von Sandro Mattioli und Andrea Palladino
Italien hat eine neue Regierung. Aber wie werden noch heute Regierungen gebildet? Wie stark ist die Einflussnahme der Mafia bei Wahlen. Und wer wird als Ministerpräsident geduldet?
In Italiens bettelarmem Süden hat die Mafia heute noch
große politische Macht. Sie könnte bei der anstehenden Wahl 300.000
Stimmen kaufen. Häufig gibt es eine Stimme schon für wenige Euro.
Brancaccio liegt am
östlichen Stadtrand von Palermo, grenzt an einem Ende an die Autobahn,
am anderen ans Mittelmeer. Der lange Sandstrand ist mit Zäunen
verrammelt. Da streunen Hunde, Kot verdreckt den Sand. In Holzbuden, die
mal Badekabinen waren, hausen Arme und Clochards. Stinkende
Rauchschwaden steigen aus ihren Töpfen auf offenen Feuern, und steifer
Schirokko-Wind treibt Mülltüten vor sich her, färbt das Meer grünbraun.
Bladerunner unter südlicher Sonne.
Hinter der
Küstenstraße voller Schlaglöcher dehnen sich verrottete antike Häuser
und moderne Wohnsilos aus, wo Arbeiter, Handwerker, kleine Angestellte
leben. Es gibt viele Arbeitslose und von jeher viel Mafia. Erst kürzlich
starb ein Mafiaboss aus Brancaccio im Kugelhagel – typisch für das
Ringen der Clans um Macht. 1993 hatten die Killer den Pfarrer von
Brancaccio, Don Pino Puglisi, erschossen, der sich gegen die Macht der
Mafiabosse aufgelehnt hatte. (Ich habe im Artikel zuvor darüber berichtet. )Er war Sohn eines Schusters. Bei solchen
Leuten kassierten die Mafiosi Schutzgeld – eine Sondersteuer auf das,
was ohnehin nie reichte. Im Gegenzug gab es Gefälligkeiten, im Viertel
keine Verbrechen und im besten Fall eine Stelle für den Sohn.
Wen scherte es
da, dass die Bosse alle paar Jahre auch verlangten, einen ganz
bestimmten Politiker, einen Gemeinderat oder Abgeordneten für das
Parlament in Rom zu wählen. Denn auch dafür gab es ja immer etwas, mal
ein Paket Pasta, meistens sogar Bargeld.
"Sie haben keine Bildung und keine Hoffnung"
"Im Brancaccio kannst du heute noch eine Wählerstimme für 20 Euro kaufen", sagt Rita Scavione, 54. Sie ist vor 25 Jahren aus Deutschland hergekommen, mit einem Sizilianer verheiratet, hat zwei Kinder.
Rita Scavione
versucht, das schmale Beamtengehalt, das ihr Mann nach Hause bringt, mit
Teilzeitjobs aufzubessern. "Aber den meisten Leuten hier geht es
schlecht. Sie haben keine Bildung und schon gar keine Hoffnung, dass die
Politiker, egal von welcher Partei, daran je etwas ändern werden,"
erklärt sie. Die Regierung ist weit weg im Brancaccio, der Staat ein
Fremdwort.
Unten auf der
Straße knattern Mopeds, auf denen gelangweilte Jugendliche Runden
drehen. Mülltüten häufen sich auf der Straße. Viele Männer stehen vor
der Bar an der Ecke. Ein echtes Einkommen hat hier fast niemand. Ein
Supermarkt wirbt mit grellgelben Schildern "Alles für 50 Cent!", und
Rita sagt: "Mit 50 Euro können die Hausfrauen eine Woche lang ihre
Familie ernähren." Jetzt haben die Italiener ein neues
Parlament gewählt, und das Thema Stimmenkauf der Mafia ist hochaktuell.
"Ein Mann teilte halbe Geldscheine aus"
Umso brutaler war auch die verbale Ohrfeige, die Italiens Regierungschef Mario Monti im laufenden Wahlkampf an Silvio Berlusconi austeilte: "Berlusconi betrieb Stimmenkauf." Das zielte auf die plumpen Wahlversprechungen wie Steuergeschenke, mit denen Berlusconi sich in den letzten Wahlkampfwochen die Wählergunst sichern wollte, aber es hatte auch einen hässlichen Unterton. Mit der Regierungsbeteiligung jedoch wurde es schwierig. Berlusconi hat jedoch einen "guten Deal" vereinbart, nachdem niemand mehr mit ihm arbeiten wollte. Er verzichtet auf ein Amt und wird als Gegenleistung zum Senator auf Lebenszeit ernannt. Damit ist er für die Justizbehörden für immer "unantastbar"! Eine klassische Mafia-Methode, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Stimmenkauf bei Wahlen ist
in Italien traditionell ein Business der Mafia und vor allem im ärmeren
Süden verbreitet. Er sichert Politikern fette Stimmenpakete. Die Mafia
wird mit lohnenden Aufträgen bedient. Steuergelder, die eigentlich in
soziale Einrichtungen, in Straßen, Krankenhäuser und Konjunkturhilfen
fließen sollten, wurden so jahrzehntelang in die Taschen von Mafiaclans
und korrupten Politikern umgeleitet.
Rita Kellner
engagiert sich politisch seit Jahren gegen die Mafia. Einmal hat sie
miterlebt, wie das System funktioniert. "Das war ein Schock", erinnert
sie sich. "Ich habe es mit eigenen Augen gesehen: Ein Mann stand unten
auf der Piazza hinter einem Müllcontainer und teilte Geld aus, halbe
Geldscheine: Die zweite Hälfte bekamen die Leute, wenn sie aus dem
Wahllokal kamen, in der Tasche ein Handy mit einem Foto von ihrem
Wahlzettel als Beweis."
Es wundert Rita
nicht, dass Silvio Berlusconi am Samstag mit einer Wahlkampfkundgebung
ein großes Theater in der Innenstadt von Palermo gefüllt hat: "Er
spricht die Sprache der kleinen Leute." Und die standen bis hinaus auf
die Straße. Eilig hatten Parteihelfer riesige Monitore auf der Piazza
vor dem Theater aufgebaut, wo Neugierige draußen hören durften, was
Berlusconi drinnen von der Bühne rief: Er wolle eine Brücke vom Festland
bauen, Steuern zurückzahlen, und die Krise sei Schuld der Regierung
Monti mit ihrem harten Sparkurs.
"Stimmenkauf erschlägt die Demokratie"
Sizilien kommt
bei den jetzt anstehenden Wahlen, genau wie der Lombardei im Norden,
eine Schlüsselrolle zu: In beiden Regionen könnte das
Mitte-links-Bündnis der Demokratischen Partei – das in Umfragen vorne
liegt – die Mehrheit für die Zweite Kammer, den Senat, verfehlen.
Während im Norden die Chancen für Lega und Volk der Freiheit von
Berlusconi gut stehen, "ist Sizilien ein schwarzes Loch. Mit Umfragen
erreicht man hier nur 40 Prozent", erklärt der römische Politikprofessor
Roberto d'Alimonte. "Die Mafia könnte 300.000 Stimmen schieben", titelt
die Tageszeitung "La Repubblica" am Sonntag – nicht zu unterschätzen
bei einem Wahlvolk von 4,4 Millionen.
"Der
Stimmenkauf erschlägt die Demokratie", warnte der italienische
Journalist und Bestseller-Autor Roberto Saviano ("Gomorrha") aus Neapel
vor wenigen Tagen in seiner Kolumne in der Tageszeitung "La Repubblica".
"Es gibt den kriminellen Stimmenkauf und den Stimmenkauf zur
Beschleunigung der Rechte. Viele Wähler lehnen das inzwischen
grundsätzlich ab. Aber am Ende geben sie ihre Stimme dann doch diesen
Politikern." Sie seien die Abkürzung zu den Gefallen, auf die die Bürger
angewiesen sind, wo der Staat ihre Rechte verweigert.
Die Inselregion
war viele Jahre der feste Sockel für Berlusconis politische Macht in
ganz Italien. Bei den Parlamentswahlen 2001 gewann seine Partei in allen
61 Wahlkreisen der Insel. Er hatte das Erbe der Christdemokraten
angetreten. Die hatten nicht nur jahrzehntelang mit der Mafia gemeinsame
Sache gemacht, sondern teilweise auch Mafiosi in den eigenen Reihen:
Vito Ciancimino, der in den 70er-Jahren Bürgermeister von Palermo war.
Engagement vieler Bürger hat etwas veränder
Berlusconis
Politiker, die nun in Rathäusern und Regionalregierung saßen, waren
vordergründig vorzeigbarer. Aber 2012 mussten auch sie unter dem Druck
von Monti-Regierung und Öffentlichkeit gehen: Der Gouverneur Siziliens,
Salvo Lombardo, und der Bürgermeister der Metropole Palermo, Diego
Cammarata, hatten die öffentlichen Kassen mit Klientelwirtschaft
geleert. Lombardo war auch im Verdacht, die Mafia begünstigt zu haben.
Das Engagement
vieler Bürger wie Rita oder Pfarrer wie Don Puglisi und der Mut von
Politikern, Richtern, Polizei und Journalisten haben trotzdem etwas
geändert. "Zwar ist die militärische Macht der Mafia noch stark, aber die
Wähler sind kritischer", erklärt Enrico del Mercato, 49, Redaktionschef
von "La Repubblica" in Palermo. In ganz Italien sorgte sein Buch "Der
Ballast" über gigantischen Filz in der Regionalverwaltung Siziliens für
Aufsehen.
Enrico del Mercato - Chefredakteur Corriere dela Sera
"Heute
verhindert unser Wahlsystem, zumindest bei Parlamentswahlen, dass ein
ganz bestimmter Kandidat begünstigt werden kann. Die Kandidatenlisten
sind starr, werden von der Parteispitze zentral erstellt", erklärt er.
Eine Rolle spiele auch die Wirtschaftskrise im Süden. "In der Politik
gibt es hier nichts mehr zu holen. Die Mafia geht dahin, wo sie die
besten Geschäfte machen kann – jetzt in den Norden", sagt del Mercato.
Erst vor Kurzem
war aufgeflogen, dass in der Lombardei ein Minister der
Regionalregierung mit Ablegern der kalabrischen 'Ndrangheta Stimmenkauf
betrieben haben soll. "Wahr ist aber auch, dass ein Konsens mit der
Mafia nicht immer über ein Direktmandat läuft. Oft reichen allgemeine
Interessenerklärungen. Berlusconi ist 1994 so angetreten: Er wetterte
damals gegen die Macht der Staatsanwälte, und das konnte der Mafia ja
nur recht sein." Jetzt verspricht er eine fünf Milliarden teure Brücke
auf das Festland. Das sind Arbeitsplätze für viele und Millionen für die
Bauunternehmen – viele von ihnen sind im Süden in der Hand der Mafia.
Wettlauf um die sauberste Kandidatenliste
Erstmals gab es
im aktuellen Wahlkampf einen Wettlauf um die sauberste Kandidatenliste:
Alle Parteien – von der norditalienischen Lega bis zur Union der
Christdemokraten im Süden – stellten ethische Regel-Kataloge auf und
sortierten schwarze Schafe reihenweise aus. Auch Berlusconi musste sich
unter dem Druck seines jungen Parteisekretärs Angelino Alfano endgültig
von alten Freunden trennen: dem neapolitanischen Parlamentarier Nicola
Cosentino, der verdächtigt wurde, regen Kontakt zur kampanischen Camorra
zu haben, und von Senator Marcello Dell'Utri, einem engen Vertrauten
und langjährigen Manager Berlusconis. Dell'Utri stammt aus Palermo und
war immer wieder in Prozesse um Beihilfe zu Mafia-Verbrechen verwickelt.
Ein schneller
Rundgang durch die Institutionen in Palermo zeigt den Wandel: Im
Regionalparlament sitzt heute – erstmals in über 60 Jahren Republik –
ein Gouverneur der Linksdemokraten. Es ist Rosario Crocetta, 65, ehemals
Bürgermeister der Stadt Gela im Süden der Insel, wo er jahrelang die
Mafia erfolgreich bekämpft hat. Er strahlt und berichtet: "Ich habe
heute 60 Angestellte in der Abteilung 'Ausbildung' entlassen." Das hat
Symbolwert: Die Abteilung war berühmt dafür, dass Gelder aus Rom und
Brüssel an außenstehende Beraterfirmen großzügig weitergereicht wurden –
nur ausgebildet wurde fast nie jemand.
Rosario Crocetta
Crocetta will
mit dem Filz aufräumen – viele trauen ihm das zu –, aber er machte einen
Rechenfehler: Für seine Mehrheit stützte er sich auf die Union der
Christdemokraten, die UDC. Nur einen Tag nach der Wahl im Oktober musste
deren Abgeordneter Pippo Sorbello von allen Parteiämtern zurücktreten,
weil die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelt – Verdacht auf
Stimmenkauf.
Die Armut ist Palermos Tragödie"
Im nahen Rathaus ist
Leoluca Orlando, 65, seit neun Monaten wieder im Amt des Bürgermeisters –
zum vierten Mal. Von 1985 bis 2001 bekämpfte er das mafiöse politische
System so nachhaltig, dass er dafür weltberühmt wurde. Probleme mit
korrupten Stadträten aus den eigenen Reihen hat Orlando daher auch heute
nicht. Nur kommt seine Kohärenz ihn teuer zu stehen: Heute darf er nur
noch den riesigen Schuldenberg der Stadt hin und her schieben. Auf
Unterstützung aus Rom muss einer, der so unbequem ist wie er, lange
warten. "Die Armut ist Palermos Tragödie geworden", sagt er.
Eine Etage
tiefer hat Giuseppe Zaffonte, 51, sein Büro. Er ist Haus- und
Zeremonienmeister im Rathaus, ein lebendiges Symbol für Orlandos
Politik. Beide lernten sich vor 25 Jahren im Wahlkampf kennen, da war
der junge Giuseppe Analphabet, ein kleiner Gauner von der Peripherie,
als Halbwaise in der Satellitenstadtteil Zen aufgewachsen. "Orlando
überzeugte mich, es anders zu versuchen", sagt er.
Er hat es
geschafft, erkämpfte sich Abitur und Jurastudium in Abendkursen, machte
im Rathaus Karriere von der Putzhilfe zum Hausmeister. Mit seiner Frau
und vier Kindern lebt Zaffonte noch im Zen, wo er jetzt gegen den
Einfluss der Mafia bei den Wahlen kämpft.
Auf dem Weg zum
Lokaltermin kommen wir an einem Zeitungskiosk vorbei, dicke Lettern auf
einem Lokalblatt fallen ins Auge. Sie sprechen von einem gewissen
Roberto d'Ali, Senator in Rom und aktueller Kandidat für Berlusconis
Volk der Freiheit. D'Ali wird verdächtigt, beste Kontakte zu Matteo
Messina Denaro zu pflegen. Der ist der Boss der Bosse der sizilianischen
Cosa Nostra, der weltweit gesucht wird.
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