Als Treffpunkt hat Carlo ein Café im Münchner Umland vorgeschlagen. Im Schatten hoher Bäume sitzt er nun da, ein durchtrainierter Mann von Ende fünfzig, der Schädel ist glatt rasiert, die Augen sind wach, und erklärt, warum Männer wie er nie ins Gefängnis kommen, obwohl sie tonnenweise Kokain nach Deutschland bringen. Ein Sonnenstrahl blendet ihn.
Carlo unterbricht mitten im Satz, blinzelt, rückt den Stuhl beiseite und schüttelt die rechte Hand, als wollte er die tiefstehende Sonne wie eine Fliege verscheuchen. Für einen Moment blitzt ein Diamant auf seinem goldenen Ring auf, dann setzt Carlo seine Ausführungen fort: "Ich bin ein ,illuminato'", sagt er mit italienischem Akzent, ein Erleuchteter. In Mafia-Kreisen wird zwischen "illuminati" und "manovali" unterschieden, zwischen Erleuchteten und Handlangern. Der Diamant ist Zeichen seines hohen Rangs.
Carlo, so hatte es in Süditalien geheißen, sei der Herr des Kokainhandels in Deutschland. Und daran lässt er an diesem Nachmittag auch keinen Zweifel. "Im Sommer oder zu Silvester, wenn die Nachfrage am größten ist, bringen wir alle paar Tage eine Tonne Kokain her", sagt Carlo. Zwar wisse er immer, was in der Szene los sei, aber persönlich fasse er den Stoff nicht an, die Finger sollen sich andere schmutzig machen. So sieht es die Arbeitsteilung zwischen Erleuchteten und Handlangern vor.
Das Bundeskriminalamt (BKA) hat die 'Ndrangheta - so heißt die Mafia in Kalabrien - schon lange im Visier. Es ist jene Organisation, die für fast alle spektakulären Mafia-Taten der vergangenen Jahre auf deutschem Boden verantwortlich ist.
Giorgio Basile zum Beispiel, in Mülheim an der Ruhr aufgewachsen und bis zu seiner Festnahme 1998 an rund 30 Morden beteiligt, war ein 'Ndrangheta-Mann. Das Kommando, das 2007 in einer Duisburger Pizzeria sechs Menschen tötete, kam aus dem Mezzogiorno. Und auch die sieben Mafiosi, die Anfang 2011 der Polizei in Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen ins Netz gingen, gehörten zu jenem Syndikat, das Experten für das bedeutendste Kokainkartell der Welt halten. Deutschland, heißt es in einem internen BKA-Bericht, sei als "Transit- und Organisationsland" eine wichtige Drehscheibe im europäischen Kokainhandel.
Einen amtierenden Mafioso für ein Gespräch zu treffen ist ein zäher Prozess. Es braucht dazu Kontaktleute, einen Türöffner, viel Zeit und Geduld. Und es hilft, in Kalabrien aufgewachsen zu sein.
Francesco Sbano, 48, ist in Paola geboren, einer kleinen Stadt am Thyrrhenischen Meer, in der er schon als Junge Fußball spielte mit den Kindern der Mafiosi. Er hat Kommunikation und Fotografie studiert und sich mit dem Schicksal seiner Heimat, der die 'Ndrangheta ihren blutigen Stempel aufgedrückt hat, künstlerisch auseinandergesetzt.
Sbano näherte sich peu à peu dem Syndikat; er porträtierte die abgeschiedenen Dörfer Kalabriens, produzierte die Musik der 'Ndrangheta. Sbano kennt die Menschen - und die Menschen kennen ihn.
Während etlicher Vorgespräche hatte die 'Ndrangheta abgewogen, welches Risiko sie durch den Kontakt zur Presse eingeht. Dass sich Mafiosi nun an die Öffentlichkeit wagen, glaubt Sbano, liege daran, dass sie sich so stark fühlen: "Sie wollen den Mythos der Unbesiegbarkeit nähren."
Trotzdem ließ Carlo, der Erleuchtete, die erste Verabredung in Deutschland platzen. Er wollte sich in Kalabrien rückversichern. Beim zweiten Mal verschob er mehrfach den Treffpunkt. Als er endlich in dem Café erschien, ließ er sich als Erstes ein Empfehlungsschreiben zeigen, ausgestellt in Italien. Er las sorgfältig. Dass er "Auskunft erteilen" dürfe, soweit die Geschäfte nicht gefährdet würden.
"Ich spreche Deutsch besser als Italienisch", gesteht Carlo, seit 30 Jahren lebt er in der Bundesrepublik. Er trägt ein schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Slipper. Feiner Stoff, italienische Eleganz. Schon mit 18 Jahren, erzählt er, sei er getauft worden.
Er meint das geheime Ritual, mit dem er in die "Onorata Società" aufgenommen wurde - die "ehrenwerte Gesellschaft", wie sich die Mafia nennt. Sein Onkel hatte ihn eingeführt, so ist es meistens in diesen Kreisen, deren Zusammenhalt auf Blutsverwandtschaft beruht und die deshalb kaum Verräter kennen. In Italien werden die Verräter "pentiti" genannt, Reuige. Es sind Mafia-Angehörige, die nach ihrer Festnahme die Omertà, das Schweigegelübde, brechen und auspacken. Sie werden Kronzeugen der Staatsanwaltschaft. Laut einer Statistik der italienischen Justiz gab es bis 2008 etwa 1000 pentiti der sizilianischen Cosa Nostra und 2000 der Camorra in Neapel - aber nur 42 der kalabrischen 'Ndrangheta. Ein 'Ndranghetisti beschmutzt das Blut seiner Familie nicht durch Verrat.
Carlo kam dereinst für einen Ferienjob nach Deutschland, arbeitete in einer bayerischen Fabrik. Zurück in seiner Heimat schwängerte er die Cousine eines Mafioso. Er wollte sie nicht heiraten, was in der Familie des Mädchens nicht gut ankam - und was Carlo veranlasste, wieder über die Alpen zu verschwinden. Außer Gefahr war er allerdings erst zwei Jahre später, als der Mafioso starb. "So bin ich der Blutrache entgangen", weiß Carlo.
Wenn hohe Bosse der 'Ndrangheta nach Deutschland kamen, diente Carlo ihnen als Chauffeur. Er kutschierte sie durch Bayern und Baden-Württemberg, ins Ruhrgebiet, bis nach Bremen und Hamburg, "in die Häfen, in denen das Kokain ankommt". Er übersetzte, erledigte Aufträge, gewann ihr Vertrauen.
Die 'Ndrangheta, sagt Carlo, habe über ganz Deutschland ein dichtes Netz gesponnen. Der Hamburger Hafen sei eines der großen Einfallstore für das aus Südamerika stammende Kokain. "Wir arbeiten wie eine Handelsfirma", erklärt er. "Wir kaufen die Ware, lassen sie verpacken, wir beauftragen Speditionen für den Transport und zahlen den Zoll." Damit ist das Schmiergeld für korrupte Zöllner gemeint. Es wird von den Speditionen an die entscheidenden Beamten weitergeleitet: "Die Spediteure kennen sich aus in den Häfen."
Über die Jahre arbeitete sich Carlo in die Spitze der deutschen Organisation empor. Heute wird kaum eine wichtige Versammlung abgehalten, bei der er nicht mit am Tisch sitzt. "Die Sitzungen sind das Instrument schlechthin der 'Ndrangheta", sagt Carlo. Alles werde persönlich besprochen. Und wenn er doch mal geschäftlich telefonieren müsse, benutze er eine Prepaid-Karte. Nach einem Gespräch schmeiße er sie weg. So hinterlasse er keine Spuren.
"Unsere Kunden in Deutschland sind meistens Zuhälter und eine große Rockerbande", sagt Carlo. "Wir liefern in Einheiten von 50 bis 70 Kilogramm, oft in Bordelle." Was dort mit dem Kokain geschehe, wisse er nicht. Die Mafiosi hüten sich, durch gewöhnliche Straftaten Risiken einzugehen. "Wir dealen nicht auf Deutschlands Straßen", betont Carlo.
Naturgemäß lässt sich nicht alles überprüfen, was der Mann aus Kalabrien im Laufe eines Nachmittags in einem oberbayerischen Lokal berichtet. Welchen Anteil die 'Ndrangheta an der Organisierten Kriminalität in Deutschland generell hat, ist hingegen gut dokumentiert.
Die kalabrische Mafia, heißt es in dem BKA-Bericht, habe "fest verwurzelte Strukturen" in der Bundesrepublik aufgebaut, mit "Führungspersönlichkeiten einzelner Clans oder auch Killern". Laut "Jane's Intelligence Review", einer britischen Zeitschrift für Führungskräfte in Militär und Sicherheitsdiensten, ist Deutschland der wichtigste Stützpunkt der 'Ndrangheta in Europa.
Dabei war die Organisation in ihren Ursprüngen nur eine lose Verbindung bäuerlicher Clans. Es ging um die Beherrschung ihrer Dörfer, um Schutzgelder, Überfälle und um öffentliche Aufträge. Bekanntheit über die Landesgrenzen hinaus erwarben die Clans in den siebziger Jahren: Insbesondere jene aus der Region um San Luca in den Bergen des Aspromonte begannen damals, Reiche und deren Angehörige zu kidnappen.
So war der Millionärsenkel John Paul Getty III. 1973 fünf Monate lang in der Gewalt von Entführern der 'Ndrangheta. Die Lösegelder, im Fall Getty 2,7 Millionen Dollar, dienten als Startkapital für den Einstieg in den internationalen Kokainmarkt. Der Drogenhandel versprach viel höhere und vor allem regelmäßige Gewinne. Doch dazu musste eine straffere, effizientere Organisationsform aufgebaut werden.
Die Experten des Bundeskriminalamts haben den aktuellen Aufbau der 'Ndrangheta studiert: Das Syndikat sei "nicht mehr horizontal in einzelne Familienclans, sondern ähnlich der Cosa Nostra pyramidenförmig strukturiert", heißt es im BKA-Bericht. So habe sich die 'Ndrangheta in der Provinz Reggio Calabria in drei sogenannte mandamenti aufgeteilt. Über allem stehe die sogenannte Provinzialkommission. Sie wählt jedes Jahr einen "Capo crimine", eine Art Vorstandsvorsitzenden. Erkenntnisse wie diese haben die Ermittler aus der Operation "il crimine" der Staatsanwaltschaft in Reggio Calabria ziehen können. In deren Mittelpunkt stand Domenico Oppedisano, ein 81 Jahre alter Mann aus Rosarno, einem Städtchen an der tyrrhenischen Küste.
Oppedisano lebte unauffällig wie ein Bauer. Täglich knatterte er mit seinem Ape, jenem landestypischen, dreirädrigen Gefährt, in seine Orangenplantage. In Wahrheit aber war Oppedisano der Capo crimine, der Boss der Bosse. Er dirigierte ein weltweites Verbrechersyndikat. Aus Sicherheitsgründen besprach er seine Geschäfte nur im Orangenhain. Sein Pech war, dass die italienische Polizei Mikrofone in den Bäumen versteckt hatte.
Am 13. Juli 2010 schlug die Staatsanwaltschaft in ganz Italien zu. Neben Oppedisano wurden rund 300 seiner Gefolgsleute verhaftet, darunter Politiker, Unternehmer, Beamte. Die Polizei beschlagnahmte Werte in Höhe von rund einer Milliarde Euro. Der Clan, so die Ermittler, habe große Teile der Drogengelder in Firmen und Immobilien investiert, unter anderem für die Expo 2015 in Mailand.
Im November wurde Domenico Oppedisano in Mailand mit 109 weiteren Angeklagten verurteilt, unter ihnen Bruno Nesci, laut Ermittlern Oppedisanos Capo in Singen am Bodensee. Zwar agiert die 'Ndrangheta weltweit, alle wichtigen Entscheidungen fallen aber in Kalabrien. In Zeiten der Globalisierung funktioniert der Drogenhandel denn auch vergleichsweise anachronistisch. Bevor das Kokain aus Südamerika über den europäischen Kontinent verteilt wird, landet es erst einmal in Süditalien. In ihrer Heimat fühlen sich die Clans sicher. Sie betrachten sie als ihr Territorium.
Die Regierung in Rom habe "kaum Kontrolle über das Land", der Einfluss der 'Ndrangheta dagegen reiche bis ins römische Parlament, kabelte der US-Konsul in Neapel 2008 ans State Department in Washington. "Wenn Kalabrien nicht zu Italien gehören würde, müsste man es als einen ,failed state' bezeichnen", schrieb der Diplomat. "Failed state", gescheiterter Staat, dieser Begriff fällt in der Regel bei Ländern wie Somalia, Afghanistan oder Haiti.
Doch in der Tat scheint der Begriff nicht abwegig. Gioia Tauro zum Beispiel ist eine Stadt an der tyrrhenischen Küste mit einem der größten Containerhäfen des Mittelmeers. Strategisch günstig an der Route zwischen Suez-Kanal und der Straße von Gibraltar gelegen, dient Gioia Tauro als Knotenpunkt für 60 Häfen im Handel zwischen Europa und Fernost.
Zwei Zöllner, die im Rahmen des internationalen Anti-Terror-Einsatzes in Gioia Tauro im Dienst waren, mussten dort 2008 abberufen werden - so berichtet eine US-Diplomatin. Der eine Beamte war angeschossen worden, sein Kollege hatte einen Brief mit zwei Kugeln erhalten, der an seine Privatanschrift adressiert war.
In der Region um Gioia Tauro zählen die Piromalli-Molé zu den mächtigsten 'Ndrangheta-Clans. Sie sind Großhändler im internationalen Kokain-Business. Sie haben Verwandte in Südamerika, und sie haben ihre Verbindungsleute in Deutschland, solche wie Carlo. Der Mann, der für den Piromalli-Molé-Clan das Rauschgift über den Atlantik bringt, nennt sich Vincenzo. Es hat Monate gedauert, Vincenzo Bonasorta zu treffen. Oft kam etwas dazwischen. Einmal hatte die Polizei im Hafen von Gioia Tauro gerade eine Tonne Kokain sichergestellt, ein anderes Mal war er kurzfristig zu einer Hochzeit geladen. Strategische Allianzen zwischen Familien werden bei der 'Ndrangheta noch heute durch Heirat geschmiedet. Zudem ist eine Hochzeitsfeier immer eine Gelegenheit, unauffällig wichtige Leute zu treffen und Geschäftliches zu besprechen.
Vincenzo schlägt als Treffpunkt die Piazza der Hafenstadt vor. Der Platz wird von Polizeikameras überwacht, aber das scheint ihn nicht zu stören. Vincenzo ist Mitte dreißig und von eher kleiner Gestalt. Er trägt eine enge schwarze Hose, ein rotes, glänzendes Polohemd und rote Schuhe. Er gibt sich cool bis in die Spitzen der zurückgegelten Haare. Nur das Zucken um die Augen deutet an, dass der Mann doch gelegentlich unter Hochspannung stehen könnte.
Vincenzo hat ein paar Leute dabei. Sie achten darauf, dass niemand gefolgt ist und folgen wird. In seinem Auto geht es um viele Ecken und durch schmale Gassen zu einer unscheinbaren Fassade, eingerahmt von zweistöckigen Wohnhäusern und Garagen. Ein Schild an der Tür verweist auf einen Zubehörhandel für Zahntechniker. Dahinter befindet sich eine karg möblierte Wohnung. Sie wirkt unbenutzt. Im Eingangsraum stehen ein Tisch und vier Stühle, eine Schrankwand mit ein paar Flaschen Schnaps und ein Bild von "Scarface", dem Drogenboss aus dem gleichnamigen Film, dargestellt von Al Pacino.
Vincenzo sagt, er sei seit sieben Jahren im Kokaingeschäft. Er stamme aus einer alten 'Ndrangheta-Familie und habe den Job als Logistiker bekommen, weil er smart sei, eine kaufmännische Ausbildung habe und Verwandte in Südamerika. Als sie ihn fragten, ob er den Job annehme, so berichtet er, habe er sofort Ja gesagt. "Ich war froh, dass ich keine blutigen Taten begehen musste", sagt Vincenzo, keine Morde, keine Überfälle. Die Bosse stellten eine Bedingung: Er selbst dürfe nie Kokain nehmen. "Sonst würde ich meine Ehre verlieren", sagt er. Und das ist in Mafia-Kreisen lebensbedrohlich.
Das Prinzip des Drogenimports, so Vincenzo, sei ziemlich simpel. Meist wartet er, bis genug Bestellungen der verschiedenen Clans eingegangen sind. 200 bis 300 Kilogramm sollten es schon sein, lieber bestellt er 500 bis 1000 Kilo. Dann fliegt einer seiner Leute zu den Verwandten nach Südamerika, und Vincenzo schickt das Geld. "Offiziell zahlen wir Rechnungen für Möbel oder Maschinen", sagt er, denn die Buchhaltung müsse sauber bleiben. Mitunter werde das Drogengeld auch als Spende getarnt, etwa für ein Hilfsprojekt im Urwald. Manchmal wollen die Verkäufer Waffen statt Geld. "Kein Problem", sagt Vincenzo und deutet Richtung Adria. Auf der anderen Seite des Meeres, auf dem Balkan, gebe es genug.
Die Beziehungen nach Südamerika seien ausgezeichnet, sagt Vincenzo. Die "fratellanza", die Bruderschaft, garantiere günstige Preise und beste Qualität. Sie überwache Verpackung und Verschiffung in Südamerika, den Weg über europäische Häfen wie Hamburg, Rotterdam oder Antwerpen bis in die geheimen Lager in Kalabrien. Vincenzo: "Die Kette ist lückenlos, die Transportwege sind verlässlich." Wenn doch mal eine Ladung auffliege, dann "war das Schmiergeld zu niedrig".
1200 Euro bezahlt Vincenzo in Venezuela oder Peru für ein Kilo Kokain, 17 000 Euro hat es ihn gekostet, wenn es in Kalabrien ankommt. "Am meisten geht für die Bestechung von Beamten drauf", sagt er. Für 27 000 bis 32 000 Euro lande das Kilo unverschnittenes Kokain dann auf dem Großmarkt.
Mit jeder Lieferung wird der Clan somit um Millionen reicher. Der schwierigste Teil seines Jobs, erklärt Vincenzo, sei deshalb, zu wissen, "wie ich das Geld anlege". Doch an fähigen Geschäftsleuten herrscht inzwischen kein Mangel mehr. Dank der Drogenmillionen konnten die Kinder der Mafiosi längst die besten Schulen genießen, sie sind Juristen, Steuerberater, Banker und Ärzte. Sie betreiben die Geldwäsche auf höchstem Niveau.
Während die Cosa Nostra in den neunziger Jahren unter dem Druck von Ermittlungen an Macht verloren habe, so das BKA, sei die 'Ndrangheta so stark wie nie. Die Organisation habe ihren kriminellen Einfluss ausgebaut und etwa in der Lombardei und im Piemont die Chance genutzt, "sich auf unblutige Weise an die Stelle der vorher existierenden Gruppen sizilianischer Herkunft zu setzen".
Die 'Ndrangheta investiere in Aktien und Immobilien. "Für diese Zwecke werden oft Personen, die keinerlei Vorstrafen haben und nie kriminell in Erscheinung getreten sind, eingesetzt, sehr häufig sind es Finanzexperten, die in der Lage sind, komplexe Transaktionen durchzuführen und nicht selten Off-shore-Kanäle benutzen", zitiert das BKA italienische Quellen.
Zu den drei mächtigsten Clans in der Bundesrepublik zählt das BKA:
‣ Farao. Der Clan stammt aus Cirò und ist überwiegend in Baden-Württemberg und Hessen vertreten. Zwei Stuttgarter Restaurants, in denen häufig Prominente aus Wirtschaft und Politik zu Gast sind, sollen von "wichtigen Mitgliedern der 'Ndrangheta" geführt werden;
‣ Carelli. Trotz zahlreicher Festnahmen Ende der neunziger Jahre gilt der Clan aus Corigliano Calabro, der hauptsächlich in Bayern aktiv ist, immer noch als mächtig. Damals war in Kempten der Killer Basile verhaftet worden;
‣ Romeo-Pelle-Vottari. Sechs Angehörige des Clans wurden im August 2007 Opfer des Blutbads von Duisburg. Der Haupttäter, Giovanni Strangio vom rivalisierenden Strangio-Nirta-Clan, wurde dafür unlängst in Locri zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Laut BKA führen die Clans aus San Luca 55 Restaurants in Sachsen, Thüringen und im Ruhrgebiet. Anfang Februar verhaftete die Polizei in der Oberhausener Pizzeria "La Cucina" das international gesuchte Clan-Mitglied Bruno Pizzata, den italienische Medien den "König der Drogenhändler" nennen.
Männer wie Pizzata, 52, braucht es, damit das Kokain nach Deutschland kommt. In der arbeitsteiligen Welt der 'Ndrangheta sind sie die Zwischenhändler, organisieren den Transport des Stoffs von Kalabrien in die Orte des Verkaufs.
Antonio ist so ein Zwischenhändler. Er führt an der tyrrhenischen Küste ein Fischrestaurant mit Blick aufs Meer. An den Wänden seines Lokals hängen goldgerahmte Bilder. "Das alles", sagt er und beschreibt mit dem Arm einen Halbkreis, "habe ich der 'Ndrangheta zu verdanken."
Antonio sagt, er sei ein Freund von Vincenzo. Mit den Südamerikanern gebe es eine klare Geschäftsgrundlage. "Wir zahlen immer im Voraus, und wenn sie nicht liefern, bringen wir sie um."
In so einem unerfreulichen Fall, sagt Antonio, führen ein paar nette italienische Familien in den Urlaub nach Südamerika. Und während der Ferientage verschwänden die Männer für eine Weile und erledigten den Job. Ermittler, die sich von Amts wegen mit den Drogen-Deals der Mafia beschäftigen, halten so etwas nicht für Prahlerei. Es ist tödlicher Ernst.
Antonio liefert oft nach Deutschland, das Geschäft beschreibt er so: Der Kunde bestellt, erhält eine Probe und zahlt die Hälfte an. Dann werde der Stoff in Autos eingeschweißt und über die Alpen gebracht. Antonio bevorzugt Wagen der gehobenen Klasse: "Die haben mehr Raum für Kokainverstecke und fallen im Straßenverkehr wenig auf."
Antonio verrät nichts, was Nicola Gratteri nicht wüsste. Gratteri ist der Anti-Mafia-Staatsanwalt von Reggio Calabria. Die Schwäche des Staats, so sieht es auch der Ankläger, ist die Stärke der 'Ndrangheta. Die Paten vermitteln Jobs, helfen bei Behördenärger und rekrutieren aus dem Heer der Arbeits- und Hoffnungslosen ihren Nachwuchs. Und die Polizei sei wegen der engen verwandtschaftlichen Verflechtungen ohnehin unterwandert, da macht sich Gratteri nichts vor.
Auch wenn die Staatsanwaltschaft in jüngster Zeit einige nennenswerte Erfolge verbuchen konnte, die Zukunft sieht Gratteri so düster wie das Büro, in dem er am liebsten bei geschlossenen Jalousien empfängt. "Solange die Menschheit existiert, wird es auch die 'Ndrangheta geben", vertraute er dem US-Konsul aus Neapel an.
Die Prognose könnte schon allein deshalb zutreffen, weil sich die Verbrecherorganisation den Verhältnissen stets geschmeidig anpasst. "Bis Ende der neunziger Jahre", sagt Carlo nach einem zweiten Cappuccino in dem bayerischen Lokal, "haben wir 75 Prozent unserer Gewinne mit Kokain gemacht." Weil der Stoff immer weniger einbringe und der Druck der Polizei zunehme, müssten neue Geschäftsfelder eröffnet werden. "Wir wollen an die Quelle der staatlichen Aufträge und Subventionen gehen, in die Politik", sagt Carlo.
Wie die 'Ndrangheta das anstellt, zeigt ein Fall, der 2010 aufflog: Italiener, die in Deutschland leben, haben in ihrer Heimat Wahlrecht. Mitglieder des Farao-Clans waren deshalb 2008 mit Koffern voller Bargeld durch Baden-Württemberg gereist und hatten Landsleuten ihre Stimme für die Parlamentswahl abgekauft.
Auf diese Weise soll Nicola Di Girolamo, 51, von der Berlusconi-Partei PDL in den römischen Senat gelangt sein. Anfang 2010 wurde er verhaftet: Er soll der 'Ndrangheta geholfen haben, mit Hilfe von Strohmännern in italienischen Telefongesellschaften rund zwei Milliarden Euro zu waschen.
Laut Auskunft seines Anwalts Carlo Taormina hat sich Di Girolamo mittlerweile mit der Justiz geeinigt: Er geht fünf Jahre ins Gefängnis und zahlt fünf Millionen Euro an den Staat.
In den Girolamo-Akten taucht der Name jenes Stuttgarter Prominenten-Wirts auf, der dem Farao-Clan zugerechnet wird. Die Aktivitäten des Signore füllen diverse Ermittlungsberichte beim Bundeskriminalamt.
Carlo unterbricht mitten im Satz, blinzelt, rückt den Stuhl beiseite und schüttelt die rechte Hand, als wollte er die tiefstehende Sonne wie eine Fliege verscheuchen. Für einen Moment blitzt ein Diamant auf seinem goldenen Ring auf, dann setzt Carlo seine Ausführungen fort: "Ich bin ein ,illuminato'", sagt er mit italienischem Akzent, ein Erleuchteter. In Mafia-Kreisen wird zwischen "illuminati" und "manovali" unterschieden, zwischen Erleuchteten und Handlangern. Der Diamant ist Zeichen seines hohen Rangs.
Carlo, so hatte es in Süditalien geheißen, sei der Herr des Kokainhandels in Deutschland. Und daran lässt er an diesem Nachmittag auch keinen Zweifel. "Im Sommer oder zu Silvester, wenn die Nachfrage am größten ist, bringen wir alle paar Tage eine Tonne Kokain her", sagt Carlo. Zwar wisse er immer, was in der Szene los sei, aber persönlich fasse er den Stoff nicht an, die Finger sollen sich andere schmutzig machen. So sieht es die Arbeitsteilung zwischen Erleuchteten und Handlangern vor.
Das Bundeskriminalamt (BKA) hat die 'Ndrangheta - so heißt die Mafia in Kalabrien - schon lange im Visier. Es ist jene Organisation, die für fast alle spektakulären Mafia-Taten der vergangenen Jahre auf deutschem Boden verantwortlich ist.
Giorgio Basile zum Beispiel, in Mülheim an der Ruhr aufgewachsen und bis zu seiner Festnahme 1998 an rund 30 Morden beteiligt, war ein 'Ndrangheta-Mann. Das Kommando, das 2007 in einer Duisburger Pizzeria sechs Menschen tötete, kam aus dem Mezzogiorno. Und auch die sieben Mafiosi, die Anfang 2011 der Polizei in Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen ins Netz gingen, gehörten zu jenem Syndikat, das Experten für das bedeutendste Kokainkartell der Welt halten. Deutschland, heißt es in einem internen BKA-Bericht, sei als "Transit- und Organisationsland" eine wichtige Drehscheibe im europäischen Kokainhandel.
Giorgio Basile |
Einen amtierenden Mafioso für ein Gespräch zu treffen ist ein zäher Prozess. Es braucht dazu Kontaktleute, einen Türöffner, viel Zeit und Geduld. Und es hilft, in Kalabrien aufgewachsen zu sein.
Francesco Sbano, 48, ist in Paola geboren, einer kleinen Stadt am Thyrrhenischen Meer, in der er schon als Junge Fußball spielte mit den Kindern der Mafiosi. Er hat Kommunikation und Fotografie studiert und sich mit dem Schicksal seiner Heimat, der die 'Ndrangheta ihren blutigen Stempel aufgedrückt hat, künstlerisch auseinandergesetzt.
Francesco Sbano
Sbano näherte sich peu à peu dem Syndikat; er porträtierte die abgeschiedenen Dörfer Kalabriens, produzierte die Musik der 'Ndrangheta. Sbano kennt die Menschen - und die Menschen kennen ihn.
Während etlicher Vorgespräche hatte die 'Ndrangheta abgewogen, welches Risiko sie durch den Kontakt zur Presse eingeht. Dass sich Mafiosi nun an die Öffentlichkeit wagen, glaubt Sbano, liege daran, dass sie sich so stark fühlen: "Sie wollen den Mythos der Unbesiegbarkeit nähren."
Trotzdem ließ Carlo, der Erleuchtete, die erste Verabredung in Deutschland platzen. Er wollte sich in Kalabrien rückversichern. Beim zweiten Mal verschob er mehrfach den Treffpunkt. Als er endlich in dem Café erschien, ließ er sich als Erstes ein Empfehlungsschreiben zeigen, ausgestellt in Italien. Er las sorgfältig. Dass er "Auskunft erteilen" dürfe, soweit die Geschäfte nicht gefährdet würden.
"Ich spreche Deutsch besser als Italienisch", gesteht Carlo, seit 30 Jahren lebt er in der Bundesrepublik. Er trägt ein schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Slipper. Feiner Stoff, italienische Eleganz. Schon mit 18 Jahren, erzählt er, sei er getauft worden.
Er meint das geheime Ritual, mit dem er in die "Onorata Società" aufgenommen wurde - die "ehrenwerte Gesellschaft", wie sich die Mafia nennt. Sein Onkel hatte ihn eingeführt, so ist es meistens in diesen Kreisen, deren Zusammenhalt auf Blutsverwandtschaft beruht und die deshalb kaum Verräter kennen. In Italien werden die Verräter "pentiti" genannt, Reuige. Es sind Mafia-Angehörige, die nach ihrer Festnahme die Omertà, das Schweigegelübde, brechen und auspacken. Sie werden Kronzeugen der Staatsanwaltschaft. Laut einer Statistik der italienischen Justiz gab es bis 2008 etwa 1000 pentiti der sizilianischen Cosa Nostra und 2000 der Camorra in Neapel - aber nur 42 der kalabrischen 'Ndrangheta. Ein 'Ndranghetisti beschmutzt das Blut seiner Familie nicht durch Verrat.
Carlo kam dereinst für einen Ferienjob nach Deutschland, arbeitete in einer bayerischen Fabrik. Zurück in seiner Heimat schwängerte er die Cousine eines Mafioso. Er wollte sie nicht heiraten, was in der Familie des Mädchens nicht gut ankam - und was Carlo veranlasste, wieder über die Alpen zu verschwinden. Außer Gefahr war er allerdings erst zwei Jahre später, als der Mafioso starb. "So bin ich der Blutrache entgangen", weiß Carlo.
Wenn hohe Bosse der 'Ndrangheta nach Deutschland kamen, diente Carlo ihnen als Chauffeur. Er kutschierte sie durch Bayern und Baden-Württemberg, ins Ruhrgebiet, bis nach Bremen und Hamburg, "in die Häfen, in denen das Kokain ankommt". Er übersetzte, erledigte Aufträge, gewann ihr Vertrauen.
Die 'Ndrangheta, sagt Carlo, habe über ganz Deutschland ein dichtes Netz gesponnen. Der Hamburger Hafen sei eines der großen Einfallstore für das aus Südamerika stammende Kokain. "Wir arbeiten wie eine Handelsfirma", erklärt er. "Wir kaufen die Ware, lassen sie verpacken, wir beauftragen Speditionen für den Transport und zahlen den Zoll." Damit ist das Schmiergeld für korrupte Zöllner gemeint. Es wird von den Speditionen an die entscheidenden Beamten weitergeleitet: "Die Spediteure kennen sich aus in den Häfen."
Über die Jahre arbeitete sich Carlo in die Spitze der deutschen Organisation empor. Heute wird kaum eine wichtige Versammlung abgehalten, bei der er nicht mit am Tisch sitzt. "Die Sitzungen sind das Instrument schlechthin der 'Ndrangheta", sagt Carlo. Alles werde persönlich besprochen. Und wenn er doch mal geschäftlich telefonieren müsse, benutze er eine Prepaid-Karte. Nach einem Gespräch schmeiße er sie weg. So hinterlasse er keine Spuren.
"Unsere Kunden in Deutschland sind meistens Zuhälter und eine große Rockerbande", sagt Carlo. "Wir liefern in Einheiten von 50 bis 70 Kilogramm, oft in Bordelle." Was dort mit dem Kokain geschehe, wisse er nicht. Die Mafiosi hüten sich, durch gewöhnliche Straftaten Risiken einzugehen. "Wir dealen nicht auf Deutschlands Straßen", betont Carlo.
Naturgemäß lässt sich nicht alles überprüfen, was der Mann aus Kalabrien im Laufe eines Nachmittags in einem oberbayerischen Lokal berichtet. Welchen Anteil die 'Ndrangheta an der Organisierten Kriminalität in Deutschland generell hat, ist hingegen gut dokumentiert.
Die kalabrische Mafia, heißt es in dem BKA-Bericht, habe "fest verwurzelte Strukturen" in der Bundesrepublik aufgebaut, mit "Führungspersönlichkeiten einzelner Clans oder auch Killern". Laut "Jane's Intelligence Review", einer britischen Zeitschrift für Führungskräfte in Militär und Sicherheitsdiensten, ist Deutschland der wichtigste Stützpunkt der 'Ndrangheta in Europa.
Dabei war die Organisation in ihren Ursprüngen nur eine lose Verbindung bäuerlicher Clans. Es ging um die Beherrschung ihrer Dörfer, um Schutzgelder, Überfälle und um öffentliche Aufträge. Bekanntheit über die Landesgrenzen hinaus erwarben die Clans in den siebziger Jahren: Insbesondere jene aus der Region um San Luca in den Bergen des Aspromonte begannen damals, Reiche und deren Angehörige zu kidnappen.
San Luca
So war der Millionärsenkel John Paul Getty III. 1973 fünf Monate lang in der Gewalt von Entführern der 'Ndrangheta. Die Lösegelder, im Fall Getty 2,7 Millionen Dollar, dienten als Startkapital für den Einstieg in den internationalen Kokainmarkt. Der Drogenhandel versprach viel höhere und vor allem regelmäßige Gewinne. Doch dazu musste eine straffere, effizientere Organisationsform aufgebaut werden.
John Getty III
Die Experten des Bundeskriminalamts haben den aktuellen Aufbau der 'Ndrangheta studiert: Das Syndikat sei "nicht mehr horizontal in einzelne Familienclans, sondern ähnlich der Cosa Nostra pyramidenförmig strukturiert", heißt es im BKA-Bericht. So habe sich die 'Ndrangheta in der Provinz Reggio Calabria in drei sogenannte mandamenti aufgeteilt. Über allem stehe die sogenannte Provinzialkommission. Sie wählt jedes Jahr einen "Capo crimine", eine Art Vorstandsvorsitzenden. Erkenntnisse wie diese haben die Ermittler aus der Operation "il crimine" der Staatsanwaltschaft in Reggio Calabria ziehen können. In deren Mittelpunkt stand Domenico Oppedisano, ein 81 Jahre alter Mann aus Rosarno, einem Städtchen an der tyrrhenischen Küste.
Domenico Oppedisano
Oppedisano lebte unauffällig wie ein Bauer. Täglich knatterte er mit seinem Ape, jenem landestypischen, dreirädrigen Gefährt, in seine Orangenplantage. In Wahrheit aber war Oppedisano der Capo crimine, der Boss der Bosse. Er dirigierte ein weltweites Verbrechersyndikat. Aus Sicherheitsgründen besprach er seine Geschäfte nur im Orangenhain. Sein Pech war, dass die italienische Polizei Mikrofone in den Bäumen versteckt hatte.
Am 13. Juli 2010 schlug die Staatsanwaltschaft in ganz Italien zu. Neben Oppedisano wurden rund 300 seiner Gefolgsleute verhaftet, darunter Politiker, Unternehmer, Beamte. Die Polizei beschlagnahmte Werte in Höhe von rund einer Milliarde Euro. Der Clan, so die Ermittler, habe große Teile der Drogengelder in Firmen und Immobilien investiert, unter anderem für die Expo 2015 in Mailand.
Im November wurde Domenico Oppedisano in Mailand mit 109 weiteren Angeklagten verurteilt, unter ihnen Bruno Nesci, laut Ermittlern Oppedisanos Capo in Singen am Bodensee. Zwar agiert die 'Ndrangheta weltweit, alle wichtigen Entscheidungen fallen aber in Kalabrien. In Zeiten der Globalisierung funktioniert der Drogenhandel denn auch vergleichsweise anachronistisch. Bevor das Kokain aus Südamerika über den europäischen Kontinent verteilt wird, landet es erst einmal in Süditalien. In ihrer Heimat fühlen sich die Clans sicher. Sie betrachten sie als ihr Territorium.
Die Regierung in Rom habe "kaum Kontrolle über das Land", der Einfluss der 'Ndrangheta dagegen reiche bis ins römische Parlament, kabelte der US-Konsul in Neapel 2008 ans State Department in Washington. "Wenn Kalabrien nicht zu Italien gehören würde, müsste man es als einen ,failed state' bezeichnen", schrieb der Diplomat. "Failed state", gescheiterter Staat, dieser Begriff fällt in der Regel bei Ländern wie Somalia, Afghanistan oder Haiti.
Doch in der Tat scheint der Begriff nicht abwegig. Gioia Tauro zum Beispiel ist eine Stadt an der tyrrhenischen Küste mit einem der größten Containerhäfen des Mittelmeers. Strategisch günstig an der Route zwischen Suez-Kanal und der Straße von Gibraltar gelegen, dient Gioia Tauro als Knotenpunkt für 60 Häfen im Handel zwischen Europa und Fernost.
Zwei Zöllner, die im Rahmen des internationalen Anti-Terror-Einsatzes in Gioia Tauro im Dienst waren, mussten dort 2008 abberufen werden - so berichtet eine US-Diplomatin. Der eine Beamte war angeschossen worden, sein Kollege hatte einen Brief mit zwei Kugeln erhalten, der an seine Privatanschrift adressiert war.
In der Region um Gioia Tauro zählen die Piromalli-Molé zu den mächtigsten 'Ndrangheta-Clans. Sie sind Großhändler im internationalen Kokain-Business. Sie haben Verwandte in Südamerika, und sie haben ihre Verbindungsleute in Deutschland, solche wie Carlo. Der Mann, der für den Piromalli-Molé-Clan das Rauschgift über den Atlantik bringt, nennt sich Vincenzo. Es hat Monate gedauert, Vincenzo Bonasorta zu treffen. Oft kam etwas dazwischen. Einmal hatte die Polizei im Hafen von Gioia Tauro gerade eine Tonne Kokain sichergestellt, ein anderes Mal war er kurzfristig zu einer Hochzeit geladen. Strategische Allianzen zwischen Familien werden bei der 'Ndrangheta noch heute durch Heirat geschmiedet. Zudem ist eine Hochzeitsfeier immer eine Gelegenheit, unauffällig wichtige Leute zu treffen und Geschäftliches zu besprechen.
Der 'Ndrangheta-Clan der Piromalli-Molé
Vincenzo schlägt als Treffpunkt die Piazza der Hafenstadt vor. Der Platz wird von Polizeikameras überwacht, aber das scheint ihn nicht zu stören. Vincenzo ist Mitte dreißig und von eher kleiner Gestalt. Er trägt eine enge schwarze Hose, ein rotes, glänzendes Polohemd und rote Schuhe. Er gibt sich cool bis in die Spitzen der zurückgegelten Haare. Nur das Zucken um die Augen deutet an, dass der Mann doch gelegentlich unter Hochspannung stehen könnte.
Vincenzo hat ein paar Leute dabei. Sie achten darauf, dass niemand gefolgt ist und folgen wird. In seinem Auto geht es um viele Ecken und durch schmale Gassen zu einer unscheinbaren Fassade, eingerahmt von zweistöckigen Wohnhäusern und Garagen. Ein Schild an der Tür verweist auf einen Zubehörhandel für Zahntechniker. Dahinter befindet sich eine karg möblierte Wohnung. Sie wirkt unbenutzt. Im Eingangsraum stehen ein Tisch und vier Stühle, eine Schrankwand mit ein paar Flaschen Schnaps und ein Bild von "Scarface", dem Drogenboss aus dem gleichnamigen Film, dargestellt von Al Pacino.
Vincenzo sagt, er sei seit sieben Jahren im Kokaingeschäft. Er stamme aus einer alten 'Ndrangheta-Familie und habe den Job als Logistiker bekommen, weil er smart sei, eine kaufmännische Ausbildung habe und Verwandte in Südamerika. Als sie ihn fragten, ob er den Job annehme, so berichtet er, habe er sofort Ja gesagt. "Ich war froh, dass ich keine blutigen Taten begehen musste", sagt Vincenzo, keine Morde, keine Überfälle. Die Bosse stellten eine Bedingung: Er selbst dürfe nie Kokain nehmen. "Sonst würde ich meine Ehre verlieren", sagt er. Und das ist in Mafia-Kreisen lebensbedrohlich.
Das Prinzip des Drogenimports, so Vincenzo, sei ziemlich simpel. Meist wartet er, bis genug Bestellungen der verschiedenen Clans eingegangen sind. 200 bis 300 Kilogramm sollten es schon sein, lieber bestellt er 500 bis 1000 Kilo. Dann fliegt einer seiner Leute zu den Verwandten nach Südamerika, und Vincenzo schickt das Geld. "Offiziell zahlen wir Rechnungen für Möbel oder Maschinen", sagt er, denn die Buchhaltung müsse sauber bleiben. Mitunter werde das Drogengeld auch als Spende getarnt, etwa für ein Hilfsprojekt im Urwald. Manchmal wollen die Verkäufer Waffen statt Geld. "Kein Problem", sagt Vincenzo und deutet Richtung Adria. Auf der anderen Seite des Meeres, auf dem Balkan, gebe es genug.
Die Beziehungen nach Südamerika seien ausgezeichnet, sagt Vincenzo. Die "fratellanza", die Bruderschaft, garantiere günstige Preise und beste Qualität. Sie überwache Verpackung und Verschiffung in Südamerika, den Weg über europäische Häfen wie Hamburg, Rotterdam oder Antwerpen bis in die geheimen Lager in Kalabrien. Vincenzo: "Die Kette ist lückenlos, die Transportwege sind verlässlich." Wenn doch mal eine Ladung auffliege, dann "war das Schmiergeld zu niedrig".
1200 Euro bezahlt Vincenzo in Venezuela oder Peru für ein Kilo Kokain, 17 000 Euro hat es ihn gekostet, wenn es in Kalabrien ankommt. "Am meisten geht für die Bestechung von Beamten drauf", sagt er. Für 27 000 bis 32 000 Euro lande das Kilo unverschnittenes Kokain dann auf dem Großmarkt.
Mit jeder Lieferung wird der Clan somit um Millionen reicher. Der schwierigste Teil seines Jobs, erklärt Vincenzo, sei deshalb, zu wissen, "wie ich das Geld anlege". Doch an fähigen Geschäftsleuten herrscht inzwischen kein Mangel mehr. Dank der Drogenmillionen konnten die Kinder der Mafiosi längst die besten Schulen genießen, sie sind Juristen, Steuerberater, Banker und Ärzte. Sie betreiben die Geldwäsche auf höchstem Niveau.
Während die Cosa Nostra in den neunziger Jahren unter dem Druck von Ermittlungen an Macht verloren habe, so das BKA, sei die 'Ndrangheta so stark wie nie. Die Organisation habe ihren kriminellen Einfluss ausgebaut und etwa in der Lombardei und im Piemont die Chance genutzt, "sich auf unblutige Weise an die Stelle der vorher existierenden Gruppen sizilianischer Herkunft zu setzen".
Die 'Ndrangheta investiere in Aktien und Immobilien. "Für diese Zwecke werden oft Personen, die keinerlei Vorstrafen haben und nie kriminell in Erscheinung getreten sind, eingesetzt, sehr häufig sind es Finanzexperten, die in der Lage sind, komplexe Transaktionen durchzuführen und nicht selten Off-shore-Kanäle benutzen", zitiert das BKA italienische Quellen.
Zu den drei mächtigsten Clans in der Bundesrepublik zählt das BKA:
‣ Farao. Der Clan stammt aus Cirò und ist überwiegend in Baden-Württemberg und Hessen vertreten. Zwei Stuttgarter Restaurants, in denen häufig Prominente aus Wirtschaft und Politik zu Gast sind, sollen von "wichtigen Mitgliedern der 'Ndrangheta" geführt werden;
Der Clan der Farao - Racheschwüre nach dem Massaker von Duisburg
‣ Carelli. Trotz zahlreicher Festnahmen Ende der neunziger Jahre gilt der Clan aus Corigliano Calabro, der hauptsächlich in Bayern aktiv ist, immer noch als mächtig. Damals war in Kempten der Killer Basile verhaftet worden;
‣ Romeo-Pelle-Vottari. Sechs Angehörige des Clans wurden im August 2007 Opfer des Blutbads von Duisburg. Der Haupttäter, Giovanni Strangio vom rivalisierenden Strangio-Nirta-Clan, wurde dafür unlängst in Locri zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Laut BKA führen die Clans aus San Luca 55 Restaurants in Sachsen, Thüringen und im Ruhrgebiet. Anfang Februar verhaftete die Polizei in der Oberhausener Pizzeria "La Cucina" das international gesuchte Clan-Mitglied Bruno Pizzata, den italienische Medien den "König der Drogenhändler" nennen.
Männer wie Pizzata, 52, braucht es, damit das Kokain nach Deutschland kommt. In der arbeitsteiligen Welt der 'Ndrangheta sind sie die Zwischenhändler, organisieren den Transport des Stoffs von Kalabrien in die Orte des Verkaufs.
Antonio ist so ein Zwischenhändler. Er führt an der tyrrhenischen Küste ein Fischrestaurant mit Blick aufs Meer. An den Wänden seines Lokals hängen goldgerahmte Bilder. "Das alles", sagt er und beschreibt mit dem Arm einen Halbkreis, "habe ich der 'Ndrangheta zu verdanken."
Antonio sagt, er sei ein Freund von Vincenzo. Mit den Südamerikanern gebe es eine klare Geschäftsgrundlage. "Wir zahlen immer im Voraus, und wenn sie nicht liefern, bringen wir sie um."
In so einem unerfreulichen Fall, sagt Antonio, führen ein paar nette italienische Familien in den Urlaub nach Südamerika. Und während der Ferientage verschwänden die Männer für eine Weile und erledigten den Job. Ermittler, die sich von Amts wegen mit den Drogen-Deals der Mafia beschäftigen, halten so etwas nicht für Prahlerei. Es ist tödlicher Ernst.
Antonio liefert oft nach Deutschland, das Geschäft beschreibt er so: Der Kunde bestellt, erhält eine Probe und zahlt die Hälfte an. Dann werde der Stoff in Autos eingeschweißt und über die Alpen gebracht. Antonio bevorzugt Wagen der gehobenen Klasse: "Die haben mehr Raum für Kokainverstecke und fallen im Straßenverkehr wenig auf."
Antonio verrät nichts, was Nicola Gratteri nicht wüsste. Gratteri ist der Anti-Mafia-Staatsanwalt von Reggio Calabria. Die Schwäche des Staats, so sieht es auch der Ankläger, ist die Stärke der 'Ndrangheta. Die Paten vermitteln Jobs, helfen bei Behördenärger und rekrutieren aus dem Heer der Arbeits- und Hoffnungslosen ihren Nachwuchs. Und die Polizei sei wegen der engen verwandtschaftlichen Verflechtungen ohnehin unterwandert, da macht sich Gratteri nichts vor.
Auch wenn die Staatsanwaltschaft in jüngster Zeit einige nennenswerte Erfolge verbuchen konnte, die Zukunft sieht Gratteri so düster wie das Büro, in dem er am liebsten bei geschlossenen Jalousien empfängt. "Solange die Menschheit existiert, wird es auch die 'Ndrangheta geben", vertraute er dem US-Konsul aus Neapel an.
Die Prognose könnte schon allein deshalb zutreffen, weil sich die Verbrecherorganisation den Verhältnissen stets geschmeidig anpasst. "Bis Ende der neunziger Jahre", sagt Carlo nach einem zweiten Cappuccino in dem bayerischen Lokal, "haben wir 75 Prozent unserer Gewinne mit Kokain gemacht." Weil der Stoff immer weniger einbringe und der Druck der Polizei zunehme, müssten neue Geschäftsfelder eröffnet werden. "Wir wollen an die Quelle der staatlichen Aufträge und Subventionen gehen, in die Politik", sagt Carlo.
Wie die 'Ndrangheta das anstellt, zeigt ein Fall, der 2010 aufflog: Italiener, die in Deutschland leben, haben in ihrer Heimat Wahlrecht. Mitglieder des Farao-Clans waren deshalb 2008 mit Koffern voller Bargeld durch Baden-Württemberg gereist und hatten Landsleuten ihre Stimme für die Parlamentswahl abgekauft.
Auf diese Weise soll Nicola Di Girolamo, 51, von der Berlusconi-Partei PDL in den römischen Senat gelangt sein. Anfang 2010 wurde er verhaftet: Er soll der 'Ndrangheta geholfen haben, mit Hilfe von Strohmännern in italienischen Telefongesellschaften rund zwei Milliarden Euro zu waschen.
Laut Auskunft seines Anwalts Carlo Taormina hat sich Di Girolamo mittlerweile mit der Justiz geeinigt: Er geht fünf Jahre ins Gefängnis und zahlt fünf Millionen Euro an den Staat.
In den Girolamo-Akten taucht der Name jenes Stuttgarter Prominenten-Wirts auf, der dem Farao-Clan zugerechnet wird. Die Aktivitäten des Signore füllen diverse Ermittlungsberichte beim Bundeskriminalamt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen