Wer
wissen will, wie man Mafioso wird, wovon Mafiosi träumen und wie lange sie im
Bett können, der sollte abends, wenn die Abendsonne vom Meer her Palermo in ein
warmes Licht taucht, im „Giardino Inglese", dem Englischen Garten der
Stadt, spazieren gehen. Denn um diese Zeit läuft der italienische Psychologieprofessor
Giorlamo Lo Verso für gewöhnlich von seinem Büro im Viale Marchese di
Villabianca zu seiner Wohnung in der Nähe des Hafens. Sie können Professore Lo
Verso ganz einfach
erkennen: Es wird jener Mann im Park sein, der am gemächlichsten läuft.
Denn
wenn Giorlamo Lo Verso seinen Lieblingspark durchquert braucht er für diese
Strecke ungefähr das dreifache eines normalen Fußgängers und das 20-fache der Motorino,
die neben dem Park die Straße entlang brummen. Professore Lo Verso hat keinen
Gehfehler, der ihn am Laufen hindern könnte, im Gegenteil, der 61-jährige ist sportlich
und ein begeisterter Taucher. Er hat einfach zu viel zu besprechen für den
kurzen Nachhauseweg. Heute Abend muss er aus zwei Gründen langsam gehen. Einerseits
scheint sein Besucher überhaupt keine Ahnung von der Mafia zu haben; und zum
zweiten muss er mit seiner Assistentin Emanuela Coppola noch den morgigen Abend
besprechen, an dem er wieder mal ein neues Buch vorstellt. Es dürfte in etwa
sein 38. sein. Keiner weiß in Italien besser als der „Professore" Girolamo
Lo Verso wie Mafiosi ticken und wie man überhaupt zu einem wird.
„Als
Mafioso wirst du geboren, aber du wirst auch dazu gemacht. Vor allem dein Onkel
wird eine große Bedeutung darin haben, dich zum Mafioso zu machen. Vielleicht
wird dein Vater erschossen, während du noch ein Kind bist, dann weißt du, dass
du ihn irgendwann rächen musst. Mit zehn Jahren schaut deine Familie, ob du
talentiert bist. Talentiert sein heißt, dass du andere Kinder verprügeln können
musst, dass du wenig Angst hast. Mit elf Jahren könnte es sein, dass dir jemand
einen Stock in die Hand drückt, auf ein Kind deutet und dich auffordert, es zu
verprügeln. Mit 14 sagen sie dir, nimm diese Pistole und erschieß den Hund da
drüben. Ein paar Jahre später wirst du zu einem Mord mitgenommen und aufgefordert,
nach dem Mord noch auf den Toten zu schießen. Und irgendwann nach all den
Stufen bist du zum Killer geworden."
Girolamo
Lo Verso hatte das Glück, zwar in Palermo, aber nicht in die Mafia hineingeboren
zu werden. Als Kleinkind lebte er in Bergamo, in Norditalien, von wo aus Sizilien
für einen verrückten Teil Afrikas gehalten wird. Dann ging die Familie zurück
nach Palermo. „Ich bin ausreichend Sizilianer um die Mafia von innen heraus zu
verstehen ", sagt der Professor während uns ein gebrechlicher alter Mann
mit Gehstock spielend überholt, „aber gleichzeitig bin ich auch ein
Norditaliener, der von außen auf die Mafia schaut und den nötigen Abstand
hat." In Palermo lernte er erst Lesen und Schreiben, dann die Psychologie
und die Liebe, nun mit seiner zweiten Frau Giuseppina Ustica, Giusi genannt, 20
Jahre jünger als er. „Sie hat mir geholfen, ein Mann zu bleiben, der das Leben
genießen kann."
„Lieben
und Mafioso sein, das schließt sich aus. Mafiosi sind fast asexuell. Sie haben
Quickies von höchstens 40 Sekunden und die auch nur, um Babies zu machen. Es
geht nicht um Nähe, es geht darum, neue Menschen zu produzieren, die genauso
sind wie sie selbst. Auch mit Prostituierten ist es nicht anders. Einmal hat
mir ein Mann erzählt, der für die Mafia arbeitete aber zu keiner Mafia-Familie
gehörte, er sei mal mit Mafiosi in einen Nachtclub gegangen, doch für die
Frauen habe sich keiner der Männer interessiert. Stattdessen hätten sie
beiseite gestanden und Pläne besprochen. Auf sizilianisch sagt man ‚Cumannari è
megghiu di futtiri', ‚Kommandieren ist besser als ficken'", das ist ein Sprichwort.
Für das System Mafia ist die Bannung körperlicher und seelischer Verbundenheit
von großer Bedeutung.
Wer liebt und geliebt wird, würde nicht mehr wie eine Maschine
handeln, sondern wie ein Mensch. Das wäre das Ende der Mafia." Auf dem Weg
nach Hause, langsamer als ein Entenmarsch, biegt Girolamo Lo Verso in ein
Restaurant ein, „Capricci di Sicilia". Die Chefin begrüßt ihn mit „Ciao
Professore" und weist ihm einen Platz an. „Ciao Professore": Die
Leute in seinem Viertel wissen, dass Lo Verso nicht nur über Klinische
Psychologie forscht und Gruppentherapien leitet, sie wissen, dass er ein
prominenter Mafia-Gegner ist. „Könnten Sie jemanden offen fragen, ob er Schutzgeld
bezahlt?", „Nein", sagt Girolamo Lo Verso, „das geht nicht. Und wenn,
würde er sagen: Ich zahle nicht." Tatsächlich zahlten in manchen Vierteln
alle, aber es fühlt sich nicht als Schutzgeld an. Die Erpresser kommen und
„bitten" um den gewöhnlichen Beitrag für das Fest des Stadtheiligen oder
zur Unterstützung einer Familie, deren Männer im Gefängnis sitzen. Einige Läden
und Unternehmer haben sich aufgelehnt und zum Verein „Addiopizzo", „Auf
Wiedersehen, Schutzgeld" zusammengeschlossen.
„Nur
verbunden lässt sich die Mafia besiegen", meint Lo Verso. Er fühlt sich
als Teil des Netzes: „Wer nicht weiß, wie die Mafia denkt, kann sie auch nicht
bekämpfen", sagt
er. Nicht nur Polizisten, die verschlüsselte Telefonate, oder Richter in gepanzerten
Autos stehen im Krieg gegen die Mafia, auch Gemüsehändler oder Psychologen.
Kürzlich hat er 4000 Psychologen aus ganz Süditalien angeschrieben, die Camorra-Frauen
oder ’Nrangheta-Opfer als Patienten haben. Er will herausfinden, ob die organisierte
Kriminalität überall die gleichen psychologischen Phänomene hinterlässt:
Wegschauen, Angst, Misstrauen.
„Wenn
du ein Mafioso bist, gilt für dich der Satz: Der Tod lauert hinter der Tür. Als
Mafioso kannst du nicht vertrauen. Wenn wir die Mafia untersuchen, untersuchen
wir sie als fundamentalistisches System wie Al Quaida. Es gibt kein Ich, es
gibt keine Subjektivitiät, es gibt nur das Wir. ‚Cosa Nostra' heißt ja auch
‚Unsere Sache', nicht ‚Meine Sache', es geht nicht um mich oder dich, du wirst
als Individuum aufgelöst, du bist nicht etwas, du gehörst zu etwas. Das ist
allen Fundamentalismen gemeinsam. Der andere ist egal, der Mafioso sieht ihn
nicht als Menschen der leiden oder trauern kann - denn er ist selbst unfähig
dazu.."
Hätte
Girolamo Lo Verso nicht in den Siebziger Jahren in Trapani an der westlichen
Spitze Siziliens gelebt, wer weiß, vielleicht wäre er ein durchschnittlicher
Professor geworden, mehr dem Elfenbeinturm seines Fachs verbunden, als dem
Land, auf dem er lebt. Doch in Trapani lernte er Giovanni Falcone kennen, den berühmten
Anti-Mafia-Richter. „Giovanni war die Revolution in Person", erinnert sich
Lo Verso an den alten Freund, „er sprach mit Mafiosi nicht als Verbrecher,
sondern er nahm sie so, wie sie sich selbst sehen: als Ehrenmänner, als Generäle,
als Auserwählte." Die Freundschaft endete jäh. Am 23. Mai 1992 sprengte
die Mafia Giovanni Falcone in die Luft, mit 500 Kilogramm Sprengstoff. Seitdem
hängt ein Foto von ihm im Arbeitszimmer des „Professore", seitdem arbeitet
er sich im Hirn der Mafia vorwärts. Die Polizei half ihm dabei, indem sie
Mafiosi
verhaftete
und so dem Professor Verhörprotokolle und Zeugenaussagen lieferte. Seine
Mitarbeiter interviewten Killer, die zehn, 20 oder gar 50 Menschen erschossen
oder erwürgt haben, sie sprachen mit jungen Söhnen aus Mafia-Familien, mit Pfarrern
und mit den Frauen der Mafiosi, mit ihren Liebhaberinnen und ihren Töchtern.
Vor allem besuchte er „pentiti", jene ex-Mafiosi, die bereit waren, gegen
die Mafia auszusagen und vom Staat versteckt werden. „pentito" kommt von
„pentirsi" und heißt „bereuen", aber öfter steht „pentito" für:
Ich packe aus, weil ich dann leichtere Haftbedingungen bekomme und mich an
alten Feinden oder Kumpanen rächen kann.
„Wenn
ich zu einem Interview mit einem Pentito nach Rom flog, wurde ich x-mal im
Kreis gefahren, damit ich nichts mehr wiedererkennen würde. Dann kam ich in
einen unmöblierten Raum, wo der ehemalige Killer saß. Ich fragte dann, ob er
bereuen würde, er sagte nein. Ich fragte, ob er schlecht träumen würde, er
sagte wieder nein. Ich dachte, das gibt es doch nicht, zumindest unbewusst müssen
diese Bilder doch nach oben dringen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Aber
Töten ist für sie bürokratische Routine, ein Killer begreift sich als
ausführender Arm der ganzen Organisation, der nicht in Frage stellen darf, was
oben beschlossen wurde. Sie sagen über Menschen, die sie ermorden sollen, es
seien lebende Tote. Sie können sich wie Gott fühlen, die entscheiden ob ein Mensch
noch einmal den Sonnenschein des nächsten Tages sieht oder eben nicht. Aber im
Gefängnis entdecken sie dann plötzlich ihre Subjektivität. Sie sind alleine.
Aus Maschinen werden Menschen. Einmal sagte mir einer, er fühle sich elend,
elend wie ein Hund. Er hatte unzählige Menschen erwürgt oder erschossen. Aber er
tat mir leid."
Während
Girolamo Lo Verso im Restaurant „Capricci di Sicilia" die ungewöhnlichen
sizilianischen Nudeln mit den Semmelbröseln und den Fenchelsamen isst, schiebt
sich jener eigenartige Abendverkehr durch die Straßen, den es nur in südlichen
Ländern gibt, und der im Umherirren sein eigentliches Ziel zu haben scheint. Junge
Männer düsen auf Motorrollern herum, die meisten ohne Helm. Wenn es 5000 Mafiosi
aus Mafia-Familien gibt, dazu noch das zehnfache an Fußsoldaten und dann noch
alle, die Schutzgeld bezahlen, dann müssen sie doch hier gerade vorbeifahren,
vielleicht die Jungs hier auf diesem Roller dort? Der Professore winkt ab: „Es gibt
keine besonderen Merkmale", meint er, und seine Assistentin Emanuela
erzählt, „du siehst es ihnen nicht an, du merkst es erst, wenn du dich selbst
anders verhältst als sie es gewohnt sind. Dann reagieren sie".
Einmal
sei sie zu einem psychologischen Interview in ein entlegenes Dorf gefahren, in
dem eine Mafia-Familie das Sagen hat: „In ein paar Minuten wusste das ganze
Dorf von uns. Dann kam ein Mann und fragte: Was macht ihr hier? Und ich sagte: Wir
sind zu Besuch. Und er fragte nochmal: Was macht ihr hier?" „Als Mafioso
ist für dich das eigene Viertel die Basis deiner Macht und deines Selbstbewusstseins.
Auch deine Kinder bekommen die gleiche Ehrerbietung wie du. Wenn du als Kind
eines Mafioso in eine Bar gehst und dir ein Eis holst, dann musst du oft nicht
zahlen. Wenn du Billard spielen gehst, lassen sie dich kostenlos spielen. Wenn
es im Laden eine Schlange gibt, dann bist du erster. Umso härter ist es aber
dann, wenn dein Vater verhaftet wird und er sich entscheidet, mit der Justiz
zusammenzuarbeiten. Dann endet der Respekt brüsk, dann bist du nicht mehr der
kleine König oder die kleine Königin, dann wirst du gejagt, dann lebst du unter
dem Schutz der Polizei und alle Freundschaften von früher sind Geschichte.
Manchmal sterben die Angehörigen auch. Von einem, der
mit der Justiz zusammenarbeitete, ermordete die Mafia 27 Angehörige."
Die alte Gewohnheit, zu befehlen und gehört zu werden, können Menschen aus Mafia-Familien selbst in Therapiegesprächen nicht ablegen. Sie haben einen Kontrollzwang. „Sie kontrollieren die Sitzungen", sagt Lo Verso, „sie sagen, wir sehen uns nächsten Samstag um neun Uhr morgens und dann gehen sie." Sie müssen das Sagen haben, im Gespräch, im Land. Bis heute haben sie es. Die Mafia hat sich immer angepasst, trotz aller mal halbherzigen, mal energischen Versuche, sie zu zerstören: Mit der Globalisierung ist sie selbst globaler geworden und legt ihr Geld in aller Welt in Firmenbeteiligungen oder Immobilien an. Um weniger angreifbar zu sein, von außen wie durch Verräter, legen die Clans immer mehr Wert auf Blutsverwandtschaft. Selbst die an sich gute Nachricht, dass es seit 2007 in Palermo sehr wenige Morde gab, gibt Anlass zur Sorge: Fühlt sie sich vielleicht besonders stark, besonders geschlossen, wenn sie nicht untereinander tötet? Muss sie nicht mehr töten, weil ihr Mythos schon genug einschüchtert? Junge, gebildete Leute aus Palermo wandern aus. Die Kinder von Mafiosi sind in ihrer Welt gefangen. „Sie werden dazu gezwungen, so zu sein wie der Vater, der Großvater oder der Onkel." Sie träumen nur von der Freiheit.
Girolamo
Lo Verso tritt den Heimweg vom „Capricci di Sicilia" an, wie immer ruhig
und gemächlich. Mit einem Bussi links und einem rechts verabschiedet er sich
von seiner Assistentin und wünscht buona notte. Ob er denn keine Angst hat,
alleine und nachts durch die Straßen zu gehen? „Der Mafia sind unsere
Forschungen egal, das wissen wir", meint er, „ich habe keine Angst."
Nur wenn er mit den Händlern rede, mit den Frauen und Kindern aus Mafia-Familien,
dann werde er etwas nervös. „Sie übertragen mir die Angst, die sie selbst
haben." Danach beruhigt er sich wieder und macht sich wieder daran, das
Hirn der Mafia auszuleuchten. Bis man sie versteht. Und sie besiegen kann.
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