Donnerstag, 5. September 2013

"Deutschland ist die zweite Heimat der 'Ndrangheta"

Ihr Vater wurde von der Mafia hingerichtet, seitdem kämpft Sonia Alfano gegen das organisierte Verbrechen. Im Interview warnt die Vorsitzende der EU-Anti-Mafia-Kommission vor der kalabrischen 'Ndrangheta in Deutschland, die sich unbehelligt in der Gesellschaft eingenistet habe.

Das Büro der EU-Abgeordneten Sonia Alfano liegt in einem der besseren Wohnviertel von Palermo. Vom Balkon aus schaut man auf den mächtigen Monte Pellegrino, dessen zackiges Profil sich scharf im Sonnenlicht abzeichnet. Durch die Straßenschlucht rauschen Autos, im Schnellimbiss um die Ecke tragen schlaksige Jungs die neuesten Motorradhelme am Arm spazieren. Die Männer, die ihnen frittierte Reisbällchen servieren, haben Bäuche so groß wie Halloween-Kürbisse.


EU-Parlamentarierin Alfano: "Italien hat die miesesten Politiker der Welt"

Doch dies ist nur eine Seite der Stadt. Auf der anderen wühlen krätzekranke Katzen in Müllbergen, brennen Randalierer Schulen nieder, zerfallen historische Gebäude zu Staub, während nie fertig gestellte Neubauten wie faule Zähne die Straßen säumen.

"Palermo ist eine sterbende Stadt", sagt Sonia Alfano. Seit sie denken kann, kämpft die 41-jährige Sizilianerin gegen die Mafia. Als Auftragsmörder der Cosa Nostra ihren Vater Giuseppe im Januar 1993 mit drei gezielten Schüssen niederstreckten, begann für sie eine neue Zeitrechnung.

Alfano, ein politisch weit rechts stehender Journalist, hatte sich mit seinen Recherchen über korrupte Unternehmer und flüchtige Mafiosi zahllose Feinde gemacht. Ein Auftraggeber des Mordes, Giuseppe Gullotti, wurde zu 30 Jahren Haft verurteilt, von den wahren Hintermännern fehlt jedoch weiter jede Spur.



Sonia Alfano zeigte Versäumnisse der Ermittler in dem Mordfall auf und bewirkte eine Neuaufnahme des Verfahrens, das noch immer nicht abgeschlossen ist. Im Jahr 2008 gründete sie mit 40 weiteren Betroffenen einen Nationalen Verband von Familien, die Opfer der Mafia wurden. Für das Mitte-Links-Bündnis Italia dei Valori wurde Alfano ins EU-Parlament gewählt. Seit April 2012 ist sie Präsidentin der ersten europäischen Anti-Mafia-Kommission.



FRAGE: Sie haben den Cosa-Nostra-Boss Bernardo Provenzano im Gefängnis besucht und sich damit ordentlich Ärger eingehandelt. Warum?

Alfano: Es gab eine riesige Aufregung! Gewisse Politiker waren der Meinung, ich habe ein Verbrechen begangen, weil ich gleich mehrere inhaftierte Bosse getroffen habe, um sie dazu zu bewegen, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Einige haben sogar gefordert, ich müsste dafür bestraft werden - dabei sind solche Besuche erlaubt und ganz klar gesetzlich geregelt. Offenbar gibt es Leute, die Angst davor haben, was Provenzano so alles erzählen könnte.

FRAGE: Der "Boss der Bosse" soll nach dem blutigen Mafia-Terror Anfang der Neunziger aus machttechnischen Gründen mit dem italienischen Staat verhandelt haben, ein Verdacht, der bis heute Gerichte und die Öffentlichkeit beschäftigt. Provenzano ist inzwischen alt, krank und suizidgefährdet. Wird er je aussagen?

Alfano: Er ist sicherlich gealtert, aber längst nicht so tatterig, wie einige es darstellen. Ob er aussagen wird, kann ich nicht voraussehen. Aber ich wünsche mir um der Wahrheit willen, dass er letztlich die Gesetze des Staates akzeptieren und mit der Justiz zusammenarbeiten wird.

FRAGE: Seit April sind Sie Vorsitzende der europäischen Anti-Mafia-Kommission. Obwohl die Mafia längst weltweit operiert, gibt es noch immer riesige Probleme bei den grenzüberschreitenden Ermittlungen. Dürfen wir von der neuen Kommission Wunder erwarten?

Alfano: Es ist schon ein Wunder, dass die Kommission überhaupt gegründet wurde. Noch vor einem Jahr hat keiner von uns daran geglaubt. Ich bin froh, dass die Erwartungen hoch sind. Das bedeutet, dass ein Bewusstsein entstanden ist für die immensen Schäden, die Korruption und Organisierte Kriminalität in Europa anrichten. Kein einziger Mitgliedstaat ist dagegen immun.

FRAGE: In Deutschland hat man diese Erkenntnis aber lange verdrängt.

Alfano: Man glaubte, das Problem sei erst mit den Mafia-Morden von Duisburg im Jahr 2007 aufgekommen. Dabei waren 'Ndrangheta, Cosa Nostra und Camorra schon lange vorher in Deutschland aktiv. Die Behörden haben nach dem Blutbad in der Pizzeria aber weiter so getan, als wäre nichts geschehen. Nachlässigkeit und Verharmlosung haben dazu geführt, dass die Mafia sich unbehelligt in der Gesellschaft einnisten konnte.

FRAGE: Wovor müssen sich die Deutschen fürchten?

Alfano: Vor ihrer eigenen Unwissenheit. Deutschland ist die zweite Heimat der kalabrischen 'Ndrangeta, der reichsten kriminellen Organisation der Welt. Sie transportiert Drogen über deutsches Territorium, hat die Wirtschaft unterwandert, ist gesellschaftlich akzeptiert. Bei den kolumbianischen und mexikanischen Drogenkartellen gilt sie als glaubwürdig, zuverlässig und finanzstark. Man zahlt Cash und macht keine Scherze, weiß, wie man mit Politikern und Würdenträgern umzugehen hat.

FRAGE: Deutschland gilt als Eldorado der Geldwäscher, vor allem aus Italien fließt das Geld in Strömen. Wie kann die europäische Anti-Mafia-Kommission dem begegnen?

Alfano: Die größte Herausforderung ist die Vereinheitlichung der Justizsysteme der EU-Länder. Wir müssen Gesetze einführen, die für alle bindend sind, aber Rücksicht nehmen auf die Unterschiede und die Komplexität der verschiedenen Rechtssysteme.

FRAGE: Reichen die nationalen Gesetze nicht aus?

Alfano: Ein Beispiel: Italienische Ermittler informieren deutsche Kollegen über ein kalabrisches Dorf, das kollektiv nach Deutschland übergesiedelt ist - ganz klar mit dem Ziel, illegale Geschäfte zu betreiben und Geld zu waschen. Auf ihre Warnungen hin antworten die deutschen Polizisten, dass ihnen die Hände gebunden sind, solange die mutmaßlichen 'Ndranghetisti brav ihre Steuern zahlen und ansonsten unauffällig bleiben.

FRAGE: Das liegt an der unterschiedlichen Rechtslage. Deutschland kennt den Straftatbestand der Mafia-Zugehörigkeit nicht.

Alfano: Das ist ein Manko, das inzwischen auch führende Strafverfolger in Deutschland beklagen. In Italien muss jeder, der als Mafiamitglied enttarnt wird, beweisen, dass er sein Vermögen legal erworben hat. Kann er das nicht, wird sein Hab und Gut konfisziert.

FRAGE: In Deutschland ist es umgekehrt. Hier müssen die Ermittler nachweisen, aus welcher Straftat das Mafia-Geld stammt.

Alfano: Ja, das erschwert die Strafverfolgung immens. Das italienische Strafgesetzbuch regelt außerdem, dass der eingezogene Mafia-Besitz nur anerkannten sozialen Organisationen überschrieben werden darf - ein wichtiger Punkt, denn würde der Staat das Vermögen wieder veräußern, könnten die Mafiosi es einfach zurückkaufen.

FRAGE: Um Mafiazugehörigkeit nachweisen zu können, nutzen italienische Fahnder Abhörtechniken, die bei uns aus Datenschutzgründen nur in Ausnahmefällen zur Anwendung kommen. Glauben Sie, dass es ihnen gelingen wird, in so delikaten Fragen einen Konsens zu finden?

Alfano: Hindernisse wird es immer geben. Aber wenn der politische Wille vorhanden ist, werden wir uns durchsetzen.

FRAGE: Trotz der flexiblen Gesetzgebung ist es Italien nicht gelungen, die Mafia auszurotten, im Gegenteil. Zwar hört man immer wieder von spektakulären Festnahmen. Die Verstrickung von Politik und organisiertem Verbrechen scheint aber immer enger zu werden.

Alfano: Das stimmt. Wir haben zwar die besten Anti-Mafia-Gesetze der Welt, die besten Ermittler und Staatsanwälte. Die treffen aber leider auf die miesesten und verantwortungslosesten Politiker der ganzen Erde.

FRAGE: Italiens Ex-Premier Silvio Berlusconi ist in Mailand wegen Steuerbetrugs zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Ist das ein Meilenstein im Kampf gegen Italiens korrupte politische Klasse?

Alfano: Wohl kaum. Niemand braucht ein solches Urteil, um zu erkennen, wie selbstbezogen und nur auf Basis persönlicher Interessen italienische Politiker ein Gemeinwesen führen - von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen.

FRAGE: Sie selbst stammen aus Sizilien, wo gerade eine neue Regionalregierung gewählt wurde. Der ehemalige Regionalpräsident Raffaele Lombardo war wegen mutmaßlicher Mafiakontakte und Stimmenkaufs zurückgetreten. Was erwarten Sie von der neuen Regierung, von Rosario Crocetta, der als Polemiker unter den Anti-Mafia-Kämpfern gilt?

Alfano: Crocetta muss sich immensen Herausforderungen stellen, denn Sizilien zu regieren ist extrem schwierig. Er muss die Mafia aus Verwaltungsposten und öffentlichen Ämtern drängen. Das gelingt nur mit klaren Signalen und konkreten Maßnahmen. Aber ich kenne Crocetta gut, er kämpft schon so lange gegen die Mafia, wurde immer wieder mit dem Tode bedroht und ist heute mein Stellvertreter in der Europäischen Anti-Mafia-Kommission. Ich weiß, dass er sehr entschlossen gegen die Organisierte Kriminalität vorgehen wird.

FRAGE: Auf dem Korruptionsindex von Transparency International rangiert Italien auf Platz 69 von 180, nur wenige Plätze vor China und Kolumbien. Gerade wurde in Rom ein neues Gesetz verabschiedet, das die Korruption im Land eindämmen soll. Ein Schritt in die richtige Richtung?

Alfano: Das ist kein Gesetzentwurf, das ist ein Scherz! Da wird viel Rauch in die Luft geblasen um zu verschleiern, dass es gewissen Politikern nur darum geht, ihre Immunität zu bewahren und sich Straffreiheit zu sichern. Inhaltlich ist das eine Farce, der Entwurf ändert nichts an der bestehenden Situation.

FRAGE Ihr Vater Giuseppe Alfano wurde 1993 von der Mafia hingerichtet. Wie sind Sie damit umgegangen?

Alfano: Ich war 21, als mein Vater ermordet wurde. Zu Beginn schien mir die Tat einfach nur absurd - wieso ausgerechnet er? Dann folgten der Schmerz, ein erster Moment der Ruhe, dann die Angst. Irgendwann wurde mir bewusst, wie schmählich uns der Staat im Stich gelassen hat. Dann kam die Wut.

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