Nachdem Roberto Saviano in "Gomorrha" Namen, Praktiken und Beziehungen der neapolitanischen Mafia beschrieb, schworen die Bosse Rache. Der Tatsachenroman wurde zum Welterfolg, Saviano unter Polizeischutz gestellt. Fluglinien weigern sich, ihn zu befördern, Restaurants lassen vor seinem Besuch ihre Räume auf Bomben untersuchen. Ständig muss der Autor aus Süditalien sein Versteck wechseln, ohne Leibwächter darf er nicht auf die Straße. Jetzt, sieben Jahre später, widmet Saviano sich der Haupteinnahmequelle des organisierten Verbrechens. Das Buch ist seinen Beschützern gewidmet, den 38.000 gemeinsam verbrachten Stunden, "und denen, die noch zu verbringen sind. Wo auch immer." Das Gespräch wurde am Telefon geführt.
Frage:
Sie können nie ohne Eskorte ausgehen. Wie konnten Sie überhaupt recherchieren?
Saviano:
Durch den ständigen Polizeischutz in den vergangenen Jahren habe ich viele Ermittler kennengelernt und Zugang zu Akten, Verhörprotokollen und Zeugen bekommen. So konnte ich die Dynamiken der Drogenkartelle studieren und sogar die Bosse selbst treffen. Es klingt paradox, aber je stärker ich abgeschirmt wurde, desto näher war ich am Geschehen dran. Was mir nicht mehr möglich ist, ist es auf die Straße zu gehen und mich unter die Leute zu mischen.
Frage:
Sie sind den Weg des Kokains nachgereist, von der Gewinnung bis zum Gebrauch.
Saviano:
Ich habe teilweise verdeckt ermittelt, mit falscher Identität. Aber ich habe nicht einen auf Johnny Depp in "Donnie Brasco" gemacht. Ich will eine Welt zeigen, die jeder kennt, keine Exotik. Mexiko-Stadt soll Reggio Calabria ähneln, Monterrey wie Mailand wirken, Bogotá wie London. Damit jeder versteht, wie eng die Geschichten, die ich erlebt habe, mit unserem Alltag verbunden sind.
Frage:
Sie sagen: Jeder Mensch kennt eine Person, die kokst. Was macht die Droge so unwiderstehlich?
Saviano:
Kokain wird nicht als Droge wahrgenommen. Es wird als eine Art Aperitif gesehen, als Mittel gegen Müdigkeit und Erschöpfung. Der LKW-Fahrer nimmt es, um weiter zu fahren, der Koch, um schneller zu arbeiten, der Chirurg, um länger zu operieren. Dabei lässt Koks dein Herz explodieren, es macht dich impotent und neurotisch, aber das merken die Menschen nicht. Koks ist nicht wie Heroin, das dich völlig kaputt macht, nicht wie Ecstasy, das dich die Nacht durchtanzen lässt, nicht einmal wie ein Joint, der dich fröhlich und träge macht. Kokain ist eine Droge, die deinem Leben mehr Leben gibt – was du am Ende mit dem Tod bezahlst.
Roberto Saviano |
Frage:
Haben Sie schon mal gekokst?
Saviano:
Nein, aber nicht aus moralischen Gründen, eher aus chauvinistischen. In meinem Heimatort wurde es als unehrenhaft angesehen, Drogen zu nehmen. Das galt als unmännlich. Jetzt bereue ich fast, dass ich es nie ausprobiert habe.
Frage:
Nicht einmal zu Recherchezwecken?
Saviano:
Für die Arbeit an meinem Buch wäre das sicherlich hilfreich gewesen. Aber so wichtig war es mir dann doch wieder nicht.
Frage:
Wie kommt das Kokain zu uns?
Saviano:
Der Weg führt über Südamerika nach Afrika, von dort nach Europa. Die wichtigsten europäischen Häfen sind in Italien, Spanien, Holland und Deutschland. Die deutschen Häfen sind aus Sicht der Drogenkartelle die besten, denn dort wird am wenigsten kontrolliert. Rostock spielt zum Beispiel eine wichtige Rolle.
Frage:
Rostock?
Saviano:
Ja. Ihr unterschätzt das Problem dramatisch. Der Drogenhandel ist bei euch kein Thema, weder in den Medien noch im Wahlkampf. Dabei werden in Deutschland jeden Tag große Mengen umgeschlagen. Und eure Polizei hat nicht die juristische Handhabe, um dagegen vorzugehen. Die Mafia ist in Deutschland absurd sicher.
Frage:
Sie sind für die Legalisierung?
Saviano:
Das ist eine moralisch fragwürdige Idee, ich weiß. Aber wir sprechen hier von einem Markt, der mehr als 400 Milliarden Dollar Umsatz pro Jahr macht. Eine internationale Legalisierung gäbe den Staaten die Möglichkeit, die Droge zu bekämpfen. Sie könnten Kampagnen wie die gegen Zigaretten starten: Statt "Rauchen tötet" schreiben wir ,"Kokain tötet". Außerdem nähmen wir der Mafia ihre wichtigste Geldquelle.
Frage:
Stimmt es eigentlich, dass im Kokain-Handel Geld nicht gezählt, sondern gewogen wird?
Saviano:
Kein anderes Geschäft ist so lukrativ. Kokain ist Kapitalismus pur. Der Erfolg der Droge ist keine Erzählung von Banden, die sich gegenseitig bekriegen, es ist die Geschichte eines überlegenen Wirtschaftssystems. Die Gewinne sind gigantisch. Ein Beispiel: Wenn Sie Anfang 2012 1000 Euro in Apple investiert hätten, dann würden Sie heute 1600 haben. Aber wenn Sie 1000 Euro in Kokain investiert hätten, dann besäßen Sie heute 182.000. Hundertmal so viel wie bei einer Investition in die Rekordaktie des Jahres.
Frage:
Und was machen die Bosse mit dem ganzen Geld?
Saviano:
Der Nabel dieser Welt ist Mexiko. Dort wohnen die Bosse tatsächlich in dicken Villen, um ihren Reichtum und ihre Macht zu demonstrieren. Sie feiern Feste mit Hunderten Prostituierten, manche halten sich sogar Tiger im Garten. Bei uns ist das anders. Die italienischen Bosse sind die letzten Calvinisten des Westens. Sie bringen große Opfer: Die meiste Zeit leben sie in einem Loch unter der Erde, für den Erfolg verzichten sie auf jeden Luxus. Es ist schon grotesk: Das Land, das meist als chaotisch und ohne Regeln beschrieben wird, bringt die disziplinierteste Organisation der Welt hervor.
Frage:
Fördern Sie mit Ihren Büchern nicht einen gefährlichen Kult?
Saviano:
Ich muss zugeben, dass die Mafia eine gewisse Faszination auf mich ausübt. Aber es wäre ein Fehler, dieser Anziehungskraft zu verfallen. Die Mafiosi konstruieren sich ein Image als Ehrenmänner, die nach einem Kodex leben, viel Geld haben und keine Angst vor dem Tod. Genau diesen Mythos gilt es zu demontieren: Ich muss ihre Lächerlichkeit zeigen, ihre Angst, ihr erbärmliches Leben. Ich glaube fest daran, dass man die Dinge verändern kann, indem man über sie schreibt. Das ist meine Obsession.
Frage:
Sie berichten, wie ein alter Boss jungen lateinamerikanischen Aspiranten einen Vortrag über das Wesen der Mafia hält. Was ist die Lektion?
Saviano:
Er erklärt seinen Jüngern die Weltanschauung der Organisation: Macht musst du am Ende immer bezahlen – entweder mit dem Tod oder mit Gefängnis. So etwas wie Glück existiert nicht. Alles, was du willst, musst du dir nehmen. Recht ist nur eine Person, die gewinnt. Unrecht eine Person, die verliert. Sobald die unrechte Person stärker wird, wird aus Unrecht Recht. Das ist die Moral der Mafia, eine Philosophie der Trostlosigkeit.
Frage:
Ein bisschen hat Sie diese Philosophie offenbar angesteckt.
Saviano:
Die Arbeit an diesem Buch hat mich sehr verändert. Ich habe in den Abgrund geschaut und mich in ein Monster verwandelt. Ich bin so vielen bizarren Personen begegnet. Irgendwann habe ich angefangen, selbst wie ein Mafioso zu denken, allem und jedem zu misstrauen. Es fällt mir schwer, das wieder abzulegen.
Frage:
In Ihrer Danksagung entschuldigen Sie sich bei Ihrer Familie. Wofür?
Saviano:
Sehen Sie, ich kann in meiner Situation immer noch Interviews geben, meiner Arbeit nachgehen. Aber meine Familie kann sich nur noch verstecken, muss an geheimen Orten leben, kann nicht mehr zusammen ausgehen. Das ist meine Schuld. Und dafür entschuldige ich mich, auch wenn das nichts an ihrer Lage ändert. Aber ich will wenigstens deutlich machen, dass ich mir meiner Verantwortung bewusst bin.
Frage:
Das klingt nach Reue. Würden Sie "Gomorrha" noch einmal schreiben?
Saviano:
Auf keinen Fall, das war es überhaupt nicht wert. Dieses Buch hat mein Leben zerstört. Es ist wichtig zu berichten, keine Angst zu zeigen, sich nicht zum Schweigen bringen zu lassen. Aber genauso wichtig ist es, seine Straße zum Glück zu verteidigen. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich die finden soll. Ich lebe ja völlig isoliert von meinen Mitmenschen.
Frage:
Werden Sie jemals wieder ein Bier auf einer Piazza trinken können?
Saviano:
Das hoffe ich sehr. Gerade hat ein Prozess gegen zwei Bosse begonnen, die mich massiv bedroht haben. Wenn sie verurteilt werden, könnte mein Leben vielleicht bald wieder einen anderen Verlauf nehmen.
Frage:
Dann treffen wir uns zum nächsten Gespräch also in einem Restaurant?
Saviano:
Gern. Aber vielleicht besser in Deutschland.
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