln bekannt ist, die Mafia mit dem meisten Regeln
hat. Die italienischen Mafiosi sind konservativ und traditionsbewußt und
unterscheiden sich darin grundsätzlich von ihren modernisierten, emanzipierten
italo-amerikanischen Pendants. Joe Pistone („Donnie Brasco"), der
FBI-Agent, der die New Yorker Mafia infiltriert hat, behauptet, dass die
Mafiosi je brutaler werden, je stärker sie amerikanisiert sind, und dass sie
nicht begreifen, dass man ein Verbrechen nicht einfach begeht, um reich zu
werden. Denn bricht man die Regeln der Mafia, bricht man auch mit ihrer
Lebensweise.
In den 70er Jahren wurde Vincenzo Macrì, der Neffe und designierte
Erbe von Antonio Macrì, dem Anführer der 'Ndrina Sidernos (in Kalabrien), aus
der Organisation verbannt, weil sein Verhalten nicht mit dem eines guten
'Ndranghetista vereinbar war. Vincenzo fuhr auf einer Vespa umher, trug T-Shirt
und Shorts und wurde schließlich einfach ersetzt. Bis heute muss ein
'Ndranghetista sich strikt an bestimmte Vorgaben halten: Er darf kein Playboy
sein, er muss darauf achten, keine Streits anzuzetteln, und muss sich von
Schlägereien und dummen Streichen fernhalten. In anderen Worten: Er darf keine
unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Ich bin von dem Geist der absoluten Selbstaufopferung, der den
Anführern der kriminellen Organisationen abverlangt wird, immer sehr
beeindruckt gewesen. Ich habe mich auch oft gefragt, wie ein Mann die
Bedingungen in einem Hochsicherheitsgefängnis (in dem Mafiachefs laut
italienischem Gesetz untergebracht werden müssen) jahrzehntelang aushalten
kann. Man versteht es besser, wenn man weiß, wie ein Mafiachef als freier Mann
oder gar auf der Flucht leben muss: verdammt zu einem Leben in einem winzigen,
fensterlosen Bunker, wo er den Rechtsorganen zu entkommen versucht.
In Italien gibt es mehr Bunker als in jedem anderen Land der Welt.
Es gibt Orte, z. B. in der Stadt Locri in Kalabrien, wo sie für fast alle
Bewohner zum Alltag gehören. Jeder Haushalt baut sich fast automatisch einen
Bunker, um auf das Schlimmste vorbereitet zu sein: Zwar hofft man, ihn nie zu
benötigen, aber es ist besser, ihn für den Ernstfall zu haben. Bunker gehören
automatisch in den Entwurf eines jeden neuen Hauses. Es ist so, als würden gute
Eltern für die Zukunft ihrer Söhne vorsorgen, indem sie ihnen einen sicheren
Ort schaffen, wo sie sich im Fall einer Flucht verstecken können. Oder auch
einen Schwager, Cousin oder Onkel, wenn dieser ein Versteck braucht. Ein
Mafiosi weiß, dass sein Leben in der Außenwelt ab einem bestimmten Punkt nur
möglich sein wird, wenn er die Möglichkeit hat, sich zu verstecken.
Der Bunker ist jedoch auch eine Gemütsverfassung. Eine, die damit
einhergeht, auf kleinstem Raum zu leben, nie nach draußen zu können und nie
Tageslicht zu sehen. Es ist wie die Höhle eines Tiers. Ein kleiner Verschlag,
der nur durch eine bescheidene Sammlung persönlicher Dinge erträglich wird:
Gebetskarten, Pornohefte, Auto- und Uhrenkataloge—Dinge, die beweisen, dass die
Macht eines Mafioso eher eine innere als eine äußere ist.
Ein Mafiaboss wird sich mit den Bildern dieser Uhren und
Luxusautos zufriedengeben müssen, er wird sie mit seinen Augen kaufen müssen,
weil er nie wieder in der Lage sein wird, sein Spinnenloch zu verlassen.
Das ist der Preis, den jemand zahlen muss, wenn er wahre Macht
erlangen will, die Macht über Leben und Tod.
Ein Mord in aller Öffentlichkeit
Am 16. Oktober, einem Herbstmorgen im kalabresischen Locri, tritt der Vizepräsident des Regionalparlamentes, Francesco Fortugno, aus dem Gebäude der Staatsanwaltschaft auf den Vorplatz hinaus - da stellt sich ihm ein Killer in den Weg und schießt ihn nieder.
Ein Mord in aller Öffentlichkeit. Und eine unmissverständliche Botschaft: Wer der Mafia in Kalabrien den Kampf ansagt, muss sterben.
Kalabrien ist der ausgetretene Vorderschuh des italienischen Stiefels. Und das Herrschaftsgebiet der 'Ndrangheta, der besonders brutalen Festlandsvariante der süditalienischen Mafia. Über weite Teile dieser Region mit ihren zwei Millionen Einwohnern hat der Staat jegliche Kontrolle verloren - so dass bereits der Ruf nach einem Militäreinsatz laut wurde, um Recht und Ordnung zu wiederherzustellen. Tatsächlich herrscht die Willkür der Paten und ihrer Familienbanden: Von hier aus wachen sie über ein globales Imperium aus Drogenschmuggel, Waffenhandel, Geldwäsche und Schutzgeld-Erpressung. Geschätzter Jahresumsatz: 35 Milliarden Euro - mehr als das jährliche Bruttosozialprodukt der gesamten Region.
Und die ehrenwerte Gesellschaft, wie sie sich noch immer nennt, braucht sich um ihren Nachwuchs keine Sorgen zu machen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 28 Prozent. Wer keinen Job hat, geht zur Mafia. Und wer einen Job bekommt, ist auch schon fast dabei. Die 'Ndrangheta ist vermutlich der bedeutendste Arbeitgeber der Region - in einigen Branchen hat sie Monopolstellung: Und macht mit weiß gewaschenen Geldern aus schwarzen Quellen ganz legale Geschäfte.
Ein Mord in aller Öffentlichkeit. Und eine unmissverständliche Botschaft: Wer der Mafia in Kalabrien den Kampf ansagt, muss sterben.
Kalabrien ist der ausgetretene Vorderschuh des italienischen Stiefels. Und das Herrschaftsgebiet der 'Ndrangheta, der besonders brutalen Festlandsvariante der süditalienischen Mafia. Über weite Teile dieser Region mit ihren zwei Millionen Einwohnern hat der Staat jegliche Kontrolle verloren - so dass bereits der Ruf nach einem Militäreinsatz laut wurde, um Recht und Ordnung zu wiederherzustellen. Tatsächlich herrscht die Willkür der Paten und ihrer Familienbanden: Von hier aus wachen sie über ein globales Imperium aus Drogenschmuggel, Waffenhandel, Geldwäsche und Schutzgeld-Erpressung. Geschätzter Jahresumsatz: 35 Milliarden Euro - mehr als das jährliche Bruttosozialprodukt der gesamten Region.
Und die ehrenwerte Gesellschaft, wie sie sich noch immer nennt, braucht sich um ihren Nachwuchs keine Sorgen zu machen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 28 Prozent. Wer keinen Job hat, geht zur Mafia. Und wer einen Job bekommt, ist auch schon fast dabei. Die 'Ndrangheta ist vermutlich der bedeutendste Arbeitgeber der Region - in einigen Branchen hat sie Monopolstellung: Und macht mit weiß gewaschenen Geldern aus schwarzen Quellen ganz legale Geschäfte.
Die Fangarme der Krake
Mafia
Kalter Wind fegt feinen
Sand über die Küstenstraße. Bei Siderno steht ein Mac Donalds Restaurant, vor
den Kassen drängen sich die jungen Leute. Dienstags kostet der Hamburger nur
einen halben Euro. Und viele nützen das aus. Im Winter gibt es nur wenige
Alternativen am äußersten Ende der Stiefelspitze: Fast Food, Fernsehen oder
Fußball. Regelmäßig treffen sich hier Giuseppe, Giovanni, Stefania und
Donatella und plaudern über Probleme, die andernorts für Dauerschlagzeilen
sorgen würden. Stefania beißt genüsslich in zwei noch heiße Pommes Frites.
"Kürzlich ist eine Meldung erschienen, darin hieß es, dass es in den letzten Jahren hier in Kalabrien keine einzige Anzeige wegen Schutzgelderpressung gegeben hat. Sehr witzig - Schutzgelder werden inzwischen von allen bezahlt."
Schwer, sich vorzustellen, dass auch weltweit operierende Konzerne Geld an die Bosse zahlt. Giuseppe scheint aber keine Zweifel zu haben.
"Alle wissen es und niemand würde es wagen, Anzeige zu erstatten. Jeder weiß, wer dahinter steckt, aber die Leute schauen weg. Auch in den Behörden, besonders bei der Polizei. Ich weiß nicht, ob sie das absichtlich tun oder weil sie keine Ahnung haben. Gäbe es mehr Kontrollen, dann würde sich manches ändern."
Giuseppe packt den Hamburger aus und zieht am Strohhalm seiner Cola. Den Appetit hat ihm die Vorstellung von den Schutzgeldeintreibern und den 'Ndrangheta-Bossen nicht verdorben. Auch Donatella stürzt sich auf ihr Fastfood Menu, während sie locker über ihre Probleme redet. In Kalabrien fasziniert die Klarheit darüber, was alles im Argen liegt, wie auch die Erkenntnis, dass man an diesen Zuständen leider nichts ändern kann. Zum Beispiel an der Arbeitslosigkeit.
"Nehmen wir junge Arbeiter oder Angestellte, die werden durchweg ohne Vertrag beschäftigt und erhalten einen Hungerlohn. Keiner wehrt sich dagegen. Wer nicht mitspielt, der wird entlassen, Ersatz gibt es genügend. Es gibt keine Alternativen. Das ist Alltag, wir sind nichts anderes gewöhnt. Wir wehren uns nicht mehr gegen dieses System, das ist inzwischen Teil unserer Kultur. Und wehe, einer tanzt aus der Reihe!"
Das McDonalds-Restaurant ist ein Stück heile Welt und der halbleere Parkplatz strahlt Normalität aus, die Sicherheit gibt. Die doppelten Hamburger zum Schleuderpreis sind aufgezehrt, die vier jungen Leute, ein Jurastudent ein Steuerberater und zwei Verwaltungsfachfrauen passen so gar nicht in das Bild, dass sie selbst von ihrer Heimat zeichnen. Die zwei Paare zwischen 22 und 32 leben recht gut in Kalabrien, haben neue Mittelklassewagen, sind schick gekleidet und voller Zukunftspläne. Aber sie hatten Glück, sagen sie: sie stammen aus den wenigen modernen Familien, die sich dank Bildung und Arbeit aus der Umklammerung der alten 'Ndrangheta-Kultur befreien konnten. Giuseppe, konnte studieren und seine Eltern haben genau aufgepasst, dass er nicht in die Kriminalität abgleitet. Was nicht so leicht ist, wo doch Gut und Böse geradezu hautnah beieinander liegen:
"Nicht wenige meiner ehemaligen Klassenkameraden sind wegen Mordes im Gefängnis oder stehen unter Mordanklage. Auch ich hatte Schulfreunde, die heute auf Kriegsfuß stehen mit der Justiz. Die haben einen anderen Weg eingeschlagen als ich. Eigentlich ganz normal. Die einen bleiben redlich, die anderen kommen vom rechten Weg ab. Und das gilt nicht nur für Kalabrien, sondern für die ganze Welt. Uns geht es in jedem Fall gut."
"Wer hier zufrieden leben will, der kann das ohne weiteres."
"Natürlich wollen wir gewisse Schwierigkeiten in unserer Gesellschaft nicht unter den Teppich kehren."
"Aber das Klima ist wunderbar, hier leben unsere Familien ziemlich komfortabel, die Lebenshaltungskosten sind relativ gering. Die Mafia nehmen wir deshalb in Kauf."
Vier junge Kalabresen, modern aufgeschlossen, europäisch, kultiviert. Sie sind in ihrer Heimat verwurzelt und haben gelernt, mit all den Widersprüchen der Gesellschaft zu leben. Sie sind stolz auf den rechtschaffenen Teil ihrer Kultur und sind es leid, immer nur mit den kriminellen Elementen, mit der 'Ndrangheta in einen Topf geworfen zu werden.
"Wir haben uns doch schon gebessert. Auch die 'Ndrangheta hat sich weiterentwickelt. Bis vor zwanzig Jahren hat sie noch überall Schutzgeld kassiert. Inzwischen haben die Mafiosi herausgefunden, dass es viel besser ist, selber Geschäfte aufzumachen, als Andere in die Luft zu jagen."
"Ohne Sarkasmus könnten wir mit unserer Geschichte nicht in Frieden leben."
Die Geschichte der neapolitanischen Camorra, der sizilianischen Cosa Nostra und der kalabresischen 'Ndrangheta geht auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, als die Gründung des italienischen Nationalstaates im Süden des Stiefels ein Machtvakuum hinterließ: Rom interessierte sich nicht für das unzugängliche, rückständige Hinterland - und hatte angesichts der archaischen Familienstrukturen und des historisch gewachsenen Widerstands gegen jede Einmischung von außen auch nur wenig Chancen, seine Autorität als Zentralmacht durchzusetzen.
Die Mafia schloss die Lücke und übernahm die Kontrolle. Sie legitimierte sich durch ihr Machtmonopol und die mangelnde Präsenz des Staates - die Justiz hat sich bis heute nicht den gebotenen Respekt verschaffen können. Und sie legitimierte sich durch pathetische Rituale und Symbole und durch den Rückgriff auf Normen und Werte, die bereits tief in der Kultur des Südens verwurzelt waren. Bis heute gilt das Gesetz der Ehre und der Omertá - die bedingungslose Verschwiegenheit sichert das Überleben dieser Organisation auf der falschen Seite des Gesetzes. Der Treueschwur ist Teil eines Taufrituals, das in einem quasi-religiösen Akt vollzogen wird - der Pakt gilt auf Lebenszeit, wer ihn bricht und zum Verräter wird, hat sein Leben verwirkt.
Dieser Initiationsritus ist auch Thema im Canto di malavita - im Gesang des Verbrechens: Seine folkloristisch - harmonische Anmutung steht im krassen Gegensatz zu den bedrohlichen Texten, die die Gewalt der 'Ndrangheta verherrlichen.
"Kürzlich ist eine Meldung erschienen, darin hieß es, dass es in den letzten Jahren hier in Kalabrien keine einzige Anzeige wegen Schutzgelderpressung gegeben hat. Sehr witzig - Schutzgelder werden inzwischen von allen bezahlt."
Schwer, sich vorzustellen, dass auch weltweit operierende Konzerne Geld an die Bosse zahlt. Giuseppe scheint aber keine Zweifel zu haben.
"Alle wissen es und niemand würde es wagen, Anzeige zu erstatten. Jeder weiß, wer dahinter steckt, aber die Leute schauen weg. Auch in den Behörden, besonders bei der Polizei. Ich weiß nicht, ob sie das absichtlich tun oder weil sie keine Ahnung haben. Gäbe es mehr Kontrollen, dann würde sich manches ändern."
Giuseppe packt den Hamburger aus und zieht am Strohhalm seiner Cola. Den Appetit hat ihm die Vorstellung von den Schutzgeldeintreibern und den 'Ndrangheta-Bossen nicht verdorben. Auch Donatella stürzt sich auf ihr Fastfood Menu, während sie locker über ihre Probleme redet. In Kalabrien fasziniert die Klarheit darüber, was alles im Argen liegt, wie auch die Erkenntnis, dass man an diesen Zuständen leider nichts ändern kann. Zum Beispiel an der Arbeitslosigkeit.
"Nehmen wir junge Arbeiter oder Angestellte, die werden durchweg ohne Vertrag beschäftigt und erhalten einen Hungerlohn. Keiner wehrt sich dagegen. Wer nicht mitspielt, der wird entlassen, Ersatz gibt es genügend. Es gibt keine Alternativen. Das ist Alltag, wir sind nichts anderes gewöhnt. Wir wehren uns nicht mehr gegen dieses System, das ist inzwischen Teil unserer Kultur. Und wehe, einer tanzt aus der Reihe!"
Das McDonalds-Restaurant ist ein Stück heile Welt und der halbleere Parkplatz strahlt Normalität aus, die Sicherheit gibt. Die doppelten Hamburger zum Schleuderpreis sind aufgezehrt, die vier jungen Leute, ein Jurastudent ein Steuerberater und zwei Verwaltungsfachfrauen passen so gar nicht in das Bild, dass sie selbst von ihrer Heimat zeichnen. Die zwei Paare zwischen 22 und 32 leben recht gut in Kalabrien, haben neue Mittelklassewagen, sind schick gekleidet und voller Zukunftspläne. Aber sie hatten Glück, sagen sie: sie stammen aus den wenigen modernen Familien, die sich dank Bildung und Arbeit aus der Umklammerung der alten 'Ndrangheta-Kultur befreien konnten. Giuseppe, konnte studieren und seine Eltern haben genau aufgepasst, dass er nicht in die Kriminalität abgleitet. Was nicht so leicht ist, wo doch Gut und Böse geradezu hautnah beieinander liegen:
"Nicht wenige meiner ehemaligen Klassenkameraden sind wegen Mordes im Gefängnis oder stehen unter Mordanklage. Auch ich hatte Schulfreunde, die heute auf Kriegsfuß stehen mit der Justiz. Die haben einen anderen Weg eingeschlagen als ich. Eigentlich ganz normal. Die einen bleiben redlich, die anderen kommen vom rechten Weg ab. Und das gilt nicht nur für Kalabrien, sondern für die ganze Welt. Uns geht es in jedem Fall gut."
"Wer hier zufrieden leben will, der kann das ohne weiteres."
"Natürlich wollen wir gewisse Schwierigkeiten in unserer Gesellschaft nicht unter den Teppich kehren."
"Aber das Klima ist wunderbar, hier leben unsere Familien ziemlich komfortabel, die Lebenshaltungskosten sind relativ gering. Die Mafia nehmen wir deshalb in Kauf."
Vier junge Kalabresen, modern aufgeschlossen, europäisch, kultiviert. Sie sind in ihrer Heimat verwurzelt und haben gelernt, mit all den Widersprüchen der Gesellschaft zu leben. Sie sind stolz auf den rechtschaffenen Teil ihrer Kultur und sind es leid, immer nur mit den kriminellen Elementen, mit der 'Ndrangheta in einen Topf geworfen zu werden.
"Wir haben uns doch schon gebessert. Auch die 'Ndrangheta hat sich weiterentwickelt. Bis vor zwanzig Jahren hat sie noch überall Schutzgeld kassiert. Inzwischen haben die Mafiosi herausgefunden, dass es viel besser ist, selber Geschäfte aufzumachen, als Andere in die Luft zu jagen."
"Ohne Sarkasmus könnten wir mit unserer Geschichte nicht in Frieden leben."
Die Geschichte der neapolitanischen Camorra, der sizilianischen Cosa Nostra und der kalabresischen 'Ndrangheta geht auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, als die Gründung des italienischen Nationalstaates im Süden des Stiefels ein Machtvakuum hinterließ: Rom interessierte sich nicht für das unzugängliche, rückständige Hinterland - und hatte angesichts der archaischen Familienstrukturen und des historisch gewachsenen Widerstands gegen jede Einmischung von außen auch nur wenig Chancen, seine Autorität als Zentralmacht durchzusetzen.
Die Mafia schloss die Lücke und übernahm die Kontrolle. Sie legitimierte sich durch ihr Machtmonopol und die mangelnde Präsenz des Staates - die Justiz hat sich bis heute nicht den gebotenen Respekt verschaffen können. Und sie legitimierte sich durch pathetische Rituale und Symbole und durch den Rückgriff auf Normen und Werte, die bereits tief in der Kultur des Südens verwurzelt waren. Bis heute gilt das Gesetz der Ehre und der Omertá - die bedingungslose Verschwiegenheit sichert das Überleben dieser Organisation auf der falschen Seite des Gesetzes. Der Treueschwur ist Teil eines Taufrituals, das in einem quasi-religiösen Akt vollzogen wird - der Pakt gilt auf Lebenszeit, wer ihn bricht und zum Verräter wird, hat sein Leben verwirkt.
Dieser Initiationsritus ist auch Thema im Canto di malavita - im Gesang des Verbrechens: Seine folkloristisch - harmonische Anmutung steht im krassen Gegensatz zu den bedrohlichen Texten, die die Gewalt der 'Ndrangheta verherrlichen.
'Ndrangheta, Camurra e Mafia
Es gab ein Schlösschen mit drei Sälen
Der erste stank nach Verrat
Drei Tropfen Blut fand ich im zweiten
Und im dritten gab es eine Gesellschaft
Hier wurde ich als würdig anerkannt
Und unter dem Baum der Mitwisser getauft
Ehrenwerter Kreis, ich grüße Euch alle
Bis zum Tod bin ich mit Euch verbunden
Ich bin einer von Euch für Blut und Ehre
Und um die Unwürdigen und die Verräter zu jagen
Wir kennen keine Gnade und wir vergeben nicht
Das ist der Befehl der Gesellschaft
Die 'Ndrangheta, die Camorra und die Mafia
sind die organisierte Gesellschaft
Die 'Ndrangheta, die Camorra und die Mafia
Gesetze der Ehre, Gesetze der Schweigsamkeit
Den Schwur, sich auf Leben und Tod den Regeln der ehrenwerten Gesellschaft zu unterwerfen, kennen alle Mafiaorganisationen. Und doch unterscheidet sich die 'Ndrangheta von der Camorra und der Cosa Nostra: Sie ist undurchsichtiger, viel brutaler, viel skrupelloser. Diese Organisation wird wie keine zweite durch enge Familienbande zusammengehalten. Das macht die 'Ndrangheta so mächtig - und ihre Opfer so hilflos.
Der Versuch, sich die Mafia vom Leib zu halten
Die Sperrholzplatte,
die an einem Straßenschild lehnt, ist selbst gemalt. "Autolavaggio due
ERRE", Autowäsche zwei R steht in zwei Zeilen und drunter ist ein Pfeil,
der in eine Seitenstraße zeigt. Rechter Hand ist eine Art Waschhalle, bestehend
aus einem Betonboden mit einem Gully in der Mitte und roh verputzten, sechs
Meter hohen Seitenwänden, auf denen ein Wellblechdach ruht. Aus dem Halbdunkel
kommt ein schmaler kleiner Mann. Er hat silbrig gelockte Haare, sein Mund
verzieht sich zu einem freundlichen Lächeln. Er begutachtet den Lieferwagen und
weist den Kunden schließlich in die Mitte der Halle ein. Dann macht er sich mit
der Hochdruck-Wasserpistole an die Arbeit.
"Wir waschen von Hand, das ist nicht wie in der Waschstrasse, bei uns wird der Wagen viel schonender sauber. Hier wird der Lack nicht von rotierenden Bürsten zerkratzt. Erst wird der grobe Schmutz beseitigt, dann kommt das Shampoo - das ist eine Wäsche wie es sich gehört."
Rocco ist mit einer Vorsicht bei der Sache, als wäre er ein Friseur, der einem Kunden die Kopfhaut massiert. Rocco ist 56, seit dreißig Jahren wäscht er Autos und Lastzüge. Zusammen mit seinem um vier Jahre jüngeren Partner, auch der heißt Rocco, deshalb die zwei R auf dem selbst gemalten Firmenschild. Rocco & Rocco sind außerdem Schwäger, seit sie zwei Schwestern geheiratet haben. Sie leben vor allem von Stammkunden, die die abseits gelegene Waschhalle schon seit langem kennen. Es wird immer schwieriger, von ehrlicher Arbeit zu leben, auch darin sind sich die beiden Roccos einig.
"Seit dreißig Jahren arbeite ich jetzt hier in dieser Halle, ich habe keine Zähne mehr, wegen der Feuchtigkeit habe ich überall Rheuma, schauen sie sich meine Hände an. Wenn ich irgendwann mal in Rente gehen kann, dann krieg ich als Freiberufler grade mal 500 Euro Rente."
Der jüngere Rocco redet sich schnell in Rage. In Kalabrien könnte man herrlich leben, wenn nicht auf jeden ehrlichen Arbeiter fünf andere kämen, die keinen Strich tun und in Saus und Braus leben.
"Das ist der erste Kunde heute Morgen. Wo soll ich hin in meinem Alter. Wer zum Teufel sollte mich mit meinen 54 Jahren noch wollen? Hab ich recht oder nicht? Mit bleibt nichts anderes als durchzuhalten, bis sie mir meine dürftige Rente geben. Andernfalls verhungern wir. Wir leisten weiter ehrliche Arbeit und lassen uns unseren Stolz nicht nehmen."
Das System Mafia beherrscht den Arbeitsmarkt, vermittelt einerseits Arbeitskräfte, ist aber andrerseits auch verantwortlich für die hohe Arbeitslosigkeit. Die 'Ndrangheta saugt das Land aus. Der kleine Mann in Kalabrien wird der Mafia regelrecht in die Arme getrieben. Rocco und Rocco empfinden inzwischen tiefe Wut auf die Politiker, welcher Partei auch immer. Meint der Ältere mit inzwischen maliziösem Lächeln:
"Haben Sie nicht mitbekommen, wie viel die da oben wieder geklaut haben? Die bringen Milliarden auf die Seite und was bleibt dem kleinen Mann übrig? Es sind die Großkopferten, die in der Regierung, die stehlen das ganze Geld. Alle haben sie Gerichtsverfahren am Hals, aber nach vierzehn Tagen Untersuchungshaft sind sie wieder auf freiem Fuß. Aber wenn sich der kleine Mann etwas zuschulden kommen lässt, dann muss er schrecklich büßen. Die machen Dich echt fertig. Aber mit den Verbrechern sind sie zahm: wie viele Mörder sind schon nach kurzer Zeit wieder auf freiem Fuß. Ständig hört man im Fernsehen von solchen Fällen. In Italien gibt's keine Gerechtigkeit, hier herrscht weder Recht und noch Gesetz."
Die laxe Justiz ermuntert die Picciotti, die Geldeintreiber der 'Ndrangheta zur Dreistigkeit. Sie kommen unangemeldet, bestaunen listig Laden oder Werkstatt ihres Opfers und sprechen dann von möglichen Unannehmlichkeiten. Da weiß dann jeder sofort Bescheid. Ein unerträgliches Unrecht für schwer arbeitende Kleinunternehmer.
"Ich will ihnen mal was sagen: Wir schuften wie die Maulesel von morgens bis abends und uns bleibt noch nicht mal so viel Geld übrig, dass wir mit der Familie Pizza essen gehen können. Entweder man zahlt, oder man macht seinen Laden dicht. Ich, der ich hier schufte soll jemandem 500 oder 1000 Euro Schutzgeld im Monat bezahlen? Kommt nicht in Frage. Da mache ich den Laden zu und gehe nach Hause. Ich soll arbeiten, damit die sich mit meinem Geld ein schönes Leben machen? Einen Scheißdreck werde ich tun."
Rocco und Rocco bestreiten, dass auch sie an die Bosse zahlen. Sie wissen, dass sie schutzlos sind, das schwächste Glied in einer raffgierigen Gesellschaft, eingekeilt zwischen gesetzesverachtenden Räuberbanden und skrupellosen Politikern, die für ein paar Wählerstimmen ihre eigene Großmutter verkaufen würden. Sie ziehen es vor, sich in ihrer eigenen kleinen Welt zu verschanzen, statt sich offen zu wehren, weil sie nämlich garantiert den Kürzeren ziehen würden. Rocco dem Jüngeren macht das Älterwerden Sorgen - und die Zukunft seiner Kinder:
"Gebe Gott, dass mir nichts Schlimmes passiert. Denn wenn ich krank würde - ich wüsste nicht, wie es dann weitergehen sollte. Aber wissen sie, was meine größte Sorge ist? Meine Kinder, die zukünftigen Generationen. Nichts kann ich denen hinterlassen, obwohl ich mich ein Leben lang für sie abgeschuftet habe."
Nirgendwo hat die Mafia so eine lange Blutspur hinterlassen wie in Kalabrien. Auch die internen Auseinandersetzungen werden viel erbitterter ausgetragen als in Sizilien: Die Zahl der Toten beim Bandenkrieg der 'Ndrangheta Ende der achtziger Jahre lag bei über eintausend. Ein Mantel des Schweigens hat sich über all diese Verbrechen gelegt - das Syndikat hält dicht.
Das hat eine lange Tradition, sagt der kalabresische Schriftsteller Corrado Alvaro. Mitte der fünfziger Jahre beschrieb er in der Zeitung Corriere de la Serra eine Begebenheit aus Jugendtagen.
Ich weiß von der 'Ndrangheta, der ehrenwerten Gesellschaft, kurz: von der Mafia, seit ich denken kann. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal nach Hause kam, um dort meine Ferien zu verbringen. Meine Mutter rannte mir entgegen, um mich vorzuwarnen, dass mein Vater oben im Wohnzimmer sitze - mit "denen von der Gesellschaft", wie sie sagte.
"Wir waschen von Hand, das ist nicht wie in der Waschstrasse, bei uns wird der Wagen viel schonender sauber. Hier wird der Lack nicht von rotierenden Bürsten zerkratzt. Erst wird der grobe Schmutz beseitigt, dann kommt das Shampoo - das ist eine Wäsche wie es sich gehört."
Rocco ist mit einer Vorsicht bei der Sache, als wäre er ein Friseur, der einem Kunden die Kopfhaut massiert. Rocco ist 56, seit dreißig Jahren wäscht er Autos und Lastzüge. Zusammen mit seinem um vier Jahre jüngeren Partner, auch der heißt Rocco, deshalb die zwei R auf dem selbst gemalten Firmenschild. Rocco & Rocco sind außerdem Schwäger, seit sie zwei Schwestern geheiratet haben. Sie leben vor allem von Stammkunden, die die abseits gelegene Waschhalle schon seit langem kennen. Es wird immer schwieriger, von ehrlicher Arbeit zu leben, auch darin sind sich die beiden Roccos einig.
"Seit dreißig Jahren arbeite ich jetzt hier in dieser Halle, ich habe keine Zähne mehr, wegen der Feuchtigkeit habe ich überall Rheuma, schauen sie sich meine Hände an. Wenn ich irgendwann mal in Rente gehen kann, dann krieg ich als Freiberufler grade mal 500 Euro Rente."
Der jüngere Rocco redet sich schnell in Rage. In Kalabrien könnte man herrlich leben, wenn nicht auf jeden ehrlichen Arbeiter fünf andere kämen, die keinen Strich tun und in Saus und Braus leben.
"Das ist der erste Kunde heute Morgen. Wo soll ich hin in meinem Alter. Wer zum Teufel sollte mich mit meinen 54 Jahren noch wollen? Hab ich recht oder nicht? Mit bleibt nichts anderes als durchzuhalten, bis sie mir meine dürftige Rente geben. Andernfalls verhungern wir. Wir leisten weiter ehrliche Arbeit und lassen uns unseren Stolz nicht nehmen."
Das System Mafia beherrscht den Arbeitsmarkt, vermittelt einerseits Arbeitskräfte, ist aber andrerseits auch verantwortlich für die hohe Arbeitslosigkeit. Die 'Ndrangheta saugt das Land aus. Der kleine Mann in Kalabrien wird der Mafia regelrecht in die Arme getrieben. Rocco und Rocco empfinden inzwischen tiefe Wut auf die Politiker, welcher Partei auch immer. Meint der Ältere mit inzwischen maliziösem Lächeln:
"Haben Sie nicht mitbekommen, wie viel die da oben wieder geklaut haben? Die bringen Milliarden auf die Seite und was bleibt dem kleinen Mann übrig? Es sind die Großkopferten, die in der Regierung, die stehlen das ganze Geld. Alle haben sie Gerichtsverfahren am Hals, aber nach vierzehn Tagen Untersuchungshaft sind sie wieder auf freiem Fuß. Aber wenn sich der kleine Mann etwas zuschulden kommen lässt, dann muss er schrecklich büßen. Die machen Dich echt fertig. Aber mit den Verbrechern sind sie zahm: wie viele Mörder sind schon nach kurzer Zeit wieder auf freiem Fuß. Ständig hört man im Fernsehen von solchen Fällen. In Italien gibt's keine Gerechtigkeit, hier herrscht weder Recht und noch Gesetz."
Die laxe Justiz ermuntert die Picciotti, die Geldeintreiber der 'Ndrangheta zur Dreistigkeit. Sie kommen unangemeldet, bestaunen listig Laden oder Werkstatt ihres Opfers und sprechen dann von möglichen Unannehmlichkeiten. Da weiß dann jeder sofort Bescheid. Ein unerträgliches Unrecht für schwer arbeitende Kleinunternehmer.
"Ich will ihnen mal was sagen: Wir schuften wie die Maulesel von morgens bis abends und uns bleibt noch nicht mal so viel Geld übrig, dass wir mit der Familie Pizza essen gehen können. Entweder man zahlt, oder man macht seinen Laden dicht. Ich, der ich hier schufte soll jemandem 500 oder 1000 Euro Schutzgeld im Monat bezahlen? Kommt nicht in Frage. Da mache ich den Laden zu und gehe nach Hause. Ich soll arbeiten, damit die sich mit meinem Geld ein schönes Leben machen? Einen Scheißdreck werde ich tun."
Rocco und Rocco bestreiten, dass auch sie an die Bosse zahlen. Sie wissen, dass sie schutzlos sind, das schwächste Glied in einer raffgierigen Gesellschaft, eingekeilt zwischen gesetzesverachtenden Räuberbanden und skrupellosen Politikern, die für ein paar Wählerstimmen ihre eigene Großmutter verkaufen würden. Sie ziehen es vor, sich in ihrer eigenen kleinen Welt zu verschanzen, statt sich offen zu wehren, weil sie nämlich garantiert den Kürzeren ziehen würden. Rocco dem Jüngeren macht das Älterwerden Sorgen - und die Zukunft seiner Kinder:
"Gebe Gott, dass mir nichts Schlimmes passiert. Denn wenn ich krank würde - ich wüsste nicht, wie es dann weitergehen sollte. Aber wissen sie, was meine größte Sorge ist? Meine Kinder, die zukünftigen Generationen. Nichts kann ich denen hinterlassen, obwohl ich mich ein Leben lang für sie abgeschuftet habe."
Nirgendwo hat die Mafia so eine lange Blutspur hinterlassen wie in Kalabrien. Auch die internen Auseinandersetzungen werden viel erbitterter ausgetragen als in Sizilien: Die Zahl der Toten beim Bandenkrieg der 'Ndrangheta Ende der achtziger Jahre lag bei über eintausend. Ein Mantel des Schweigens hat sich über all diese Verbrechen gelegt - das Syndikat hält dicht.
Das hat eine lange Tradition, sagt der kalabresische Schriftsteller Corrado Alvaro. Mitte der fünfziger Jahre beschrieb er in der Zeitung Corriere de la Serra eine Begebenheit aus Jugendtagen.
Ich weiß von der 'Ndrangheta, der ehrenwerten Gesellschaft, kurz: von der Mafia, seit ich denken kann. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal nach Hause kam, um dort meine Ferien zu verbringen. Meine Mutter rannte mir entgegen, um mich vorzuwarnen, dass mein Vater oben im Wohnzimmer sitze - mit "denen von der Gesellschaft", wie sie sagte.
Ganz erfreut fragte
ich zurück: "Ja, gibt es denn in diesem Dorf auch endlich eine
Gesellschaft?" - denn ich hatte zunächst an eine Art Genossenschaft
gedacht, die gegründet worden sei, um sich für die Gemeindeinteressen
einzusetzen.
Meine Mutter
widersprach mir aber heftig: "Es ist die Gesellschaft der
Verbrecher".
Ich habe keine
Ahnung, warum mein Vater sich mit ihnen einließ. Aber ehrlich gesagt:
Überrascht hat es mich nicht. Niemand in dem ganzen Dorf glaubte, dass man
"diese Gesellschaft" irgendwie verhindern könne - gar nicht mal aus
Angst, sondern weil sie eine Art Oberschicht repräsentierte. Weil wir nur
völlig konfuse Vorstellungen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit oder
Legalität und Illegalität hatten, und weil wir uns keinerlei Gedanken darüber
machten, wie sie ihre Macht missbrauchten, fanden auch wir überhaupt nichts
dabei, uns mit einem 'Ndranghitista einzulassen.
Der 'Ndrangheta ist auch deshalb so schwer beizukommen, weil sie über raffinierte Führungs- und Organisationsstrukturen verfügt. Sie wird straff geführt - und lässt den einzelnen Familien und ihren Clans dennoch ein Maximum an Autonomie. Sie ist unterteilt in verschiedene Gruppen und Sektionen. Es gibt eine "obere Gesellschaft", bestehend aus einem dreiköpfigen Führungsgremium, dem Crimine.
Der 'Ndrangheta ist auch deshalb so schwer beizukommen, weil sie über raffinierte Führungs- und Organisationsstrukturen verfügt. Sie wird straff geführt - und lässt den einzelnen Familien und ihren Clans dennoch ein Maximum an Autonomie. Sie ist unterteilt in verschiedene Gruppen und Sektionen. Es gibt eine "obere Gesellschaft", bestehend aus einem dreiköpfigen Führungsgremium, dem Crimine.
Hier werden wesentliche
Entscheidungen getroffen und Konflikte beigelegt. Und es gibt eine untere
Gesellschaft, die Klasse der Befehlsempfänger - eingeschworen auf absoluten
Gehorsam. Diese Camorristi und Picciotti besorgen das eigentliche
Schmutzgeschäft: Drogenschmuggel, Waffenhandel, Schutzgelderpressung,
Raubüberfälle, Brandanschläge. Der Terror gehört zum Alltag in Kalabrien: 300
Attentate gab es im vergangenen Jahr auf Geschäfte, Fabriken, Restaurants,
Rathäuser. Doch die Zahl derer wächst, die sich dem Terror nicht mehr beugen
wollen.
Das Schweigen brechen
Soriano liegt auf der
dem tyrrhenischen Meer zugewandten Seite Kalabriens. Schon die Ortseinfahrt
bietet einen trostlosen Anblick. Haufen von Müll, alte Autoreifen, aber auch
halbfertige Häuser und Betonskelette, ungepflegte kleine Handwerksbetriebe.
Etwa zweihundert Meter nach dem Ortsschild taucht linker Hand ein großes gelbes
Tor auf, ein geteerter Parkplatz, halb überdacht, dahinter ein verschachteltes
zweistöckiges Lagerhaus, in dem drei stämmige Arbeiter mit dem Abladen eines
Lastwagens beschäftigt sind.
Wer nach dem Chef fragt, steht unversehens einer zierlichen Person gegenüber, die wie ein Teenager wirkt, blonder Pagenkopf, schmale Figur, jugendliche Kleidung. Das vermeintliche Mädchen ist eine gestandene Frau, sie heißt Vladimira Pugliese Varì, ist gertenschlank, kaum einen Meter sechzig groß, ein Energiebündel. und die Chefin einer kleinen Firma, die seit vielen Jahren der 'Ndrangheta trotzt.
"Seit 1998 sind 12 Anschläge auf uns verübt worden. Alles Mögliche haben sie Brand gesteckt, Lager, Möbel, Autos, Lieferwagen, sogar am helllichten Tag. Dann kamen anonyme Anrufe, vor der Wohnungstür und am Fabriktor standen immer wieder mit Benzin gefüllte Flaschen. Seit sieben Jahren Drohungen ohne Ende."
Vladimiras Firma mit einem halben Dutzend Angestellten ist ein Familienbetrieb. Seit drei Generationen werden hier Körbe und Möbel aus Weidenruten geflochten. Dank der wesentlich billigeren Importware aus Fernost ist zwar die Eigenproduktion zurückgegangen, dafür hat Vladimira Vari den Handel mit Gartenmöbeln und Korbstühlen aber erfolgreich ausweiten können. Dumm nur, dass andere mitverdienen wollen. Die Anschläge nehmen kein Ende und lassen nur einen Schluss zu:
"Das sind eindeutig Erpressungsversuche. Die anonymen Anrufer fordern uns immer wieder auf, Vorsorge zu tragen. Im Mafiajargon heißt das, wir sollten Kontakt aufnehmen mit diesem oder jenem, der uns dann mit den Hintermännern der Attentate zusammenbringen sollte, um uns mit ihnen zu einigen. Und eine monatliche Zahlung von Schutzgeld zu vereinbaren. Weil wir uns aber nie auf dieses Spiel eingelassen haben, gab es immer wieder neue Anschläge, im Schnitt zwei pro Jahr. Der letzte am 11. Juni letzten Jahres."
Die zierliche Gestalt im pastellfarbenen Rollkragenpulli und in eng anliegender Hose reibt sich die Hände vor dem kleinen Elektroöfchen. In Kalabrien sind Heizungen auch heute nicht üblich. Doch es ist nicht nur die kalte Jahrszeit, die der jungen Frau zu schaffen macht. Sieben Jahre lang haben Valdimira und ihre Familie immer wieder Anzeige erstattet und gehofft, die Täter würden gefasst und vor Gericht gestellt. Doch die Polizei tappt im Dunkeln, und wenn sie ihre Streifenfahrten rund ums Firmengelände wieder einstellt, kommt das nächste Attentat. Der Sachschaden beträgt mittlerweile mehr als eine Million Euro. Der moralische Schaden lässt sich nicht beziffern, sondern nur beschreiben:
"Wir leben in ständiger Angst, schrecken auf bei jedem verdächtigen Geräusch, am Tag wie in der Nacht, wir fürchten uns vor anonymen Anrufen. Und da fragen wir uns dann: ist das noch Leben oder grade mal Überleben. Und dann sagen wir uns: nein, es ist nicht richtig, nachzugeben oder gar aufzugeben. Denn wir sind ja die anständigen Bürger. Warum sollen wir uns der Kriminalität beugen? Und schließlich haben wir ein Kind. Können wir dem etwa ein Bild vermitteln von seinen Eltern und von einer ganzen Gesellschaft hier in Kalabrien, die sich in die Knie zwingen lassen?"
Ihr Mut zur Anklage ist gleichzeitig auch ihre Lebensversicherung, meint Vladimira, während sie hinunter geht ins Lager, um das Tor zu schließen, denn die Arbeiter werden zur Mittagspause gleich nach Hause gehen. Die Mafiosi verunsichert das grelle Licht der Öffentlichkeit. Sie ist offensichtlich das beste Mittel, um sich vor ihnen zu schützen. Allgemeines Schweigen ist dagegen ein guter Nährboden für die 'Ndrangheta.
"Die meisten Kalabresen halten den Mund, weil sie Angst haben. Nehmen wir zum Beispiel die Pentiti, geständige Mafiosi, wegen der Blutsbande eine ausgesprochene Seltenheit bei der 'Ndrangheta. Und die wenigen, die der Justiz all ihre Geheimnisse verraten haben, wurden dann einfach sich selbst überlassen. Ohne persönlichen Schutz und finanzielle Unterstützung. Ist doch klar, dass man unter solchen Umständen besser nichts mehr sagt."
Vladimira hat noch ein Tabu gebrochen: sie will der Komplizenschaft zwischen Mafiosi und Politikern ein Ende setzen und ist deshalb selbst in die Lokalpolitik eingestiegen. Sie kämpft in den Reihen der demokratischen Linken für eine radikale Wende, um der Krake 'Ndrangheta die Tentakel abzuhacken, bevor sie alles verschlingt und auch mutige Frauen wie sie selbst am Ende zum Schweigen bringt. Sie verabschiedet sich kurz von ihren Mitarbeitern, dann kann ihr Vorarbeiter Luciano, bevor er durchs Tor geht, nicht mehr an sich halten: zwar findet er seine Chefin prima, aber Vertrauen in die Politik hat er nicht:
"Die Mafia und die 'Ndrangheta werden erst verschwinden, wenn es keine Politiker mehr gibt. Und das ist die reine Wahrheit. Aber die Politiker werden nie aussterben."
1992 ermordete die Cosa Nostra den prominenten Mafiajäger Giovanni Falcone, seine Frau und drei Leibwächter. Wenig später auch seinen Kollegen Paolo Borsellino. Die Folge war ein Aufschrei der Empörung in der italienischen Öffentlichkeit. Die Mafia war zu weit gegangen. Auf Sizilien formierte sich eine starke Anti-Mafia-Bewegung, die auch die Politik zu scharfen Gegenreaktionen zwang - die Kronzeugenregelung zeigte Wirkung, ein Zeugenschutzprogramm wurde aufgelegt. Es folgte eine Verhaftungswelle - und die Cosa Nostra stürzte in eine tiefe Krise.
Davon profitierte die kalabresische 'Ndrangheta, die das Drogenkartell der Cosa Nostra übernahm und den gesamten Kokainimport von Lateinamerika nach Europa unter ihre Kontrolle brachte. Lange hielt die omertá, noch gab es keinen einzigen Kronzeugen aus dem Kreis der 'Ndrangheta. Bis der bayerischen Polizei im Mai 1998 Giorgio Basile im Bahnhof von Kempten ins Netz ging - und der packte aus: Nannte Namen und Verstecke, Hintermänner und Zeugen. Lieferte einen ganzen Familienclan der Justiz aus und mischte halb Kalabrien auf. Giorgio Basile steht heute auf der Todesliste. Der ehemalige Top-Mann der 'Ndrangheta, der Auftragskiller und Drogenboss, brach das Gesetz des Schweigens. Heute lebt er mit Frau und Tochter und neuer Identität irgendwo in Italien.
Wer nach dem Chef fragt, steht unversehens einer zierlichen Person gegenüber, die wie ein Teenager wirkt, blonder Pagenkopf, schmale Figur, jugendliche Kleidung. Das vermeintliche Mädchen ist eine gestandene Frau, sie heißt Vladimira Pugliese Varì, ist gertenschlank, kaum einen Meter sechzig groß, ein Energiebündel. und die Chefin einer kleinen Firma, die seit vielen Jahren der 'Ndrangheta trotzt.
"Seit 1998 sind 12 Anschläge auf uns verübt worden. Alles Mögliche haben sie Brand gesteckt, Lager, Möbel, Autos, Lieferwagen, sogar am helllichten Tag. Dann kamen anonyme Anrufe, vor der Wohnungstür und am Fabriktor standen immer wieder mit Benzin gefüllte Flaschen. Seit sieben Jahren Drohungen ohne Ende."
Vladimiras Firma mit einem halben Dutzend Angestellten ist ein Familienbetrieb. Seit drei Generationen werden hier Körbe und Möbel aus Weidenruten geflochten. Dank der wesentlich billigeren Importware aus Fernost ist zwar die Eigenproduktion zurückgegangen, dafür hat Vladimira Vari den Handel mit Gartenmöbeln und Korbstühlen aber erfolgreich ausweiten können. Dumm nur, dass andere mitverdienen wollen. Die Anschläge nehmen kein Ende und lassen nur einen Schluss zu:
"Das sind eindeutig Erpressungsversuche. Die anonymen Anrufer fordern uns immer wieder auf, Vorsorge zu tragen. Im Mafiajargon heißt das, wir sollten Kontakt aufnehmen mit diesem oder jenem, der uns dann mit den Hintermännern der Attentate zusammenbringen sollte, um uns mit ihnen zu einigen. Und eine monatliche Zahlung von Schutzgeld zu vereinbaren. Weil wir uns aber nie auf dieses Spiel eingelassen haben, gab es immer wieder neue Anschläge, im Schnitt zwei pro Jahr. Der letzte am 11. Juni letzten Jahres."
Die zierliche Gestalt im pastellfarbenen Rollkragenpulli und in eng anliegender Hose reibt sich die Hände vor dem kleinen Elektroöfchen. In Kalabrien sind Heizungen auch heute nicht üblich. Doch es ist nicht nur die kalte Jahrszeit, die der jungen Frau zu schaffen macht. Sieben Jahre lang haben Valdimira und ihre Familie immer wieder Anzeige erstattet und gehofft, die Täter würden gefasst und vor Gericht gestellt. Doch die Polizei tappt im Dunkeln, und wenn sie ihre Streifenfahrten rund ums Firmengelände wieder einstellt, kommt das nächste Attentat. Der Sachschaden beträgt mittlerweile mehr als eine Million Euro. Der moralische Schaden lässt sich nicht beziffern, sondern nur beschreiben:
"Wir leben in ständiger Angst, schrecken auf bei jedem verdächtigen Geräusch, am Tag wie in der Nacht, wir fürchten uns vor anonymen Anrufen. Und da fragen wir uns dann: ist das noch Leben oder grade mal Überleben. Und dann sagen wir uns: nein, es ist nicht richtig, nachzugeben oder gar aufzugeben. Denn wir sind ja die anständigen Bürger. Warum sollen wir uns der Kriminalität beugen? Und schließlich haben wir ein Kind. Können wir dem etwa ein Bild vermitteln von seinen Eltern und von einer ganzen Gesellschaft hier in Kalabrien, die sich in die Knie zwingen lassen?"
Ihr Mut zur Anklage ist gleichzeitig auch ihre Lebensversicherung, meint Vladimira, während sie hinunter geht ins Lager, um das Tor zu schließen, denn die Arbeiter werden zur Mittagspause gleich nach Hause gehen. Die Mafiosi verunsichert das grelle Licht der Öffentlichkeit. Sie ist offensichtlich das beste Mittel, um sich vor ihnen zu schützen. Allgemeines Schweigen ist dagegen ein guter Nährboden für die 'Ndrangheta.
"Die meisten Kalabresen halten den Mund, weil sie Angst haben. Nehmen wir zum Beispiel die Pentiti, geständige Mafiosi, wegen der Blutsbande eine ausgesprochene Seltenheit bei der 'Ndrangheta. Und die wenigen, die der Justiz all ihre Geheimnisse verraten haben, wurden dann einfach sich selbst überlassen. Ohne persönlichen Schutz und finanzielle Unterstützung. Ist doch klar, dass man unter solchen Umständen besser nichts mehr sagt."
Vladimira hat noch ein Tabu gebrochen: sie will der Komplizenschaft zwischen Mafiosi und Politikern ein Ende setzen und ist deshalb selbst in die Lokalpolitik eingestiegen. Sie kämpft in den Reihen der demokratischen Linken für eine radikale Wende, um der Krake 'Ndrangheta die Tentakel abzuhacken, bevor sie alles verschlingt und auch mutige Frauen wie sie selbst am Ende zum Schweigen bringt. Sie verabschiedet sich kurz von ihren Mitarbeitern, dann kann ihr Vorarbeiter Luciano, bevor er durchs Tor geht, nicht mehr an sich halten: zwar findet er seine Chefin prima, aber Vertrauen in die Politik hat er nicht:
"Die Mafia und die 'Ndrangheta werden erst verschwinden, wenn es keine Politiker mehr gibt. Und das ist die reine Wahrheit. Aber die Politiker werden nie aussterben."
1992 ermordete die Cosa Nostra den prominenten Mafiajäger Giovanni Falcone, seine Frau und drei Leibwächter. Wenig später auch seinen Kollegen Paolo Borsellino. Die Folge war ein Aufschrei der Empörung in der italienischen Öffentlichkeit. Die Mafia war zu weit gegangen. Auf Sizilien formierte sich eine starke Anti-Mafia-Bewegung, die auch die Politik zu scharfen Gegenreaktionen zwang - die Kronzeugenregelung zeigte Wirkung, ein Zeugenschutzprogramm wurde aufgelegt. Es folgte eine Verhaftungswelle - und die Cosa Nostra stürzte in eine tiefe Krise.
Davon profitierte die kalabresische 'Ndrangheta, die das Drogenkartell der Cosa Nostra übernahm und den gesamten Kokainimport von Lateinamerika nach Europa unter ihre Kontrolle brachte. Lange hielt die omertá, noch gab es keinen einzigen Kronzeugen aus dem Kreis der 'Ndrangheta. Bis der bayerischen Polizei im Mai 1998 Giorgio Basile im Bahnhof von Kempten ins Netz ging - und der packte aus: Nannte Namen und Verstecke, Hintermänner und Zeugen. Lieferte einen ganzen Familienclan der Justiz aus und mischte halb Kalabrien auf. Giorgio Basile steht heute auf der Todesliste. Der ehemalige Top-Mann der 'Ndrangheta, der Auftragskiller und Drogenboss, brach das Gesetz des Schweigens. Heute lebt er mit Frau und Tochter und neuer Identität irgendwo in Italien.
I Cunfirenti - Die Verräter
Du bist kein Mann. Du bist ein Nichts. Verkauftes Fleisch.
Die Herzen vieler Leute hast Du verraten.
Du bist ein Spitzel und ein Verräter
Wer Fehler macht, bezahlt mit dem Leben
Du bist es nicht wert zu leben
Du hast das Seidentuch getragen
Aber Du hattest keinen Respekt
Jetzt brauchen wir Dein Blut, um es zu waschen.
Die Festnahme Basiles war ein schwerer Schlag für die 'Ndrangheta - und seine Aussagen ein Schock für die Behörden: Plötzlich bekamen sie Einblicke in die internationalen Verflechtungen der kalabresischen Mafia, die zum global player des organisierten Verbrechens aufgestiegen war: Begünstigt durch die rasante Expansion im weltweiten Drogenhandel.
Gefördert durch
öffentliche Gelder, die eigentlich einer zurückgebliebenen Region zugute kommen
sollten - sei es aus dem italienischen Staatshaushalt oder aus EU-Mitteln:
allein aus dem Topf der Agenda 2000 flossen in den letzten sechs Jahren 5
Milliarden Euro nach Kalabrien, und die Subventionen sprudeln weiter. Ob im
Baugeschäft, in der Müllabfuhr, im Tourismus - überall hat die ehrenwerte Gesellschaft
ihre Finger im Spiel. Dirigiert wird das globale Schattenreich über
Satellitenschüsseln, die überall in den verwinkelten Bergdörfern an schäbigen
Hausfassaden zu sehen sind.
Diese Fassaden der Armut sind bloße Tarnung, sagt ein mutiger Mann im Städtchen Locri - ausgerechnet dort, in der Hochburg der 'Ndrangheta, sagt er der Mafia den Kampf an.
Diese Fassaden der Armut sind bloße Tarnung, sagt ein mutiger Mann im Städtchen Locri - ausgerechnet dort, in der Hochburg der 'Ndrangheta, sagt er der Mafia den Kampf an.
Der Reichtum aus
dunklen Quellen
Ein Anti-Mafia-Aktivist über das globale Wirtschaftsimperium der 'Ndrangheta
Locri 9 Uhr morgens,
die Bar an der Piazza Centrale. Enzo Ierace geht an den Tresen , höchste Zeit
für den Morgenespresso.
Nicht weit weg von hier wurde am 15. Oktober 2005 Franco Fortugno erschossen. Viele Bürger protestierten spontan, auch Enzo Ierace. Er kämpft seit seiner Jugendzeit, erst als Kommunist und später bei den Anarchisten gegen Korruption, Gewalt und die organisierte Kriminalität. Der kleine Mann mit dem dunklen Schnauzbart gilt als Außenseiter: Wer es mit der 'Ndrangheta aufnimmt, ist wie ein Ritter von der traurigen Gestalt, der gegen Windmühlen kämpft. Aber Enzo konnte sich bis heute nicht damit abfinden, dass ausgerechnet in seiner Heimat das Verbrechen so tiefe Wurzeln geschlagen hat. Und er fragt sich immer wieder: warum gerade in Kalabrien?
"Würden wir Kalabresen uns mit derselben Hingabe nicht kriminellen, sondern legalen Geschäften widmen, dann wären wir heute die Kings in der Welt. Ich weiß auch nicht, was der Grund für den Hang zur organisierten Kriminalität ist. Dabei sind wir ausgesprochen gastfreundlich. Die Fremden, die zu uns kommen, werden von uns echt verwöhnt. Darauf kannst du dich verlassen. Aber die Kriminalität? - Vielleicht ist das unser griechisches Erbe. Das Wort 'Ndrangheta kommt ja auch möglicherweise aus dem Griechischen und könnte so etwas wie "Mann mit Tugenden" bedeuten. Das ist unser antikes Erbe, das gilt auch für die Familienfehden. Auch heute noch kommt es vor, das sich Clans bekriegen, wegen banaler Dinge."
Was sie aber nicht davon abhält, gemeinsam weltweit Geschäfte zu betreiben. Längst ist Kalabrien - beinahe - überall. Mit Korruption hat sie es erreicht, auch in anderen Ländern Fuß zu fassen. Die 'Ndrangheta, weiß Enzo Ierace, hat alle Mittel, die sie benötigt.
"Die 'Ndrangheta hat haufenweise Geld, das immer weiter investiert wird. Auch in Deutschland! Ihr Deutschen seid wahrlich nicht besser dran. Da herrscht eine unglaubliche Situation. Ganze Stadtviertel haben die Bosse in euren Städten aufgekauft. Und zusammen mit anderen Organisationen, wie der russischen und der kolumbianischen Mafia, kontrollieren sie den Rauschgifthandel. In Deutschland, in Holland, ja in ganz Europa hat es eine Invasion der 'Ndrangheta gegeben."
Mollica, Di Giovine, Pelle, Romeo, Ietto, Longo, Piramalli - das sind nur einige wohlklingende Namen der etwa zwei Dutzend in Deutschland operierenden 'Ndrine, der einzelnen kalabresischen Mafiafamilien, von denen es insgesamt 155 gibt mit etwa 6000 bis 9000 Mitgliedern. Alle Angehörigen eines Clans sind miteinander verwandt, diese Blutsbande sind das Geheimnis des kriminellen Erfolges. Daran hat sich nichts geändert, ansonsten allerdings jede Menge: Die 'Ndrangheta wird deshalb immer gefährlicher, weil sie nach und nach in legale Wirtschaftsbereiche eindringt.
"In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Welt mit Riesenschritten verändert, die 'Ndrangheta mit eingeschlossen. Auch sie schickt jetzt ihren Nachwuchs auf die Uni, lässt die Söhne auf teuersten Schulen im In- und Ausland zu Spezialisten ausbilden. Und deswegen weise ich immer wieder daraufhin, dass die 'Ndrangheta nicht nur eine Gefahr für Kalabrien darstellt, sondern für ganz Europa. Diese Mafia ist heute ein Staat im Staat. Europa muss vereint mit entsprechenden Gesetzen und Polizeieinheiten gegen dieses organisierte Verbrechen vorgehen. Diesen Kampf auf Kalabrien zu beschränken, hat überhaupt keinen Sinn."
Gianni hat seinen Espresso macchiato getrunken und macht sich auf den Weg ins Büro. In seiner Freizeit organisiert er Sozialkooperativen, bestehend aus jungen Arbeitslosen, für die er Aufträge und Finanzmittel von der Gemeinde loszueisen versucht. Eine der wenigen Initiativen, mit denen junge Leute die Chance auf eine Zukunft bekommen sollen, die sie nicht in die Fänge der 'Ndrangheta treibt. Das wird solange gut gehen, bis auch die 'Ndrangheta auf die Idee kommt, ähnliche Kooperativen auf die Beine zu stellen. Am Zeitungsstand holt sich Gianni das Lokalblatt. Dass am Vortag ein Auto in Flammen aufging, ist den Zeitungsmachern nicht mal eine kleine Meldung wert.
"Das ist das Hauptproblem, die Menschen hier haben sich an so etwas gewöhnt, am Ende wird sogar ein Mord als etwas ganz Normales empfunden. Wie der am Vizepräsidenten der Region, der doch ein klares Signal der Mafia an die Politiker war. Die neue linke Regionalregierung von Kalabrien will Veränderungen und das passt der 'Ndrangheta ganz und gar nicht in den Kram."
Als Giorgio Basile Ende 1998 von seinem Richter gefragt wurde, warum er sich entschlossen hatte, zum Pentito, zum Kronzeugen zu werden, gab er zur Antwort:
Nicht weit weg von hier wurde am 15. Oktober 2005 Franco Fortugno erschossen. Viele Bürger protestierten spontan, auch Enzo Ierace. Er kämpft seit seiner Jugendzeit, erst als Kommunist und später bei den Anarchisten gegen Korruption, Gewalt und die organisierte Kriminalität. Der kleine Mann mit dem dunklen Schnauzbart gilt als Außenseiter: Wer es mit der 'Ndrangheta aufnimmt, ist wie ein Ritter von der traurigen Gestalt, der gegen Windmühlen kämpft. Aber Enzo konnte sich bis heute nicht damit abfinden, dass ausgerechnet in seiner Heimat das Verbrechen so tiefe Wurzeln geschlagen hat. Und er fragt sich immer wieder: warum gerade in Kalabrien?
"Würden wir Kalabresen uns mit derselben Hingabe nicht kriminellen, sondern legalen Geschäften widmen, dann wären wir heute die Kings in der Welt. Ich weiß auch nicht, was der Grund für den Hang zur organisierten Kriminalität ist. Dabei sind wir ausgesprochen gastfreundlich. Die Fremden, die zu uns kommen, werden von uns echt verwöhnt. Darauf kannst du dich verlassen. Aber die Kriminalität? - Vielleicht ist das unser griechisches Erbe. Das Wort 'Ndrangheta kommt ja auch möglicherweise aus dem Griechischen und könnte so etwas wie "Mann mit Tugenden" bedeuten. Das ist unser antikes Erbe, das gilt auch für die Familienfehden. Auch heute noch kommt es vor, das sich Clans bekriegen, wegen banaler Dinge."
Was sie aber nicht davon abhält, gemeinsam weltweit Geschäfte zu betreiben. Längst ist Kalabrien - beinahe - überall. Mit Korruption hat sie es erreicht, auch in anderen Ländern Fuß zu fassen. Die 'Ndrangheta, weiß Enzo Ierace, hat alle Mittel, die sie benötigt.
"Die 'Ndrangheta hat haufenweise Geld, das immer weiter investiert wird. Auch in Deutschland! Ihr Deutschen seid wahrlich nicht besser dran. Da herrscht eine unglaubliche Situation. Ganze Stadtviertel haben die Bosse in euren Städten aufgekauft. Und zusammen mit anderen Organisationen, wie der russischen und der kolumbianischen Mafia, kontrollieren sie den Rauschgifthandel. In Deutschland, in Holland, ja in ganz Europa hat es eine Invasion der 'Ndrangheta gegeben."
Mollica, Di Giovine, Pelle, Romeo, Ietto, Longo, Piramalli - das sind nur einige wohlklingende Namen der etwa zwei Dutzend in Deutschland operierenden 'Ndrine, der einzelnen kalabresischen Mafiafamilien, von denen es insgesamt 155 gibt mit etwa 6000 bis 9000 Mitgliedern. Alle Angehörigen eines Clans sind miteinander verwandt, diese Blutsbande sind das Geheimnis des kriminellen Erfolges. Daran hat sich nichts geändert, ansonsten allerdings jede Menge: Die 'Ndrangheta wird deshalb immer gefährlicher, weil sie nach und nach in legale Wirtschaftsbereiche eindringt.
"In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Welt mit Riesenschritten verändert, die 'Ndrangheta mit eingeschlossen. Auch sie schickt jetzt ihren Nachwuchs auf die Uni, lässt die Söhne auf teuersten Schulen im In- und Ausland zu Spezialisten ausbilden. Und deswegen weise ich immer wieder daraufhin, dass die 'Ndrangheta nicht nur eine Gefahr für Kalabrien darstellt, sondern für ganz Europa. Diese Mafia ist heute ein Staat im Staat. Europa muss vereint mit entsprechenden Gesetzen und Polizeieinheiten gegen dieses organisierte Verbrechen vorgehen. Diesen Kampf auf Kalabrien zu beschränken, hat überhaupt keinen Sinn."
Gianni hat seinen Espresso macchiato getrunken und macht sich auf den Weg ins Büro. In seiner Freizeit organisiert er Sozialkooperativen, bestehend aus jungen Arbeitslosen, für die er Aufträge und Finanzmittel von der Gemeinde loszueisen versucht. Eine der wenigen Initiativen, mit denen junge Leute die Chance auf eine Zukunft bekommen sollen, die sie nicht in die Fänge der 'Ndrangheta treibt. Das wird solange gut gehen, bis auch die 'Ndrangheta auf die Idee kommt, ähnliche Kooperativen auf die Beine zu stellen. Am Zeitungsstand holt sich Gianni das Lokalblatt. Dass am Vortag ein Auto in Flammen aufging, ist den Zeitungsmachern nicht mal eine kleine Meldung wert.
"Das ist das Hauptproblem, die Menschen hier haben sich an so etwas gewöhnt, am Ende wird sogar ein Mord als etwas ganz Normales empfunden. Wie der am Vizepräsidenten der Region, der doch ein klares Signal der Mafia an die Politiker war. Die neue linke Regionalregierung von Kalabrien will Veränderungen und das passt der 'Ndrangheta ganz und gar nicht in den Kram."
Als Giorgio Basile Ende 1998 von seinem Richter gefragt wurde, warum er sich entschlossen hatte, zum Pentito, zum Kronzeugen zu werden, gab er zur Antwort:
"Die Mafia ist eine Lüge. In Wirklichkeit gibt es gar keine
Ehrenmänner".
Basile sprach der 'Ndrangheta jegliche Legitimation ab. Und auch Mafiaexperten sehen die Organisation in einer schweren Identitätskrise. Das angebliche Wertesystem aus Ehre und Omertá sei als Popanz zum Nutzen der Bosse entlarvt worden, ihre Glaubwürdigkeit untergraben. Der unvorstellbare Reichtum habe blutige Bandenkriege provoziert, die den inneren Zusammenhalt der Organisation geschwächt hätten. Schließlich sei die internationale Konkurrenz noch brutaler, noch skrupelloser und so stark geworden, dass es der Mafia immer schwerer falle, sich zu behaupten. Der Überläufer Giorgio Basile sei ein Symbol - er stehe für einen schleichenden Erosionsprozess. Tatsächlich folgten mittlerweile 150 'Ndranghentisti seinem Beispiel und stellten sich als Kronzeugen zur Verfügung.
Basile sprach der 'Ndrangheta jegliche Legitimation ab. Und auch Mafiaexperten sehen die Organisation in einer schweren Identitätskrise. Das angebliche Wertesystem aus Ehre und Omertá sei als Popanz zum Nutzen der Bosse entlarvt worden, ihre Glaubwürdigkeit untergraben. Der unvorstellbare Reichtum habe blutige Bandenkriege provoziert, die den inneren Zusammenhalt der Organisation geschwächt hätten. Schließlich sei die internationale Konkurrenz noch brutaler, noch skrupelloser und so stark geworden, dass es der Mafia immer schwerer falle, sich zu behaupten. Der Überläufer Giorgio Basile sei ein Symbol - er stehe für einen schleichenden Erosionsprozess. Tatsächlich folgten mittlerweile 150 'Ndranghentisti seinem Beispiel und stellten sich als Kronzeugen zur Verfügung.
Addiu 'Ndrangheta: Lebewohl Mafia
Meine Nächte vergingen ohne Schlaf
Um Dinge zu bedenken, die nur die Sterne kennen
Endlose Berge um mich herum
Und so erwachte der Morgen
Lebewohl 'Ndrangheta, ich werde dorthin gehen
Wo man Tag und Nacht spazieren gehen kann
Die Gesetze habe ich alle im Kopf
Ich bleibe verschlossen und mein Herz ist stark
Die Kälte kriecht mir bis in die Knochen
Und ich denke an Zuhause und die Kinder
Eines Tages werde ich ein Loch reißen
Um die alten Dinge zu begraben
und etwas Neues anzufangen
Doch trotz aller Krisensymptome ist die Mafia mächtiger denn je. Das Netz des organisierten Verbrechens wird immer raffinierter geknüpft. Die Familien der 'Ndrangheta halten entgegen dem vorsichtigen Optimismus der Ermittler nach wie vor zusammen wie Pech und Schwefel. Ihre Bande sind stärker als der Staat und das Rechtsempfinden. Die Verbindungen zur Politik sind diskret, aber unverändert eng. Das Schmiermittel der italienischen Politik - der Stimmenkauf - funktioniert immer noch und sichert der Mafia Macht und Einfluss. Erneut hat die Partei Silvio Berlusconis bei den anstehenden Neuwahlen gute Chancen, sich die meisten Direktmandate in Süditalien zu sichern. Und wer den Süden gewinnt, gewinnt Rom, heißt es. Die Politik Berlusconis hat der Mafia keinesfalls geschadet, sagen viele. Jedenfalls hat sein erbitterter Kleinkrieg gegen unabhängige Richter und kritische Staatsanwälte von den wahren Problemen der Justiz abgelenkt und das Vertrauen in den italienischen Rechtsstaat keinesfalls gestärkt.
So setzt Mafia ihr zerstörerisches Werk fort und versucht immer offener, politischen Einfluss zu gewinnen. 32 Kommunalregierungen wurden in den letzten vier Jahren aufgelöst, weil sie von Mitgliedern der ehrenwerten Gesellschaft unterwandert waren. Zuletzt direkt vor den Toren Roms. Im kalabresischen Sinopoli war es genau anders herum. Da war die 'Ndrangheta stärker und setzte sich gegen den Bürgermeister durch.
Einer gegen alle
Ein ehemaliger Bürgermeister über seinen Kampf gegen die ehrenwerte Gesellschaft
Domenico Luppino ist
ein Padrone, wie aus einem Film. Knapp 1,80m groß und von beachtlichem Gewicht,
ein stattlicher Kopf auf den breiten Schultern. Über seinen gewaltigen Leib
spannt sich eine elegante Weste unter dem dunkelblauen Anzug mit silbernen
Nadelstreifen. Mit kräftigen Armen rudert er durch die große Halle, die das
Herzstück seines kleinen Reiches ist.
Domenico Luppino ist Herr über 150 ha Land und etwa 15000 Olivenbäume. Vor ihm haben sie seinem Vater gehörten, davor dem Großvater und dem Urgroßvater. Ein Familienbetrieb. Bis vor kurzem war der 41 jährige Ölfabrikant auch Bürgermeister seines Heimatortes Sinopoli, drei Jahre lang, dann stellte ihn die 'Ndrangheta kalt. Domenico Luppino zündet sich eine Zigarette an, slimsize, der dünne weiße Stängel wirkt in seiner Pranke irgendwie fehl am Platze.
"Ich habe die Wahl damals mit einem erheblichen Vorsprung vor meinem Gegenkandidaten gewonnen und ganz normal meine Amtsgeschäfte aufgenommen. Sinopoli ist eine kleine Gemeinde mit nur 2500 Einwohnern. Offiziell leben die meisten vom Olivenanbau. Daneben gibt's aber jede Menge kriminelle Aktivitäten. Vieler meiner Mitbürger geben als Beruf Erntehelfer an, fahren aber teure Autos Marke Mercedes oder BMW und haben luxuriös eingerichtete Häuser."
Schnell wurde ihm klar, dass die Unterlagen und Projekte der Gemeinde hinten und vorne nicht stimmten. Eine Kläranlage, die auf einen Berg gebaut war und zu der bis heute die Zuleitungen fehlen. Eine weitere, die nur auf dem Papier existierte - kurz: Luppino entdeckte eine unhaltbare Misswirtschaft. Obwohl er seit seiner Geburt in Sinopoli lebt, hätte er sich das Ausmaß der Verschwendung von öffentlichen Geldern so niemals träumen lassen. Als er den Dingen auf den Grund gehen wollte, bekam er erste Warnhinweise.
"Auf einen meiner Angestellten wurde wenige Monate nach meiner Amtsübernahme geschossen, von außen durchs Fenster eines Bauernhauses, außerhalb unseres Ortes. Es war reines Glück, dass er nicht getötet wurde. Daraufhin habe ich eine Gemeinderatssitzung einberufen mit dem klaren Ziel, die 'Ndrangheta öffentlich beim Namen zu nennen. In Sinopoli und vielen anderen vergleichbaren Orten in Kalabrien werden die Worte "'Ndrangheta" oder "Mafia" normalerweise vermieden. Ich habe mich hingestellt und gesagt: ‚Es ist meine Pflicht und Ehre, den Namen der 'Ndrangheta auszusprechen.' Einer musste das Tabu schließlich mal brechen."
Mit erschreckender Ruhe erzählt Domencio Luppino von der Welle der Attentate, die seine mutige Haltung auslöste. Es wirkt in seinem Büro wie ein großer verwundeter Bär in einer Art Heiligtum. Neben ihm an der Wand das Foto seines erst jüngst verstorbenen Vaters, an der Rückwand Rosenkränze, Heiligenbilder, eine Figur des Wunderheilers Padre Pio, rechter Hand ein eingerahmtes Universitätsdiplom. Nur der wachsende Haufen der dünnen Zigarettenkippen im Aschenbecher verrät Luppinos innere Anspannung.
"Sie haben mir die Olivenbäume angezündet und umgesägt. Und erst vor kurzem meinen deutschen Schäferhund umgebracht. Er wurde vergiftet. Da wurde die örtliche Presse aufmerksam und brach ein weiteres Tabu: die lokale 'Ndrangheta - Familie wurde beim Namen genannt."
„Und wie lautet der?“
"Das kann ich hier nicht sagen und werde es auch nie wieder tun, es ist mir teuer zu stehen gekommen."
Statt sich mit ihrem Bürgermeister solidarisch zu erklären, waren die Bürger, die ihn gewählt hatten, nun plötzlich gegen ihn, offenkundig aus Empörung, in Wirklichkeit aber aus Angst. Sie beschuldigten Luppino, Schande über Sinopoli gebracht zu haben und wandten sich ab. Die Gemeinderäte traten geschlossen aus Gesundheitsgründen zurück, die Volksvertretung wurde aufgelöst, Luppino hatte kein Amt mehr: die 'Ndrangheta hatten ihren Willen durchgesetzt. Er hat seinen aussichtlosen Kampf gegen die Mafia aber nicht bereut, sagt er. Zumindest einen moralischen Sieg hat er errungen. Aber er ist trotzdem tief enttäuscht und erschüttert. Hinter seiner augenscheinlichen Dickfelligkeit leidet Domenico Luppino wie ein Tier, denn auch sein eigenes familiäres Erbe lastet schwer auf seiner Seele. Die Unbeugsamkeit und der Widerstandsgeist haben Tradition in seiner Familie.
"Seit meiner Geburt 1964 erlebe ich nur Gewalt. Mal haben sie meinen Onkel in die Beine geschossen, mal auf meinen Vater gefeuert. Dann wieder haben sie eine Bombe vor unser Haus gelegt. Oder einen Verwandten entführt. Sogar mich wollten sie entführen, nach 40 Lebensjahren musste ich einfach mal das Schweigen durchbrechen. Die bittere Erkenntnis ist aber, dass solch ein Mut bei uns hier überhaupt nicht belohnt wird."
Domenico Luppino drückt seine letzte dünne Zigarette aus und geht zu seinem Wagen. Er will zu seiner Familie fahren, die im 50 Kilometer entfernten Reggio di Calabria lebt, weil es dort sicherer ist. Als er durch das schwere eiserne Firmentor fährt, setzt sich ein schwarzer Wagen mit getönten Scheiben in Bewegung - eine Eskorte. Der Polizeipräfekt hat Luppino Personenschutz verordnet - sicherheitshalber.
Domenico Luppino ist Herr über 150 ha Land und etwa 15000 Olivenbäume. Vor ihm haben sie seinem Vater gehörten, davor dem Großvater und dem Urgroßvater. Ein Familienbetrieb. Bis vor kurzem war der 41 jährige Ölfabrikant auch Bürgermeister seines Heimatortes Sinopoli, drei Jahre lang, dann stellte ihn die 'Ndrangheta kalt. Domenico Luppino zündet sich eine Zigarette an, slimsize, der dünne weiße Stängel wirkt in seiner Pranke irgendwie fehl am Platze.
"Ich habe die Wahl damals mit einem erheblichen Vorsprung vor meinem Gegenkandidaten gewonnen und ganz normal meine Amtsgeschäfte aufgenommen. Sinopoli ist eine kleine Gemeinde mit nur 2500 Einwohnern. Offiziell leben die meisten vom Olivenanbau. Daneben gibt's aber jede Menge kriminelle Aktivitäten. Vieler meiner Mitbürger geben als Beruf Erntehelfer an, fahren aber teure Autos Marke Mercedes oder BMW und haben luxuriös eingerichtete Häuser."
Schnell wurde ihm klar, dass die Unterlagen und Projekte der Gemeinde hinten und vorne nicht stimmten. Eine Kläranlage, die auf einen Berg gebaut war und zu der bis heute die Zuleitungen fehlen. Eine weitere, die nur auf dem Papier existierte - kurz: Luppino entdeckte eine unhaltbare Misswirtschaft. Obwohl er seit seiner Geburt in Sinopoli lebt, hätte er sich das Ausmaß der Verschwendung von öffentlichen Geldern so niemals träumen lassen. Als er den Dingen auf den Grund gehen wollte, bekam er erste Warnhinweise.
"Auf einen meiner Angestellten wurde wenige Monate nach meiner Amtsübernahme geschossen, von außen durchs Fenster eines Bauernhauses, außerhalb unseres Ortes. Es war reines Glück, dass er nicht getötet wurde. Daraufhin habe ich eine Gemeinderatssitzung einberufen mit dem klaren Ziel, die 'Ndrangheta öffentlich beim Namen zu nennen. In Sinopoli und vielen anderen vergleichbaren Orten in Kalabrien werden die Worte "'Ndrangheta" oder "Mafia" normalerweise vermieden. Ich habe mich hingestellt und gesagt: ‚Es ist meine Pflicht und Ehre, den Namen der 'Ndrangheta auszusprechen.' Einer musste das Tabu schließlich mal brechen."
Mit erschreckender Ruhe erzählt Domencio Luppino von der Welle der Attentate, die seine mutige Haltung auslöste. Es wirkt in seinem Büro wie ein großer verwundeter Bär in einer Art Heiligtum. Neben ihm an der Wand das Foto seines erst jüngst verstorbenen Vaters, an der Rückwand Rosenkränze, Heiligenbilder, eine Figur des Wunderheilers Padre Pio, rechter Hand ein eingerahmtes Universitätsdiplom. Nur der wachsende Haufen der dünnen Zigarettenkippen im Aschenbecher verrät Luppinos innere Anspannung.
"Sie haben mir die Olivenbäume angezündet und umgesägt. Und erst vor kurzem meinen deutschen Schäferhund umgebracht. Er wurde vergiftet. Da wurde die örtliche Presse aufmerksam und brach ein weiteres Tabu: die lokale 'Ndrangheta - Familie wurde beim Namen genannt."
„Und wie lautet der?“
"Das kann ich hier nicht sagen und werde es auch nie wieder tun, es ist mir teuer zu stehen gekommen."
Statt sich mit ihrem Bürgermeister solidarisch zu erklären, waren die Bürger, die ihn gewählt hatten, nun plötzlich gegen ihn, offenkundig aus Empörung, in Wirklichkeit aber aus Angst. Sie beschuldigten Luppino, Schande über Sinopoli gebracht zu haben und wandten sich ab. Die Gemeinderäte traten geschlossen aus Gesundheitsgründen zurück, die Volksvertretung wurde aufgelöst, Luppino hatte kein Amt mehr: die 'Ndrangheta hatten ihren Willen durchgesetzt. Er hat seinen aussichtlosen Kampf gegen die Mafia aber nicht bereut, sagt er. Zumindest einen moralischen Sieg hat er errungen. Aber er ist trotzdem tief enttäuscht und erschüttert. Hinter seiner augenscheinlichen Dickfelligkeit leidet Domenico Luppino wie ein Tier, denn auch sein eigenes familiäres Erbe lastet schwer auf seiner Seele. Die Unbeugsamkeit und der Widerstandsgeist haben Tradition in seiner Familie.
"Seit meiner Geburt 1964 erlebe ich nur Gewalt. Mal haben sie meinen Onkel in die Beine geschossen, mal auf meinen Vater gefeuert. Dann wieder haben sie eine Bombe vor unser Haus gelegt. Oder einen Verwandten entführt. Sogar mich wollten sie entführen, nach 40 Lebensjahren musste ich einfach mal das Schweigen durchbrechen. Die bittere Erkenntnis ist aber, dass solch ein Mut bei uns hier überhaupt nicht belohnt wird."
Domenico Luppino drückt seine letzte dünne Zigarette aus und geht zu seinem Wagen. Er will zu seiner Familie fahren, die im 50 Kilometer entfernten Reggio di Calabria lebt, weil es dort sicherer ist. Als er durch das schwere eiserne Firmentor fährt, setzt sich ein schwarzer Wagen mit getönten Scheiben in Bewegung - eine Eskorte. Der Polizeipräfekt hat Luppino Personenschutz verordnet - sicherheitshalber.
...rigoros, brutal und mächtig.
„Ihr redet darüber, wir leben damit”:
Warten auf die Särge der in Duisburg ermordeten Männer
Sie setzt deutlich mehr Geld um als
McDonald's und die Deutsche Bank zusammen und ihr Einflussbereich wächst: Die
italienische Mafia 'Ndrangheta breitet sich aus - und bringt auch Regierungen
zu Fall.
Weltweit hat sich die italienische
Mafia 'Ndrangheta bereits ausgebreitet.
Außerhalb Italiens sind die Strukturen
vor allem in Kolumbien und Südamerika
weit verzweigt. Den höchsten Umsatz
erzielen die Clans …
|
Schon 1861 stießen Beamte des neuen italienischen Nationalstaates in
Kalabrien auf die Existenz dieser Geheimorganisation. Damals schon erschien die
’Ndrangheta bestens organisiert. Doch alle Versuche des Staates, ihre Macht zu
zerstören, schlugen fehl. Die Mitglieder der ’Ndrangheta sind durchweg
blutsverwandt. Traditionell waren vor allem Entführungen und
Schutzgelderpressungen die hauptsächlichen Einnahmequellen.
Auch unter der faschistischen Herrschaft Mussolinis gelang es nicht,
diesen kriminellen Organisationen das Handwerk zu legen, auch wenn die
italienische Mafia damals insgesamt unter großen Druck geriet. Nach dem Zweiten
Weltkrieg passten sich die Organisationen schnell den neuen Zeiten an. Von
einer Regionalregierung der ’Ndrangheta, die sozusagen die Organisation nach
dem „Führerprinzip“ regiert, gehen die Justizstellen jedoch nicht aus. Vielmehr
ist es eine dezentrale Führung nach „föderalem“ Prinzip; eine viel stärkere
Rolle als bei der sizilianischen Mafia und der Camorra spielen dabei, wie
gesagt, verwandtschaftliche Bindungen zwischen den Mitgliedern der einzelnen
lokalen Gruppen. Über Jahrzehnte profitierte die ’Ndrangheta davon, dass sie
von den staatlichen Stellen als harmloser als die sizilianische Cosa Nostra und
die neapolitanische Camorra erachtet wurde.
Herz
und Hirn der Ndrangheta arbeiten in der Provinz Reggio Calabria, doch die
mafiosen Tentakeln haben sich über die ganze Welt ausgebreitet, bis nach
Australien und Amerika. Die Clans aus dem italienischen Süden gelten als
„Marktführer“ im illegalen Drogengeschäft, vor allem beim Kokain. Sie
verhandeln direkt mit den kolumbianischen Drogenbaronen. „Der Ndrangheta ist es
gelungen, die wirkliche Holding des Drogenmarktes zu werden, und zwar dank
ihrer verzweigten Organisation in allen Teilen der Welt“, erläutert der
Anti-Mafia-Staatsanwalt von Reggio Calabria, Giuseppe Pignatone.
Der Boss der Bosse - Domenico Oppedisano |
Die italienischen Behörden setzen ihren Kreuzzug gegen die
kalabrische Mafia-Organisation ’Ndrangheta fort. Auf drei Kontinenten nahmen
Ermittler am Dienstag insgesamt 41 Verdächtige fest. Auch in Deutschland waren
die Fahnder erfolgreich – in Baden-Württemberg gingen ihnen fünf mutmaßliche
Mafiosi ins Netz. In Frankfurt am Main gelang die Festnahme eines mutmaßlich
ranghohen Mitgliedes – nach ihm hatte die italienische Staatsanwaltschaft in
Reggio Calabria mit europäischem Haftbefehl gesucht.
Die koordinierte Polizeiaktion mit der Code-Bezeichnung „Il
crimine 2“ fand zeitgleich in Italien, Deutschland, der Schweiz, Kanada und
Australien statt. Im australischen Stirling wurde Domenico Antonio Vallelonga
festgenommen. Vallelonga war vor drei Jahrzehnten aus Kalabrien ausgewandert
und hatte in Australien Karriere gemacht. Nachdem er von 1996 bis 2005
Bürgermeister von Stirling war, hatte ihn die 200.000-Einwohner-Stadt sogar zum
Ehrenbürger gemacht.
Aus abgehörten Telefongesprächen mit dem ’Ndrangheta-Boss von
Siderno, Giuseppe Commisso alias „’U mastru“ (dt.: der Meister), soll
hervorgehen, dass Vallelonga den Ableger der Mafia in Westaustralien leitete,
die wichtigsten Entscheidungen traf und die „Taufe“ junger Mafiosi vornahm.
Dies alles in Absprache mit der Zentrale in Kalabrien.
In Italien nahmen die Fahnder Francesco Maisano fest, einen der
wichtigsten ’Ndrangheta-Bosse. Der 46-Jährige wurde in einem unterirdischen
Versteck an seinem Wohnort in Palizzi, einem Dorf in der Provinz Reggio
Calabria, entdeckt. Allen Festgenommenen wird unter anderem Drogen- und
Waffenhandel sowie Geldwäsche vorgeworfen.
In Deutschland sind ’Ndrangheta-Clans bereits seit Jahrzehnten
aktiv. Nach Erkenntnissen der Polizei beteiligen sie sich hierzulande vorrangig
am Drogenhandel sowie an Zoll- und Steuerdelikten. Die meisten der nach
Deutschland entsandten Clanmitglieder aber verhalten sich unauffällig, weil
ihnen die Aufgabe zufällt, das kriminell erwirtschaftete Geld in legalen
Geschäften anzulegen – in Restaurants, Hotels, Baufirmen und Immobilien. In
Analysen des Bundeskriminalamtes werden Städte wie Stuttgart, Erfurt, München,
Frankfurt am Main, Bochum, Duisburg und Leipzig als Stützpunkte der ’Ndrangheta
aufgeführt. Deutsche Behörden gehen aber erst seit dem Mord an sechs Italienern
im Duisburger Restaurant „Da Bruno“ im Jahr 2007 intensiver gegen die
Mafiastrukturen vor.
Das Massaker von Duisburg, dem offenbar eine Familienfehde
zwischen ’Ndrangheta-Clans zugrunde lag, hat auch in der Mafia-Organisation zu
Konsequenzen geführt. War die ’Ndrangheta bis dahin ein eher locker
organisierter Verbund von rund 150 Clans mit jeweils bis zu 1500 Mitgliedern,
hat sich in den letzten Jahren eine hierarchische Struktur herausgebildet.
Rivalitäten werden nun von einem in Kalabrien angesiedelten Führungsgremium
geklärt, das auch Befehle an die einzelnen „locali“, die ’Ndrangheta-Zellen im
Ausland, erteilt.
Francesco Maisano |
Die ’Ndrangheta hat sich in den vergangenen Jahren zur
mächtigsten italienischen Mafia-Organisation entwickelt. Ihr Jahresumsatz wird
auf 30 bis 36 Milliarden Euro geschätzt. „Der 'Ndrangheta ist es gelungen, die
beherrschende Holding des Drogenmarktes zu werden, und zwar dank ihrer
verzweigten Organisation in allen Teilen der Welt“, sagt der
Antimafia-Staatsanwalt von Reggio Calabria, Giuseppe Pignatone. Gleichzeitig
hat die ’Ndrangheta aber ihre lokale Verankerung wahren können, nicht zuletzt
deshalb, weil sie an alten Ritualen festhält.
So pflegt die Organisation ihre Aufnahmeriten, die bis ins
16. Jahrhundert zurückgehen – so etwas schafft Identität in der ländlichen,
kleinräumigen Struktur Kalabriens.
Im Sommer 2010 war den Fahndern in der Operation „Il crimine 1“
der bisher größte Schlag gegen die ’Ndrangheta gelungen. Damals nahmen die
italienischen Antimafia-Behörden 300 mutmaßliche Mafiosi in Kalabrien und im
Norden Italiens fest, darunter auch den 80-jährigen Domenico Oppedisano, der
seit 2009 als der „Boss der Bosse“ in der ’Ndrangheta gilt. Mit der Aktion „Il
crimine 2“ musste die Organisation nun eine weitere schwere Niederlage
einstecken.
Ein inhaftierter Clan mit einem beschlagnahmten Gesamtvermögen von 1 Milliarde Euro |
Bis in die 1990er Jahre war die Cosa Nostra in der Tat die mächtigste
Mafia-Organisation, doch als diese nach 1992 unter immer stärkeren
Verfolgungsdruck geriet, konnte die ’Ndrangheta in vielerlei Hinsicht ihren
Platz einnehmen. Das führte nicht zuletzt dazu, dass die ’Ndrangheta zuletzt
den für sie unbequemen Politiker Francesco Fortugno vor einem Wahllokal
erschoss. Sie gilt heute als das wirtschaftlich stärkste Syndikat und setzt
vermutlich rund 53 Milliarden Euro um, das sind etwa 3,5 Prozent des
italienischen Bruttoinlandsprodukts.
Francesco Fortugno - vor dem Wahllokal erschossen |
Der Mörder von Francesco Fortugno |
Weltweit hat sich die italienische
Mafia 'Ndrangheta bereits ausgebreitet. Außerhalb Italiens sind die Strukturen
vor allem in Kolumbien und Südamerika weit verzweigt. Den höchsten Umsatz
erzielen die Clans …
Was ist derzeit einer
der größten Exportschlager Italiens? Es ist nicht Wein, nicht Kaffee, nicht
Mode, sondern traurigerweise die 'Ndrangheta. Die Mafia-Organisation aus der
süditalienischen Region Kalabrien ist auf internationalem Expansionskurs. Sie
breitet sich in Europa, Amerika und Asien aus und hat schon längst in
Deutschland Fuß gefasst.
Giuseppe Nirta - Clanboss der 'Ndrangheta |
Das Forschungsinstitut
Demoskopika mit Sitz in der kalabrischen Stadt Rende hat jetzt eine
erschütternde Studie vorgelegt. Es schätzt den Jahresumsatz der 'Ndrangheta auf
53 Milliarden Euro. Das ist mehr als die Deutsche Bank und McDonald's zusammen. Giuseppe Nirta gilt als Boss des
'Ndrangheta-Clans Nirta-Strangio, der seit langem mit der Familie Pelle-Vottari
in blutigem Streit liegt. Der Fehde sind etliche Menschen zum Opfer gefallen,
darunter die Schwiegertochter Nirtas. Im Oktober 2007 war bereits Francesco
Vottari geschnappt worden. Auch wenn die Festnahme der beiden verfeindeten
Bosse ein herber Schlag gegen die kalabrische Mafia darstellt, dürfte sie nach
wie vor die gefährlichste Mafia Italiens bleiben.
Francesco Vottari |
Am 19. November 2011 endete in Mailand ein Massenprozess gegen 119
Mitglieder der ’Ndrangheta. Dabei wurden 110 schuldig gesprochen. Nach Ansicht
des Gerichts betrieben sie über 15 regionale Organisationen kriminelle
Geschäfte. Zentrum der Aktivitäten war das Bauwesen. Zudem versuchten sie
Einfluss auf die Politik zu nehmen. Die höchste Strafe von 16 Jahren erhielt Alessandro
Manno.
380 Familien gehörten der
Organisation an, 113 von ihnen seien weltweit aktiv, zwölf von ihnen in
Deutschland. Die Mitarbeiterzahl belaufe sich auf 60.000, heißt es in der
Studie.
Giuseppe Pelle - Clanchef der 'Ndrangheta |
Der Pelle-Clan mit einem beschlagnahmten Vermögen von 700 Millionen Euro |
Für Experten nur die 'Ndrangheta-AG
Raffaele Rio, Experte für organisierte
Kriminalität und Autor der Studie, spricht angesichts dieser Kennziffern der
"'Ndrangheta-AG": "Sie stellt für den Wohlstand ein erhebliches
Hindernis dar. Die Clans verzerren die Kräfte des Marktes, der freien
Konkurrenz und schaffen Monopole, die auf Einschüchterung beruhen", sagt
Rio. "Sie beruht auf dem Einverständnis weniger und der stillen Duldung
vieler, die aus Eigeninteresse oder Angst wegschauen und vor Anzeigen
zurückschrecken."
Die
Statistik ist ein Weckruf für die internationale Gemeinschaft. Das Problem der
organisierten Kriminalität, die sich aus Italien in alle Welt bewegt,
verschärft sich. Das liegt nicht zuletzt an der Wirtschaftskrise, die viele
Länder erfasst hat. Weil die Banken mit Krediten geizen und Kunden ihre
Rechnungen nicht bezahlen, befinden sich viele Unternehmen in Geldnot.
Das
ist das ideale Einfallstor für Organisationen wie die 'Ndrangheta. Sie verfügen
über hohe Barmittel, die sie in die Realwirtschaft schleusen wollen. Um ihre
Firma vor dem Bankrott zu retten, bleibt vielen Eigentümern nichts anderes
übrig, als sich auf die dunklen Verlockungen der Mafia-Gangster einzulassen.
Gerade
der 'Ndrangheta gelingt es so, in immer neue Wirtschaftssektoren vorzudringen.
Traditionell ist sie dort aktiv, wo wenig Technologie im Spiel ist. Das ist die
Bauwirtschaft, die Müllentsorgung, das Wegräumen von Erde oder die Gastronomie. Doch
Schritt für Schritt entdeckt sie anspruchsvollere Tätigkeitsfelder. Sie dringt
in die Finanzwirtschaft ein und erwirbt Beteiligungen.
'Ndrangheta-Boss Giovanni Tegano - weltweite Firmenbeteiligungen |
Die
erneuerbaren Energien sind ein weiterer Tummelplatz. Sie werden staatlich stark
gefördert und bieten dank der Subventionen gute Renditen. Im Visier befinden
sich beispielsweise Windfarmen. Europas Polizei schlug deswegen Alarm und
veröffentlichte im Sommer 2013 einen Bericht zu den kriminellen Umtrieben in
der Green Economy.
Der
große Erfolg der 'Ndrangheta ist ihrer Unauffälligkeit geschuldet. Ein
berühmtes Zitat lautet: "Sie ist unsichtbar. Wie die abgewandte Seite des
Mondes." Die 'Ndrangheta zückt nicht die Pistole, sondern die
Visitenkarte. Die Söhne und Töchter der Clan-Bosse besuchen häufig exzellente
Schulen und Universitäten.
Sie
treten polyglott auf und verkehren in den oberen Kreisen der Gesellschaft. Sie
unterhalten enge Beziehungen zur Politik und sichern durch den Kauf von
Wählerstimmen, dass ihre Kandidaten auch ins Parlament einziehen.
Die
'Ndrangheta ist mächtig, weil sie den Kokainhandel mit Südamerika dominiert.
Demoskopika schätzt die Kokain-Einkünfte der Organisation auf mehr als 24 Milliarden
Euro. Welche Dimensionen das Kokain-Geschäft hat, lässt sich nur erahnen. Ein
Einblick gibt die Operation "Buongustaio", die von der italienischen
und der brasilianischen Polizei erfolgreich geleitet wurde.
Über
einen Zeitraum von zwei Jahren wurden zwei Tonnen des weißen Pulvers
beschlagnahmt. Marktwert: Ungefähr 400 Millionen Euro. Die Ermittler wurden
fündig in dem Hafen Gioia Tauro, aber auch in Valencia, im belgischen Anversa,
im portugiesischen Leixões und an mehreren Orten in Brasilien.
Erste Gemeinderegierung abgesetzt
Die regionale Expansion der 'Ndrangheta
ist vor allem in Italien gut dokumentiert. Die Organisation ist inzwischen auch
stark in der Lombardei und im Piemont. Beispiel Mailand. Alberto Alessandri,
Experte für organisierte Kriminalität an der Wirtschaftsuniversität Bocconi,
hat in einer Studie aufgezeigt, dass die Anklagen der Staatsanwaltschaft
Mailand deutlich zunehmen. Im Jahr 2000 seien 46 Personen wegen mafiöser
Umtriebe belangt worden. Im Zeitraum 2010 bis 2012 seien es schon 225 gewesen.
In 84 Prozent der Fälle handele es sich
um die 'Ndrangheta, führt Alessandri aus. Das hat auch politische Konsequenzen.
Im vergangenen Jahr wurde die erste Regierung einer lombardischen Gemeinde abgesetzt,
weil sie angeblich von der 'Ndrangheta unterlaufen worden war. Dem
Bürgermeister der Kleinstadt Sedriano wurde vorgeworfen, sich auf einen
Mittelsmann der 'Ndrangheta eingelassen und dessen Tochter auf seine Wahlliste
gesetzt zu haben.
Elio Veltri, ehemaliger Bürgermeister
der lombardischen Stadt Pavia und renommierter 'Ndrangheta-Experte, wirft der
italienischen Politik vor, das Problem organisierte Kriminalität zu
unterschätzen.
Bürgermeister Elio Veltri |
Er warnt schon seit langem, dass die
'Ndrangheta seinen Wohnort Pavia in ihrer Hand hat. In einem aufsehenerregenden
Prozess wurde Ende 2012 der ehemalige Leiter des Gesundheitssystems von Pavia
in erster Instanz zu einer Haft von 13 Jahren verurteilt. Ebenfalls verurteilt wurde der Anwalt
Pino Neri, der als der Chef der 'Ndrangheta in der Lombardei galt.
"Verhaftungen alleine reichen jedoch nicht", sagt Veltri.
"Wichtig ist, dass das Vermögen der 'Ndrangheta beschlagnahmt wird. Da
kommt Italien nicht voran." Zwischen fünf bis sieben Prozent der Mafia-Gelder
seien maximal konfisziert worden, sagt Veltri.
Pino Neri - verhafteter 'Ndrangehta-Anwalt |
Die Bekämpfung der Geldwäsche funktioniert nicht
Ein Problem der italienischen Justiz: Im
Strafgesetzbuch klafft noch immer eine Lücke. Bislang wird Geldwäsche nur dann
bestraft, wenn ein Mittler schmutziges Geld annimmt und dann in den Umlauf
bringt. Nicht geregelt ist der Fall, wenn derjenige, der das Verbrechen
begangen hat, auch selbst seine Gelder weiß wäscht.
Der Straftatbestand
"Autoriciclaggio" existiert nicht. "Das Vorgehen gegen
Geldwäsche funktioniert in Italien nicht", schimpft Veltri. "Das muss
dringend geändert werden." Ein zweites Problem: Staatsanwälte wie
beispielsweise Nicola Gratteri, der in Reggio Calabria die Ermittlungen gegen
die organisierte Kriminalität leitet, fordern klarere und härtere Regeln, die
Gefälligkeiten zwischen Politik und Mafia unterbinden sollen.
Italiens neuer Ministerpräsident Matteo
Renzi scheint den Appell zumindest gehört zu haben. Am Mittwoch besuchte der
Regierungschef eine Schule in dem kalabrischen Ort Scalea, dessen Regierung
wegen Mafia-Umtrieben abgesetzt worden war.
"Die Regierung wird alles
unternehmen, um die Bürger Kalabriens nicht allein zu lassen", sagte
Renzi. "Aber die Bürger müssen sich erheben und mitmachen. Den Kampf für
die Legalität gewinnen wir nur gemeinsam." Und gewandt an Staatsanwalt
Gratteri fügte er an: "Ich habe ihm zugesichert, dass die Reformen, die
wir besprochen haben, auch umgesetzt werden."
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