Montag, 30. April 2018

Schweizer Kripo heimlich von Mafia gefilmt und abgehört


Die Bundesanwaltschaft ließ zu, dass die italienische Anti-Mafia-Polizei in Brig Kameras und Mikrophone installierte. Wie sich jetzt erst herausstellte, waren die beauftragten Spezialisten Mafiosi allererster Güte. 

Hier tagten monatelang Mitglieder der Mafia

Wir haben den 17. August 2006. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, um 0.30 Uhr, stiegen ein paar Männer heimlich ins Gebäude der Bocciahalle am Südrand von Brig ein. Als sie kurz vor Tagesanbruch – eine Kirchenuhr hatte eben 5 Uhr geschlagen – herausgeschlichen kamen und sich aus dem Staub machten, stand die Überwachungsanlage.


Die Techniker hatten zwei Kameras und zwei Mikrophone installiert und sehr gut getarnt. Kabel und technische Geräte waren clever in die Decke eingebaut, eines der Mikrophone in der Wand direkt neben jenem Tisch, den Fortunato Maesano, der «Mafiaboss aus Brig», und seine Freunde bevorzugten. Alles war perfekt gelaufen: «Es gab keine Panne, und es wurde nichts beschädigt», notierte Kommissar «37649» in seinem Tagesrapport.

Noch am selben Tag, Punkt 22.00 Uhr, schalteten die Techniker die Anlage erstmals ein. Ab sofort konnten Fahnder der «Operation Feigenbaum» auf ihren Bildschirmen verfolgen, mit wem Fortunato Maesano und seine Kollegen Francesco Romeo, Antonio Mafrici und Bruno Pizzi in der Bocciahalle zusammensaßen. Und sie konnten vor allem auch mithören, worüber sie sprachen.


Aufzeichnungen mussten gelöscht werden

Bereits am zweiten Tag fiel der Ton aus, dann wiederum das Bild und schließlich sogar Ton und Bild. Die Techniker versprachen, die Panne zu beheben. Doch dafür mussten sie nochmals in das Gebäude der Bocciahalle einsteigen – nachts und heimlich. Es dauerte beinahe eine Woche, bis sich eine passende Gelegenheit bot. Solange war die Leitung tot. Erst ab dem 25. August klappte die Datenübertragung wiederum.

Kaum war die technische Panne behoben, gab es ein neues Problem. Die Videoüberwachung war an klare Auflagen geknüpft: «Die Video- und Tonüberwachung muss auf die Stelle beschränkt sein, wo die Verdächtigen jeweils zusammensitzen.» Diese Auflage war kaum einzuhalten. Grund: Die beiden Überwachungskameras zeigten ziemlich große Ausschnitte; nie filmten sie allein die Verdächtigen, sondern immer auch Personen, die nicht hätten observiert werden dürfen. Das war ärgerlich. Jetzt mussten alle Aufzeichnungen gelöscht und geschreddert werden. Und die Techniker mussten eine neue Anlage einbauen.


Nichts als Pleiten, Pech und Pannen

1. September 2006. Noch eine Panne. Wieder machten die Mikrophone schlapp. Diesmal dauerte es geschlagene zwei Wochen, bis der Schaden wieder behoben war.
Zeitweise geriet die Überwachung der Bocciahalle gar zur Lachnummer. Patrick Lamon, der Staatsanwalt des Bundes, der die «Operation Feigenbaum» leitete, und seine Fahnder hatten in ihrem Übereifer auch hohe Magistraten und bekannte Briger Beamte heimlich gefilmt und ihre Gespräche aufgezeichnet. In der Tat, in der Bocciahalle verkehrten damals nicht nur Mafiosi, sondern auch Briger Richter, ebenso Stadtschreiber Eduard Brogli. Wenn sie nach Feierabend ein Bier trinken oder ungestört reden wollten, gingen sie nicht in eines der bekannten Briger Bistros, sondern wählten den diskreten Privatclub Bocciahalle. Es steht zu vermuten, dass die Mafiosi den Spieß umgekehrt hatten und die Richter abhörten und filmten.

Am 25. Oktober wurden die Überwachungskameras und Mikrophone definitiv abgeschaltet, «aus technischen Gründen», wie es im Einstellungsbeschluss hieß. Was hatte die dreimonatige Überwachung gebracht? Nichts als Pleiten, Pech und Pannen. Die einzige gesicherte Ermittlungserkenntnis war: «Wir konnten immerhin feststellen, dass die Bocciahalle die offiziellen Öffnungszeiten nicht einhält.» Lächerlicher kann man sich als Kripo der Sondereinsatztruppe nicht machen.


vermeintliche Italienische Anti-Mafia-Polizei hinter der Tarnfirma

Erschreckend der Dilettantismus, mit dem «Sheriff» Patrick Lamon und seine Fahnder – alle Angehörige der Bundeskriminalpolizei – ans Werk gingen. Doch das war nicht alles. Hinter der stümperhaften Video-Überwachung in Brig entwickelt sich nun ein handfester Skandal.

Die Techniker, die die Überwachungsanlage einbauten, gehörten weder zur Bundespolizei noch zu einer anderen Schweizer Polizei. Sie kamen aus Italien und waren Mitarbeiter der «Network Security Activity» (NSA), eine völlig unbekannte Sicherheitsfirma aus Cigognola, ein kleines Nest ein paar Kilometer südlich von Pavia. Allesamt Mafiosi, die ihr Handwerk verstanden. Die NSA-Techniker lieferten auch die Kameras und Mikrophone, für die sie pro Tag 480 Euro verrechneten. Und sie waren es, die für die Übermittlung der Aufnahmen beauftragt waren. Dazu benutzten sie zwei Mobiltelefone, beide mit italienischem Anschluss. Kostenpunkt für einen Monat: 2‘100 Euro.

Doch eigentlich gab es die NSA nicht. In Tat und Wahrheit handelte es sich um eine Tarnfirma. Unsere Recherchen haben ergeben: Hinter der NSA verbirgt sich niemand anders als die italienische Mafia-Polizei.


Heiße Fragen an die Bundesanwaltschaft

Wieso setzte Staatsanwalt Patrick Lamon nicht eigene Techniker ein? Immerhin verfügten Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalpolizei über bestens ausgebildete Abhörspezialisten. War es rechtens, Ausländer mit diesem Job zu betrauen? Wurden die Aufnahmen aus der Bocciahalle in Brig ausschließlich an das Team von «Staatsanwalt» Patrick Lamon übermittelt oder eventuell auch an italienische Polizei- und/oder Ermittlungsbehörden? Fragen über Fragen.
Zu diesen Fragen hörte man von der Bundesanwaltschaft folgende Stellungnahme:
«Das Verfahren wurde gemäß der damals geltenden Strafprozessordnung geführt. Die angeordneten Überwachungsmaßnahmen waren von der zuständigen Behörde bewilligt. Die vorgenommenen Ermittlungshandlungen brachten keine verwertbaren Resultate zu Tage, um das Verfahren weiterzuführen. Es wurde im August 2007 eingestellt.»


Keine Rede von einer Rechtshilfe an Italien

Es trifft in der Tat zu, dass die Überwachung der Bocciahalle bewilligt wurde. Doch die zuständige Bewilligungsbehörde wusste nicht, dass an der Überwachung italienische Ermittler beteiligt waren. Im Gesuch war auch weder von einer Rechtshilfe an Italien die Rede noch davon, dass die italienische Anti-Mafia-Polizei DIA an der Operation direkt beteiligt war.

Im Gesuch hieß es lediglich: «Beim jetzigen Stand der Ermittlungen können wir immerhin sagen, die Bocciahalle ist ein wichtiger Ort (‚lieu clé‘ - eine Schlüsselstelle, A.d.R.), wo unsere diversen Verdächtigen täglich verkehren.» Und: «Fügen wir noch an: Aus technischen Gründen werden die nötigen Überwachungsgeräte von einer Privatfirma zur Verfügung gestellt und auch installiert.» Kein Wort über die Zusammenarbeit mit italienischen Ermittlungs- oder Fahndungsbehörden. Da waren mit «Sheriff» Patrick Lamon wieder mal die Pferde durchgegangen. Er hatte geschummelt: Mit Lügen durch Weglassen eine Bewilligung für eine Videoüberwachung erschlichen.

Ja, ja, wer die Mafia aufs Kreuz legen will, muss sehr früh aufstehen.


Sonntag, 8. April 2018

Der Pate aus Stuttgart gefasst


Über 25 Jahre lang war es dem Pizzeria-Wirt aus Stuttgart gelungen, durch die Maschen von italienischen und deutschen Fahndern, Ermittlungen und Justizprozessen zu schlüpfen. Mario L. soll Handlanger und Statthalter einer mächtigen Mafia-Familie aus Kalabrien, des Farao-Marincola-Clans, sein und für sie, völlig unbehindert, illegale Geschäfte in Deutschland geführt haben.



War ihm das gelungen, weil er Vermögen besaß und Freundschaften in Politik und Wirtschaft pflegte? Schon in den 90er-Jahren speisten baden-württembergische Politiker in der Pizzeria von „Mariuzzo“, darunter der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende im Landtag und heutige EU-Kommissar, Günther Oettinger. Am Dienstag führte die Polizei außer in Baden-Württemberg auch Razzien in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen durch.

Politische Macht ist für die Mafia in Italien alles. Noch während Mario L. abgeführt wurde, legten italienische Carabinieri nicht nur zwölf Komplizen Handschellen an – auch sie mutmaßliche Angehörige und Handlanger der mächtigen ’Ndrangheta-Familie –, sondern auch Lokalpolitikern in Kalabrien. Unter ihnen ist der Präsident der Provinz Crotone. Gegen 158 weitere Verdächtige wurden Haftbefehle in ganz Italien vollstreckt. Ziel der „Operation Stige“ der italienischen Antimafia-Staatsanwaltschaft und der Carabinieri war ein Schlag gegen das Wirtschaftssystem der Farao-Marincola-Familie. Sie ist tonangebend in der kalabrischen Mafia, ein „Clan der Serie A“, wie es der ermittelnde Staatsanwalt Nicola Gratteri nannte.
(siehe auch Mafia-Clans – hier im Blog)

Die Vorwürfe lauten Erpressung, Korruption, Geldwäsche und illegale Geschäfte. Aktiv ist der Clan im Lebensmittel- und Weinhandel, in der Müllentsorgung und in Beerdigungsunternehmen – Sektoren, die zu den einträglichsten Wirtschaftszweigen der Region Kalabrien gehören. 50 Millionen Euro Vermögenswerte wurden bei der Razzia beschlagnahmt. In Deutschland ging es vor allem um Wein: Lokale Wirte und Händler wurden gezwungen, Produkte zu kaufen, die der Farao-Marincola-Clan nach Deutschland exportierte.

„Tochterorganisationen“ in Stuttgart, Frankfurt, München und Wiesbaden organisierten das Geschäft, nach den Erkenntnissen der Ermittler mit denselben hierarchischen Strukturen und kriminellen Methoden des Mutter-Clans. Auch Mario L. soll für den Farao-Marincola-Clan jahrelang diese Geschäfte gelenkt haben. Dabei war er der deutschen Öffentlichkeit längst bekannt. In den 90er-Jahren brüstete L. sich gern damit, dass er mit dem damaligen CDU-Fraktionschef und späteren Ministerpräsident Oettinger befreundet sei. Mario L. hatte der Landes-CDU damals Spenden in Höhe von mehreren Tausend Mark zukommen lassen, in seinem Lokal richtete er „kalabrische Abende“ für die Fraktion aus.

Man konnte Oettinger häufig in L.s Restaurant antreffen. Der damalige Justizminister Baden-Württembergs, Thomas Schäuble (CDU), warnte Oettinger 1992 unter vier Augen, dass sein Name im Zusammenhang mit abgehörten Telefonaten aus der Pizzeria mehrfach aufgetaucht sei. Auch Innenminister Frieder Birzele (SPD) unterrichtete Oettinger im Oktober desselben Jahres, dass Mario L. im Verdacht stehe, mit einer Mafia-Organisation zusammenzuarbeiten.


Prozess aus Mangel an Beweisen eingestellt

In einem Vermerk der Staatsanwaltschaft Stuttgart von 1994 stand L. als mutmaßliches Clanmitglied unter dem „dringenden Verdacht, Organisator von Rauschgift- und Waffentransporten im Großraum Stuttgart“ zu sein und mehrere Millionen Mark in schweizerische und italienische Immobilien und Wertpapiere investiert zu haben.

Ein Untersuchungsausschuss prüfte, ob Oettinger sich des Geheimnisbruchs schuldig gemacht und die Ermittlungen behindert habe. Doch der Verdacht gegen Oettinger lief ins Leere. Die italienische Justiz eröffnete in den 90er-Jahren einen Prozess gegen Mario L., aber 1999 wurde der mangels Beweisen freigesprochen.
Die „Operation Stige“ (italienisch für Styx, den Unterweltfluss der griechischen Mythologie) ist ein wichtiger Meilenstein im Kampf der italienischen Ermittler gegen die Expansion der ’Ndrangheta aus Kalabrien, die heute weltweit operiert und zu den gefährlichsten und mächtigsten kriminellen Organisationen der Welt aufgestiegen ist. Sie macht einen Jahresumsatz von schätzungsweise 150 Milliarden Euro – mit Drogen- und Waffenhandel sowie Geldwäsche, aber auch mit Investitionen in legale Unternehmen. Mit ihrer finanziellen Kraft kauft sie sich in die Politik ein.

Ermittler warnt vor langem Arm der Mafia

„Operation Stige“ ist dafür exemplarisch. Staatsanwalt Gratteri, der das kriminelle Potenzial der ‘Ndrangheta wahrscheinlich besser kennt als irgendein anderer, ist ständig in Europa, den USA und Kanada unterwegs. Um zu ermitteln und um seine Arbeit mit anderen Fahndern zu koordinieren. Er rät seit vielen Jahren, die Gefahr auch in Deutschland nicht zu unterschätzen. Am Dienstag warnte Gratteri vor allem vor der Infiltration der Politik durch Mafia-Familien.

„Wir wissen, dass die Kriminellen die Politiker heute nicht mehr erpressen müssen, um Einfluss in der Politik zu gewinnen“, sagte er am Dienstag auf einer Pressekonferenz über die aktuellen Razzien. „Die Politiker wenden sich an die Clans, um bei Wahlen deren Unterstützung und Stimmenpakete der Wähler zu erhalten. Sie gestatten der Mafia mitzuregieren, ihre Leute direkt auf politische Posten und in die öffentliche Verwaltung zu setzen“, so Gratteri.

Er weiß, dass gerade die `Ndrangheta – im Gegensatz zur sizilianischen Cosa Nostra und der neapolitanischen Camorra – international Respekt und Ansehen bei kriminellen Organisationen, Drogen- und Waffenhändlern genießt, weil sie streng hierarchisch organisiert ist und es kaum Überläufer und Kronzeugen gibt. Ihre Hauptquartiere liegen nach wie vor in kalabrischen Dörfern, hoch in den Bergen und von der Außenwelt abgeschnitten, häufig komplett von den Clans regiert.
So lag die Zentrale des Strangio-Clans im kleinen San Luca, in dem kleinen Ort Ciro das Hauptquartier der mit ihr alliierten Farao-Marincola-Familie. Gratteri weiß, wie das Leben in diesen Dörfern funktioniert: Er stammt aus dem kleinen Bergdorf Gerace in dieser Gegend.