Die Italienische Presse berichtete im
Dezember über einen Mafiaboss, der im Tessin Sozialhilfe kassierte, im November
über einen anderen, der bei den SBB in Bellinzona arbeitete. Und im Sommer
sorgte die Frauenfelder ’Ndrangheta-Zelle landesweit für Schlagzeilen. Für John
Noseda (66) gehört das organisierte Verbrechen zum Berufsalltag. Der Tessiner
Generalstaatsanwalt sagt im BLICK-Interview, wo überall die Mafia ihre Finger
im Spiel hat.
Mancini: Sie sind seit Jahrzehnten in der Tessiner Justiz tätig.
Hatten Sie auch mit der Mafia zu tun?
John Noseda: Eigentlich ist die Mafiabekämpfung nicht meine Aufgabe, sondern die der Bundesanwaltschaft. Doch schon in den 70er-Jahren ermittelten wir hier im Tessin gegen die Mafia. Es ging um Entführungen und Mord. Auch wenn die Verbrechen in Italien stattfanden, hier wurde der Erlös gewaschen. In einem Fall war der Mörder sogar ein Schweizer.
Mancini: Wie aktiv ist die Mafia im Tessin?
John Noseda: Seit ich Generalstaatsanwalt bin, gibt es sicher über 100 Fälle, in denen die Mafia eine Rolle spielt. Vor allem geht es um Geldwäsche. Sie treibt aber auch im Bau- und im Gastgewerbe ihr Unwesen, stützt den Drogenhandel. Es gibt Hinweise, dass sie auch hinter Schlepperbanden steckt, die Flüchtlinge ins Land schleusen.
Mancini: Welche
konkreten Erfahrungen haben Sie gemacht?
John Noseda: Es ist nicht leicht, die Mafia festzunageln. Es gab beispielsweise eine Baustelle, auf der ein Arbeiter zu Tode stürzte. Grund waren mangelnde Sicherheitsvorkehrungen. Als wir eintrafen, um zu ermitteln, war der Tatort manipuliert worden. Plötzlich waren da ein Geländer, eine Treppe, ein Sicherheitsgurt, die vorher fehlten. Und das große Schweigen. Keiner der rund 30 Arbeiter sagte aus. Sie hatten Angst um Job und Familie. Diese Omertà spricht eindeutig für die Mafia. Die Arbeiter werden ins Tessin geschafft, untergebracht, ausgebeutet und bedroht. Die Mafia beteiligt sich sogar an Großbaustellen wie Alptransit.
Mancini: Wie geht die
Mafia vor?
John Noseda: Über Tessiner Banken Geld zu waschen, wird zunehmend schwieriger. Also bunkert sie ihr Schwarzgeld woanders. Gibt zum Beispiel eine Bank ihren Standort auf, mietet die Mafia die Räume, nutzt die ehemaligen Bankschließfächer, um heimlich Geld zu deponieren. Immer häufiger beobachten wir, dass sie fiktive Unternehmen gründet: Restaurants, Informatikdienste, Handelsbetriebe. Dort stellt sie Landsleute ein und verschafft ihnen damit eine Aufenthaltsgenehmigung. Sie zahlt Gehälter für Arbeit, die nicht gemacht wird, begleicht Rechnungen, die es nicht gibt. Sie ebnet auch anderen, beispielsweise der osteuropäischen Mafia, den Weg in das Tessiner Rotlichtmilieu. Diese stellt dann das Sicherheitspersonal der Clubs. Das nahm in den letzten zwei, drei Jahren zu.
Mancini: Wie kann man
dem Treiben der Mafia einen Riegel schieben?
John Noseda: Das ist sehr schwer. Besonders nach dem neuen Strafgesetzbuch. Wenn wir einen Verdächtigen als Zeugen nach Komplizen befragen, muss dessen Anwalt anwesend sein. Also werden die Komplizen gewarnt und unsere Arbeit zunichte gemacht. Auch wenn wir sehr gut mit der Bundesanwaltschaft und den Antimafia-Behörden in Italien zusammenarbeiten, ist die Ermittlung sehr schwerfällig.
Mancini: Eine
ernüchternde Antwort. Frustriert Sie das?
John Noseda: Ich halte die Mafia für extrem gefährlich. Sie bildet einen Staat im Staat und untergräbt die Demokratie. Sie nutzt jede Schwachstelle in der Gesellschaft. Wir müssen aufpassen. Wir brauchen mehr kriminalistische Intelligenz. Da sind auch die Gewerkschaften gefragt, die Steuerbehörde, das Konkursamt. Die Kontrolle der Daten muss auf allen Gebieten ausgebaut werden. Das wären die richtigen Instrumente. Man muss sie nur einsetzen wollen.
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