Über 25 Jahre lang war es dem Pizzeria-Wirt aus
Stuttgart gelungen, durch die Maschen von italienischen und deutschen Fahndern,
Ermittlungen und Justizprozessen zu schlüpfen. Mario L. soll Handlanger und
Statthalter einer mächtigen Mafia-Familie aus Kalabrien, des
Farao-Marincola-Clans, sein und für sie, völlig unbehindert, illegale Geschäfte
in Deutschland geführt haben.
War ihm das gelungen, weil er Vermögen besaß und
Freundschaften in Politik und Wirtschaft pflegte? Schon in den 90er-Jahren
speisten baden-württembergische Politiker in der Pizzeria von „Mariuzzo“,
darunter der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende im Landtag und heutige
EU-Kommissar, Günther Oettinger. Am Dienstag führte die Polizei außer in
Baden-Württemberg auch Razzien in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen durch.
Politische Macht ist für die Mafia in Italien alles.
Noch während Mario L. abgeführt wurde, legten italienische Carabinieri nicht
nur zwölf Komplizen Handschellen an – auch sie mutmaßliche Angehörige und
Handlanger der mächtigen ’Ndrangheta-Familie –, sondern auch Lokalpolitikern in
Kalabrien. Unter ihnen ist der Präsident der Provinz Crotone. Gegen 158 weitere
Verdächtige wurden Haftbefehle in ganz Italien vollstreckt. Ziel der „Operation
Stige“ der italienischen Antimafia-Staatsanwaltschaft und der Carabinieri war
ein Schlag gegen das Wirtschaftssystem der Farao-Marincola-Familie. Sie ist tonangebend
in der kalabrischen Mafia, ein „Clan der Serie A“, wie es der ermittelnde
Staatsanwalt Nicola Gratteri nannte.
(siehe auch Mafia-Clans – hier im Blog)
Die Vorwürfe lauten Erpressung, Korruption, Geldwäsche
und illegale Geschäfte. Aktiv ist der Clan im Lebensmittel- und Weinhandel, in
der Müllentsorgung und in Beerdigungsunternehmen – Sektoren, die zu den
einträglichsten Wirtschaftszweigen der Region Kalabrien gehören. 50 Millionen
Euro Vermögenswerte wurden bei der Razzia beschlagnahmt. In Deutschland ging es
vor allem um Wein: Lokale Wirte und Händler wurden gezwungen, Produkte zu
kaufen, die der Farao-Marincola-Clan nach Deutschland exportierte.
„Tochterorganisationen“ in Stuttgart, Frankfurt,
München und Wiesbaden organisierten das Geschäft, nach den Erkenntnissen der
Ermittler mit denselben hierarchischen Strukturen und kriminellen Methoden des
Mutter-Clans. Auch Mario L. soll für den Farao-Marincola-Clan jahrelang diese
Geschäfte gelenkt haben. Dabei war er der deutschen Öffentlichkeit längst
bekannt. In den 90er-Jahren brüstete L. sich gern damit, dass er mit dem
damaligen CDU-Fraktionschef und späteren Ministerpräsident Oettinger befreundet
sei. Mario L. hatte der Landes-CDU damals Spenden in Höhe von mehreren Tausend
Mark zukommen lassen, in seinem Lokal richtete er „kalabrische Abende“ für die
Fraktion aus.
Man konnte Oettinger häufig in L.s Restaurant
antreffen. Der damalige Justizminister Baden-Württembergs, Thomas Schäuble
(CDU), warnte Oettinger 1992 unter vier Augen, dass sein Name im Zusammenhang
mit abgehörten Telefonaten aus der Pizzeria mehrfach aufgetaucht sei. Auch
Innenminister Frieder Birzele (SPD) unterrichtete Oettinger im Oktober
desselben Jahres, dass Mario L. im Verdacht stehe, mit einer Mafia-Organisation
zusammenzuarbeiten.
Prozess aus Mangel an Beweisen eingestellt
In einem Vermerk der Staatsanwaltschaft Stuttgart von
1994 stand L. als mutmaßliches Clanmitglied unter dem „dringenden Verdacht,
Organisator von Rauschgift- und Waffentransporten im Großraum Stuttgart“ zu
sein und mehrere Millionen Mark in schweizerische und italienische Immobilien
und Wertpapiere investiert zu haben.
Ein Untersuchungsausschuss prüfte, ob Oettinger sich
des Geheimnisbruchs schuldig gemacht und die Ermittlungen behindert habe. Doch
der Verdacht gegen Oettinger lief ins Leere. Die italienische Justiz eröffnete
in den 90er-Jahren einen Prozess gegen Mario L., aber 1999 wurde der mangels
Beweisen freigesprochen.
Die „Operation Stige“ (italienisch für Styx, den Unterweltfluss
der griechischen Mythologie) ist ein wichtiger Meilenstein im Kampf der
italienischen Ermittler gegen die Expansion der ’Ndrangheta aus Kalabrien, die
heute weltweit operiert und zu den gefährlichsten und mächtigsten kriminellen
Organisationen der Welt aufgestiegen ist. Sie macht einen Jahresumsatz von
schätzungsweise 150 Milliarden Euro – mit Drogen- und Waffenhandel sowie
Geldwäsche, aber auch mit Investitionen in legale Unternehmen. Mit ihrer
finanziellen Kraft kauft sie sich in die Politik ein.
Ermittler warnt vor langem Arm der Mafia
„Operation Stige“ ist dafür exemplarisch. Staatsanwalt
Gratteri, der das kriminelle Potenzial der ‘Ndrangheta wahrscheinlich besser
kennt als irgendein anderer, ist ständig in Europa, den USA und Kanada
unterwegs. Um zu ermitteln und um seine Arbeit mit anderen Fahndern zu
koordinieren. Er rät seit vielen Jahren, die Gefahr auch in Deutschland nicht
zu unterschätzen. Am Dienstag warnte Gratteri vor allem vor der Infiltration
der Politik durch Mafia-Familien.
„Wir wissen, dass die Kriminellen die Politiker heute
nicht mehr erpressen müssen, um Einfluss in der Politik zu gewinnen“, sagte er
am Dienstag auf einer Pressekonferenz über die aktuellen Razzien. „Die
Politiker wenden sich an die Clans, um bei Wahlen deren Unterstützung und
Stimmenpakete der Wähler zu erhalten. Sie gestatten der Mafia mitzuregieren,
ihre Leute direkt auf politische Posten und in die öffentliche Verwaltung zu
setzen“, so Gratteri.
Er weiß, dass gerade die `Ndrangheta – im
Gegensatz zur sizilianischen Cosa Nostra und der neapolitanischen Camorra –
international Respekt und Ansehen bei kriminellen Organisationen, Drogen- und
Waffenhändlern genießt, weil sie streng hierarchisch organisiert ist und es
kaum Überläufer und Kronzeugen gibt. Ihre Hauptquartiere liegen nach wie vor in
kalabrischen Dörfern, hoch in den Bergen und von der Außenwelt abgeschnitten,
häufig komplett von den Clans regiert.
So lag die Zentrale des Strangio-Clans im kleinen San
Luca, in dem kleinen Ort Ciro das Hauptquartier der mit ihr alliierten
Farao-Marincola-Familie. Gratteri weiß, wie das Leben in diesen Dörfern
funktioniert: Er stammt aus dem kleinen Bergdorf Gerace in dieser Gegend.
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