Ein bedrückendes Interview mit Roberto Scarpinato
Der sizilianische Anti-Mafia-Staatsanwalt Roberto
Scarpinato über die Mafia der weißen Krägen, Palermo als Laboratorium
der Ethik, die Verhaftung des Bosses der Bosse, Bernardo Provenzano, den
Umgang mit Todesangst und sein hochbewachtes Leben, das dem eines
Gefangenen gleicht.
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Roberto Scarpinato |
Frage: Palermo, wo Sie seit fast 20 Jahren arbeiten
und leben, ist die Stadt der Mafia und ihrer schlimmsten Verbrechen. Wie
ist Ihre Beziehung zu diesem Ort?
Scarpinato: Obwohl es
paradox klingt, ist Palermo für mich ein Laboratorium der Ethik. Wäre
ich Richter in einer anderen Stadt, könnte ich ein ruhiges Leben führen.
Hier musste ich von Tag zu Tag dramatischere Entscheidungen treffen.
Ich mache keinen Schritt ohne Eskorte, habe meine Bewegungen auf ein
Minimum limitiert. Mein Leben ist dadurch schwieriger, aber auch
ethischer geworden. Normalerweise verschwimmen die Grenzen zwischen Gut
und Böse. In Palermo stehen sich Mörder und Opfer direkt gegenüber. Nach
Jean-Paul Sartre besteht die Basis ethischen Handelns darin zu wählen,
und wir sind das Resultat unserer Entscheidungen. Palermo ist ein
Beispiel für die Gültigkeit dieses Gedankens.
Frage: Wie manifestiert sich das im palermischen Alltagsleben?
Scarpinato:
Wenn man zum Beispiel Geschäftsbesitzer ist, muss man sich entscheiden,
ob man Schutzgeld zahlt. Tut man es nicht, kann man ermordet werden. Zahlt man, macht man sich für den Rest
seines Lebens zum Sklaven. Ist man Anwalt, muss man sich entscheiden, ob
man jemandem im Namen der Mafia eine Todesbotschaft überbringt oder
selbst womöglich umgebracht wird. Man kann als Pfarrer einfach die Messe
lesen oder wie Padre Puglisi versuchen, die jungen Männer seiner
Gemeinde der Mafia-Kultur zu entreißen. Dann riskiert man, wie er
erschossen zu werden. Einem ganz normalen Bürger kann es passieren, dass
er auf der Straße Zeuge eines Mordes wird: Er kann dann sagen, er hätte
nichts gesehen oder eine Aussage machen, für die er sein Leben aufs
Spiel setzt. Palermo zwingt zur Wahl. Hier kann sich niemand
heraushalten. Man muss eine klare Entscheidung treffen, ob man auf der
Seite der Mörder oder der Opfer steht. Solche Fragen stellen sich in
anderen Städten gar nicht.
Pater Puglisi - von der Mafia hingerichtet
Frage: Warum gilt gerade die sizilianische Cosa Nostra als die Mafia schlechthin?
Scarpinato:
Ich habe gelernt, dass das Bild der Mafia nicht mit ihrer Realität
übereinstimmt. Es stellt Bosse wie Totò Riina und Bernardo Provenzano
als ungebildete, brutale Menschen dar, die dem bäuerlichen Milieu
entstammen. In Wirklichkeit sind die Capi der Mafia auch Ärzte,
Bauunternehmer, Anwälte oder Freiberufler. Leute wie der Chirurg und
Primararzt Giuseppe Guttadauro, der 1997 wegen Mafia-Delikten verurteilt
wurde. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis haben wir ihn
monatelang abgehört und festgestellt, dass am Vormittag Vertreter der
palermischen Bourgeoisie und Politik bei ihm ein und aus gingen, ihn um
Rat fragten. Am Nachmittag kamen die Killer, Drogenhändler und andere
Kriminelle. Er repräsentiert die typische Synthese der mafiösen
Realität. Das Hirn der Mafia ist bürgerlich, ihre Schrotflinte
proletarisch.
Bernardo Provenzano - Boss der Bosse
Frage: Welche Rolle spielt dabei die Politik?
Scarpinato:
Die Geschichte der Mafia ist Teil der italienischen Machtpolitik. Es
geht dabei nicht nur um Regionalpolitiker, sondern auch um solche, die
auf nationaler Ebene agieren. Für die italienische Justiz ist bewiesen,
dass der siebenmalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti
bis 1980 Kontakte mit der Mafia hatte. Er kam nach Sizilien, um mit
Mafia-Bossen das Problem der Beseitigung eines wichtigen Politikers zu
diskutieren: des Präsidenten der Regione Siciliana, der dann 1980
ermordet wurde. Andere wichtige italienische Politiker wurden in letzter
Zeit wegen Mafia-Delikten verurteilt. Es geht in Italien also nicht um
blutrünstige Bauern-Bosse, sondern um die Mafia der Bourgeoisie, deren
Vertreter wichtige öffentliche Positionen bekleiden. Seit der Einigung
Italiens 1861 ist die Mafia ein unlösbares Problem der italienischen
Politik. Sie ist Teil der Kultur einiger Gruppen innerhalb der
herrschenden Klasse. In der Hierarchie standen die Volksmafiosi immer
unter der Upper-Class-Mafia, welche die politische Macht im Land besaß.
Ex-Staatspräsident Giulio Andreotti
Frage:
Wie kommt es dann, dass der im April nach 43 Jahren Suche verhaftete
Boss der Bosse, Bernardo Provenzano, dem bäuerlichen Milieu entstammt?
Scarpinato:
Die aus Corleone stammenden Mafiosi wie Provenzano oder Totò Riina
haben in dem Jahrzehnt nach dem großen Mafia-Krieg des Jahres 1981, in
dem etwa 1.000 Menschen ermordet wurden, ihre Führungsansprüche gegenüber
der bürgerlichen Mafia durchgesetzt. Die Corleoneser, die als Sieger
aus diesem Krieg hervorgingen, wollten nicht mehr die untergeordnete
Rolle spielen. Sie stiegen zwischen 1980 und 1990 groß in den
internationalen Drogenhandel ein und gewannen so auch auf dem
Finanzsektor gegenüber der bürgerlichen Mafia die Oberhand. All das hat
das Gleichgewicht innerhalb der Organisation verändert. 1992 ließen sie
den wichtigsten Vertreter der sizilianischen bürgerlichen Mafia, den
Europaparlamentsabgeordneten Salvo Lima, umbringen. Lima hatte sein
Versprechen nicht gehalten, dass die im Großprozess des Jahres 1986
verurteilten Bosse freikommen würden. Daraus hat sich ein Chaos ergeben,
dem 1992 auch die Anti-Mafia-Richter Giovanni Falcone und Paolo
Borsellino zum Opfer gefallen sind. Auf die Blutbäder reagierte der
italienische Staat mit der Verhaftung zahlreicher Capi der Corleoneser.
Dadurch konnte die bürgerliche Mafia Schritt für Schritt wieder die alte
Führungsrolle übernehmen.
Der ermordete Europa-Abgeordnete Salvo Lima. Er hatte gegenüber der Mafia sein Versprechen nicht gehalten und wurde auf offener Straße liquidiert.
Frage: Heißt das, dass die
Verhaftung von Provenzano, die als enorm bedeutender Schlag gegen die
Mafia gefeiert wurde, heillos überschätzt wird?
Scarpinato:
Provenzano war ein großer Boss der Volksmafia, und seine Verhaftung war
wichtig. Aber die Medien haben die Bedeutung dieses Ereignisses
übertrieben, indem sie ihn zur Ikone einer archaischen, brutalen und
ungebildeten Mafia stilisiert haben. Das ist eine Verfälschung, denn
Provenzano repräsentiert nur eines der Gesichter der Mafia. Er stand so
stark im Rampenlicht, dass dadurch die Bedeutung der bürgerlichen Mafia,
die heute an der Macht ist, in den Hintergrund trat.
Frage: Seine Inhaftierung bedeutet auch für die Anti-Mafia-Arbeit keine Zäsur?
Scarpinato: Nein. Sie ist nur eine Zwischenstation. Die Mafia trägt heute einen weißen Kragen und ist stärker denn je.
Frage: Welche Strategien verfolgt die bürgerliche Mafia? Sind die Massaker vorläufig ausgesetzt?
Scarpinato:
Heute muss nicht mehr so viel getötet werden, weil die bürgerliche
Mafia wieder sicher an der Macht ist. Wer ihr im Weg steht, wird
isoliert. Wenn zum Beispiel ein Journalist unangenehm ist, gibt man ihm
einfach keinen Job mehr. Wenn ein Beamter Schwierigkeiten macht, wird er
versetzt. Das passiert alles auf demokratischem Wege. Gibt es jedoch Schwierigkeiten, dann schickt man die Killer.
Frage: War der Provenzano-Prozess trotzdem wichtig?
Scarpinato: Es bestand die Gefahr, dass der Prozess zu einem reinen Medienspektakel würde. Und so kam es dann auch.
Frage: Wir sind einigermaßen überrascht, das zu hören.
Scarpinato:
Kein Wunder. Es wurde ja auch ganz anders darüber berichtet. Manchmal
sagte ich Journalisten ja , dass Provenzano die Mafia ist.
Frage: Wie meinen Sie das?
Scarpinato: Auch ich muss immer wieder die Erwartungshaltung der Medien befriedigen.
Frage: Was würden Sie als Mafioso tun, um vor dem Gesetz sicher zu sein?
Scarpinato: Wäre ich
Mafiosi, würde ich in Deutschland investieren. Sie
deutschen Gesetze sind zu lasch und stammen zudem aus dem 19.
Jahrhundert. Für das dritte Millennium sind die deutschen Gesetze
veraltet.
Frage: Was passiert, wenn Sie sagen, was Sie tatsächlich denken?
Scarpinato:
Es gibt wichtige politische Kreise in Italien, die bestreiten, dass die
Politik etwas mit der Mafia zu tun hat. Viele sind interessiert daran,
die Öffentlichkeit im Glauben zu lassen, dass die Welt der Mafia nur die
Welt Provenzanos ist. Mir wird vorgeworfen, ich sei ein Richter, der
Politik mache, weil ich mit Prozessen gegen wichtige Politiker wie
Giulio Andreotti befasst war. Aber es ist ganz klar, dass die Mafia auch
ein politisches Problem ist, das nicht allein auf juristischer Ebene
gelöst werden kann. Ich gebe Ihnen nur zwei Beispiele: In der Regione
Siciliana wurden etwa zehn wichtige Regionalpolitiker wegen
Mafia-Delikten angeklagt und sind trotzdem bei den letzten Lokalwahlen
wiedergewählt worden. Als sich die neue Regierung von Romano Prodi im
Frühjahr formierte, haben die Mitte-rechts-Parteien Giulio Andreotti als
möglichen Kandidaten für den Posten des Senatspräsidenten
vorgeschlagen, obwohl ein Gerichtsurteil festgestellt hat, dass er bis
1980 enge Beziehungen zur Mafia hatte.
Frage: Aber auch die
neueste Literatur über die Mafia, Bücher wie „Cosa Nostra“ des
englischen Historikers John Dickie, dem Sie selbst ein Interview gegeben
haben, zeichnet schwerpunktmäßig das Bild einer von Provenzano
geführten archaischen Mafia.
Scarpinato: Erstens gibt es so
etwas wie guten Glauben. Außerdem: Wie schreibt man ein Buch über die
Mafia? Man liest die Bücher anderer Autoren, liest die Aussagen von
Kronzeugen, die nicht über die eigentliche Mafia reden, und führt
Gespräche mit ein paar Richtern, die sagen, dass die Mafia und
Provenzano ein und dasselbe sind. Auf diese Weise werden immer wieder
dieselben Bücher mit immer denselben Missverständnissen geschrieben. Allerdings gibt es neuerdings bemerkenswerte Autoren, die offenkundig intimen Zugang zur Mafia haben und ein sehr realistische Bild von der Mafia zeichnen.
Frage: Wer sind sie und wo leben sie? Gehört Roberto Saviano dazu?
Scarpinato: Dazu kann und will ich nichts sagen. Sie leben derzeit in Deutschland und Italien..
John Dickie, Mafia-Autor
Frage:
Bernardo Provenzano wurde nach 43 Jahren ausgerechnet zwei Tage nach
der Wahlniederlage Silvio Berlusconis verhaftet. War das ein Zufall?
Scarpinato: Auf diese Frage kann und darf ich nicht antworten.
Frage:
Der Mafia-Boss Tommaso Buscetta, welcher der erste hochrangige
Kronzeuge gegen die Mafia war, hat Richter Falcone in den achtziger
Jahren sehr viel über Rituale und Gesten der Volksmafia erzählt. Ist all
das inzwischen obsolet?
Scarpinato: Der Fall Buscetta liegt
etwas anders. Buscetta hat Falcone gesagt, dass er ihm das, was er über
die bürgerliche Mafia wisse, nicht erzählen könne, weil er selbst sonst
sofort umgebracht würde und man Falcone, sollte er damit an die
Öffentlichkeit gehen, für verrückt erklären würde. Nach Falcones
Ermordung hat sich Buscetta – um Falcone zu ehren – entschlossen, über
Andreotti zu sprechen und damit den Andreotti-Prozess losgetreten. Alle
Kronzeugen außer Buscetta und einer Hand voll anderer haben sich bisher
geweigert, Aussagen über die politische Mafia zu machen. Außerdem
entstand, nachdem diese wenigen ausgesagt haben, eine enorme
Anti-Kronzeugen-Bewegung, die von fast allen politischen Lagern getragen
wurde.
Der Mafia-Boss Tommaso Buscetta
Frage: Es gibt keine so genannten Pentiti, keine „Reuigen“ mehr, die mit der Justiz zusammenarbeiten?
Scarpinato: Nein. Die wenigen Pentiti, die es noch gibt, sind unbedeutende Figuren und erzählen banale Dinge über Mafia-Delikte.
Frage: Was ist die Ursache dafür, dass es kaum noch wichtige Kronzeugen gibt?
Scarpinato:
Es gab jahrelang Pressekampagnen darüber, dass die Linke die Pentiti
instrumentalisieren würde. Außerdem wurde das Kronzeugengesetz geändert.
Heute muss ein Pentito innerhalb von sechs Monaten nach seiner
Verhaftung seine Aussage machen. Danach ist sie nicht mehr gültig. Die
Pentiti haben aber Angst zu sagen, was sie über politisch einflussreiche
Personen wissen, weil ihnen klar ist, dass ihr Leben und das ihrer
Familie staatlichen Organen anvertraut ist, die ihrerseits politischer
Einflussnahme ausgesetzt sein könnten. Die einzige Ermittlungsmethode,
die uns geblieben ist, ist das Abhören. Jetzt will aber die Politik auch
das Abhörgesetz ändern.
Frage: Wie funktioniert die Kooperation zwischen der bürgerlich-politischen Mafia und der Volksmafia?
Scarpinato:
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die zwei mächtigsten Männer der
bürgerlichen Mafia der achtziger Jahre waren die Cousins Nino und
Ignazio Salvo. Sie gehörten zu einer der reichsten Familien Siziliens,
Eigentümer von Hotels, Unternehmer. Männer mit weißen Krägen. Sie waren
Mafia-Bosse. Sie hatten es nicht notwendig zu töten. 99 Prozent ihrer
Geschäfte erledigten sie ohne Gewalt. Wenn sich ihnen aber jemand
verweigerte oder sich ein Hindernis auftat, das sich nicht durch
Korruption, Erpressung oder politische Einflussnahme beseitigen ließ,
haben sie sich an die Volksmafia gewandt und dort einen Mord in Auftrag
gegeben. Im Gegenzug ließen sie ihre Kontakte spielen, wenn ein
Volksmafioso Schwierigkeiten mit dem Gesetz hatte. Dazu kommt, dass die
nächste Generation, die Kinder der Volksmafiosi, Studien abgeschlossen
haben und auf diese Weise längst in die Mafia Karriere
gemacht haben.
Ignazio Salvo - gehört zu den mächtigsten Mafia-Bossen und zählt noch vor Berlusconi zu den reichsten Männern Italiens
Frage: Ist der Volksmafioso eine vom Aussterben bedrohte Spezies?
Scarpinato:
Nein, es wird ihn geben, solange es Armut gibt. Wir befinden uns nur im
Augenblick in einer Phase, in der die bürgerliche Mafia viel mächtiger
ist. Die Psyche des bürgerlichen Mafioso ist davon geprägt, mit den
Mitteln der Gewalt Politik zu machen. Die Moderne sieht aber für das
Bürgertum Gewaltanwendung im politischen Machtkampf nicht vor. Die
Postmoderne allerdings hat die Gewalt wieder für sich entdeckt. Es
reicht das Stichwort Irak, um zu verstehen, was damit gemeint ist. Die
Postmoderne hat sich also sozusagen nahtlos wieder an die Prämoderne
angehängt. Was sich in der Krise befindet, ist die Moderne.
Frage: Amüsieren Sie sich über das Bild der Mafia, das Mafia-Filme oder -serien wie „The Sopranos“ zeigen?
Scarpinato:
Das Wissen ist nie unschuldig. Das, was wir in diesen Bildern sehen,
ist der mediale Reflex realer Machtrelationen. Die Politik produziert
diese Bilder mit, um von ihren eigenen Mafia-Verstrickungen abzulenken.
Es ist kein Wunder, dass die Medien das gewünschte Bild aufgreifen.
Frage:: Demnach können Sie sich mit den „Sopranos“ keinen lustigen Abend machen?
Scarpinato: Ich schaue mir lieber Comics an.
Frage:
Der Mafia-Boss Luciano Leggio, der Lehrer von Provenzano und Riina, hat
sich in seiner Gestik deutlich sichtbar an Marlon Brando in der Figur
des „Paten“ orientiert. Das mediale Bild spiegelt also auch zurück in
die Mafia?
Scarpinato: Leggio war ein klarer Fall für die
Identitätsstörung vieler Volksmafiosi, die immer auf der Suche nach
fremden Symbolen, Gesten oder Ritualen sind, die sie sich aneignen
können. Die Volksmafiosi suchen immer nach Identifikationsfiguren. Die
bürgerliche Mafia kennt dieses Problem nicht. Die, die wirklich mächtig
sind, verstecken ihre Macht.
Frage: Wie Sie das System der
bürgerlichen Mafia beschreiben, behindert es Ihre Arbeit auf viel
hintergründigere Weise, als es noch bis vor zehn Jahren die Volksmafia
mit ihren Bomben und Schrotflinten getan hat?
Scarpinato: Ich habe mich als Richter freier gefühlt, als die Volksmafia an der Macht war.
Frage: Obwohl Ihre Todesangst größer war?
Scarpinato: Ja, aber dafür war ich in meiner Arbeit weniger eingeschränkt.
Frage: Woher nehmen Sie den Mut und die Kraft, die Sie für Ihre Arbeit brauchen?
Scarpinato: Ich frage mich das selbst auch oft. Ich weiß es nicht. Es ist gerade eine sehr schwierige Phase.
Frage: Es wurden schon einige Attentatsversuche auf Sie verhindert. Stehen Sie unter ständiger Lebensgefahr?
Scarpinato:
Sagen wir, die Gefahr ist immer an die Politik gebunden. Es gibt
Zeiten, in denen es nicht günstig ist, einen Staatsanwalt erschießen zu
lassen, weil es eine extreme öffentliche und politische Reaktion nach
sich zöge. Es gibt aber auch Phasen, in denen mit keiner Reaktion zu
rechnen ist. Wenn man mir zum Beispiel jetzt meine Eskorte wegnähme,
kann man mich umbringen, indem man einfach so tut, als wäre ich ein
normaler Bürger, der das Opfer eines ganz normalen Überfalls geworden
ist. Ich habe mir in den letzten Jahren eine schöne Sammlung von Feinden
gemacht. Sollte einer von ihnen mich alleine antreffen, würde er mich
nicht überleben lassen.
Roberto Scarpinato unter ständiger Bewachung - hier auf dem Weg zum Prozess gegen Provenzano.
Frage: Rechnen Sie damit, eines Tages durch die Mafia zu sterben?
Scarpinato: Die Mafia vergisst nicht. Sie serviert ihre Rache kalt. In besonderen Fällen exekutieren sie Gegner auch noch nach 20 Jahren. Niemand kann sich vor der Mfia verstecken.
Frage: Haben Sie sich an die Todesangst gewöhnt?
Scarpinato:
Ich kenne diese Angst seit fast 20 Jahren. Seit ich 1988 von Rom nach
Palermo zurückgekommen bin, habe ich hier mit vielleicht sechs oder
sieben Menschen privaten Kontakt. Abgesehen davon, verkehre ich nur mit
Mördern und mit anderen Richtern.
Ein ermordeter Zeuge vor dem Justizpalast kurz vor seiner Aussage.
Frage: Wie trifft man die Entscheidung für so ein Leben?
Scarpinato:
In Rom habe ich ein vollkommen normales Leben als Richter geführt. Dann
bin ich nach Palermo gekommen, um mit den Richtern Giovanni Falcone und
Paolo Borsellino im Anti-Mafia-Pool zusammenzuarbeiten und habe mich
plötzlich in diesem Leben wiedergefunden. 1992 sind Falcone und
Borsellino ermordet worden. Es ist wie in einer Schlacht: Der eine
fällt, der andere hebt die Fahne auf und geht weiter.
Frage: Verbieten Sie sich die Sehnsucht nach einem normalen Alltag?
Scarpinato:
Ein Leben mit normalen Beziehungen kann ich nicht haben. Meine Wohnung
ist auch deshalb so voll mit Gegenständen und Bildern, weil ich nicht
draußen leben kann. Diese Bilder sind meine Fenster zur Welt.
Frage: Würden Sie aussteigen, wenn Sie könnten?
Scarpinato: Ich kann und will nicht aussteigen, ich würde mich wie ein Deserteur fühlen. In gewisser Weise bin ich ein Gefangener.