“Ich erzähle dir das alles, weil ich dich wie eine Schwester
betrachte”, sagt Carmine. Er sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen
auf einem vergoldeten Rokokostühlchen, ein zierlicher Mann auf einem
zierlichen Stuhl.
Carmine hat sehr kleine Füße, überhaupt ist er ungewöhnlich
feingliedrig, seine Taille ist so schmal wie die einer Frau. Sein Hemd
ist bis zum Bauchnabel aufgeknöpft und gibt den Blick auf eine fast
haarlose Brust und eine schwere weißgoldene Kette frei, an der ein
herzförmiges Medaillon mit zwei in Gold gravierten Porträts hängt.
Gerade hat Carmine erzählt, wie ihn seine erste Frau ins Gefängnis brachte.
Er habe ihr den Lauf seiner Pistole in den Mund gesteckt, erzählte
seine Frau den Carabinieri. Kurz darauf nahmen sie Carmine fest. Neun
Monate lang war er hinter Gittern, wegen Mordversuchs.
Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, wollte er seine Frau umbringen.
Wie kamen wir eigentlich darauf?
Ach ja, es ging um Liebe. Um die geht es oft in seinen Liedern:
Mal wird die Liebe nicht erwidert, mal dauert sie nur einen
Wimpernschlag lang, mal ist sie aussichtslos. Herzsprengend ist sie
immer. In “Ich leide noch” vertraut sich ein verlassener Mann einem
Freund an. “Ruf mich an” erzählt von heimlicher Liebe.
24 Lieder hat Carmine komponiert, nachts, wenn er nicht schlafen
konnte, weil die Eingebung in ihn fuhr, weil er sehnsüchtig war oder
nervös.
“Du weißt, wer ich bin. Du kennst meinen Namen”, sagt der zarte Mann
sanft. Carmine Sarno ist Musikproduzent, einerseits. Und Mitglied eines
der mächtigsten Camorra-Clans Neapels, andererseits. Jeder in der Stadt
weiß, was sein Name bedeutet – die Sarnos beherrschen die gesamte
östliche Peripherie bis weit in das Umland.
Und Ponticelli ist ihre Festung.
Dort betreibt Carmine die Agentur “La Bella Napoli” – wobei das
schöne Neapel hier eher wie ein Vorhof zur Hölle aussieht. Mit in der
Sonne gärenden Müllsäcken, Solarien, die “Fuego” heißen, Feuer, und der
“Bar Coppola”, in der junge, nervöse Männer schon morgens Wassergläser
voll Whisky Sour trinken. Um dann eine Strophe eines Liebesliedes zu
singen.
Wenn sie Carmine erblicken, dann lächeln sie so breit, dass man ihr vom Kokain zerfressenes Zahnfleisch sieht.
Carmine vertritt 150 Sänger, die besten Neapels sind darunter. In
seiner Agentur ist eine Wand mit den Postern der Stars tapeziert. Es
sind Männer, denen Tätowierungen aus den Hemdkragen kriechen; Männer mit
strichfein geschnittenen Koteletten.
Männer, die sich “Alessio” nennen oder “Nello Amato” und bei deren
Anblick die Mädchen so hysterisch anfangen zu weinen, als habe sich
gerade vor ihren Augen das Blut des heiligen San Gennaro verflüssigt.
“E carcerate” heißt einer der Hits aus Carmines Werkstatt: “Die
Häftlinge” ist eine Märtyrer-Hymne über jene Männer, die ihre Kinder
nicht aufwachsen sehen dürfen.
Carmine Sarno ist ein Mann mit weichem Herzen. Und mit Panzerglas vor
den Fensterscheiben. Er wohnt einen Steinwurf von der Agentur entfernt
in einem jener unverputzten Plattenbauten auf Stelzen, aus denen ganz
Ponticelli zu bestehen scheint.
Das Panzerglas sei notwendig gewesen, weil finstere Typen von Zeit zu
Zeit die Gegend unsicher machten. Was eine elegante Umschreibung ist
für jenen Camorra- Krieg, der zwischen dem Clan der Sarno und jenem der
Panico herrscht und der sich mal in einer Autobombe entlädt und mal in
einem Kopfschuss.
Der Krieg der Clans tötete auch Carmines Neffen – dessen Antlitz in
Gold graviert nun auf seiner Brust ruht. Der Junge war von einer
Autobombe in die Luft gesprengt worden; sie galt eigentlich dessen
Vater.
“Nur die Hände sind übrig geblieben”, sagt Carmine.
Anders als die sizilianische Mafia ist die Camorra horizontal
organisiert; es gibt keine Hierarchie und kaum Regeln, viele wollen Boss
sein, das geht nicht ohne Mord. Jeden dritten Tag wird in Neapel ein
Mensch getötet.
Obwohl seit 1994 mit Antonio Bassolino ein “Hoffnungsträger” die
Wiedergeburt Neapels beschwört, erst als Bürgermeister, dann als
Regionalpräsident, gibt es nach wie vor jährlich rund 100 Morde,
Analphabetismus unter Jugendlichen und Müllberge, die bis in den ersten
Stock reichen.
Und dazu muss die Stadt auch noch politisch-korrekte
Lippenbekenntnisse aushalten: “Die Moral war immer mein Leitstern”,
verkündete Antonio Bassolino, als die Staatsanwaltschaft Anfang 2008
gegen ihn Anklage wegen Betrugs und Amtsmissbrauchs erhob.
Früher wurde der Regionalpräsident wie ein Heiliger verehrt – er stand als Krippenfigur in der Via San Gregorio.
Heute hängen lebensgroße Puppen mit der Aufschrift “Bassolino” an den
Bäumen der Innenstadt. Der Linksdemokrat hat sich vor allem mit seiner
Vetternwirtschaft verhasst gemacht. Sein Netzwerk kontrolliert in der
Stadt jeden öffentlichen Auftrag. Und die Neapolitaner mussten
feststellen, dass die Camorra in den 14 Jahren der Bassolino- Regierung
bestens gediehen ist: so gut, dass sie heute als Neapels System
bezeichnet wird: “il sistema”.
Nicht zufällig ist der neue Name der Camorra kein Dialekt-Ausdruck,
sondern sprachlich neutral, ganz so, als sei “das System” das
Natürlichste der Welt, eine Gesellschaftsordnung, ein Gegenstaat, eine
Alternative.
Das Wort “sistemare” bezeichnet nicht nur “in Ordnung kommen, sich
einrichten”, sondern auch, “jemandem eine Arbeit besorgen, eine Position
verschaffen”.
In der neapolitanischen Bronx bedeutet dies, dass Kinder im Monat
1500 Euro damit verdienen, im Auftrag der Camorra einen
Drogenumschlagplatz zu bewachen.
Anfang 2007 verhaftete die Polizei in Ponticelli 71 Clanmitglieder
der Sarnos und der Panicos, denen neun Morde, zwei Mordversuche, drei
Körperverletzungen und ein vereiteltes Attentat zur Last gelegt werden,
überdies Raub, Wucher, Drogen- und Waffenhandel.
Kalaschnikows, Schnellfeuergewehre, Pistolen und Sprengstoff wurden
in jenen Bussen nach Neapel geschmuggelt, mit denen polnische
Haushaltshilfen anreisten. Außerdem beschlagnahmten die Ermittler 20
Unternehmen, dazu millionenteure Immobilien, Autos, Jachten.
Und in Ponticelli sieht man ausgebrannte Autowracks, selbst gemauerte
Hausaltäre und das Graffito “Mein Atem gehört dir”. Denn hier rührt
sich kein Lufthauch ohne die Zustimmung der Sarnos. Wachposten melden
jede verdächtige Bewegung – die eines verdeckten Ermittlers, eines
abtrünnigen Clan- Mitglieds oder eines Motorradfahrers mit Helm; in
Neapel tragen nur die Killer Helme.
Die Sarnos, sieben Brüder und fünf Schwestern, herrschen seit Anfang
der 1980er Jahre in Ponticelli. Drei der Brüder sind im Gefängnis –
insgesamt sind 16 Mitglieder der Familie in Haft. Der älteste Bruder
Ciro gehörte bereits im Alter von 30 Jahren zu den gefährlichsten
Camorristi Neapels und sitzt mit Unterbrechungen seit fast 18 Jahren –
weshalb ihm Carmine das Lied “Ciro, Ciro” widmete, in dem er das Los
seines Bruders beklagt.
Ciro wird “o` sindaco” genannt, der Bürgermeister, weil er sich 1980
zum Gebieter über das Volk der “terremotati” erklärte: jener vom
Erdbeben Vertriebenen, die Ponticellis Ruinen besetzten.
Bauunternehmer hatten Subventionen kassiert und dann Betonskelette
hinterlassen, “o` sindaco” hatte die Behausungen zugeteilt. Und für
Strom, Wasser, Gasanschlüsse gesorgt.
So verschaffte er sich die Ergebenheit derer, die nichts zu verlieren
hatten. Als Ciro Sarno 1990 wegen illegalen Waffenbesitzes verhaftet
wurde, brach eine Revolte aus: Von den Balkonen hagelte es Bratpfannen,
Blumentöpfe und Geschirr auf die Polizeibeamten.
Carmine spricht ungern über solch traurige Dinge. Lieber spricht er
über seine Lieder. Die stets von wahren Geschichten aus Ponticelli
inspiriert sind: wie “Mit Jesus vereint” über den kleinen Francesco
Paolillo; er starb beim Spiel in einer nicht gesicherten Bauruine. Zu
seinem Gedenken hat Carmine einen Videoclip produziert und einen kleinen
Altar mauern lassen, unweit der Stelle, an der Francesco in den Tod
stürzte.
Bei dem Gedanken daran schweigt Carmine, und man spürt in seinem Büro
nichts anderes als Pietät und den eisigen Wind der Klimaanlage. Deren
Luftzug weht über eine verkümmerte Yucca, das Bild von Padre Pio, der
über einem Keyboard wacht, und einen Kabarettisten.
Mit demütigem Blick entrollt er ein Plakat und versucht Carmine für
sein Programm zu begeistern, das garantiert jugendfrei sei, einfache
Texte, keine Schimpfworte. Er tritt zusammen mit seiner Tochter auf, die
neuneinhalb Jahre alt ist, ein Naturtalent, der Auftritt sei
ausbaufähig und geeignet für Kommunionfeiern und Hochzeiten, für Taufen
und Firmungen. Dann erzählt er einen Witz aus seinem Programm.
Carmine lacht nicht, sondern blickt aus dem Fenster. Und erwidert den
Gruß des Briefträgers. Ein Sarno vergeudet sich nicht. Weder in Worten
noch in Gesten.
“Wir sind das letzte Nest des Widerstandes”, sagt Rechtsanwalt
Gerardo Marotta. Wer zu seinem “Italienischen Institut für
philosophische Studien” gelangen will, muss sich in der Via Monte di Dio
den Weg vorbei an meterhohen Abfallhaufen bahnen, weil die Müllabfuhr
wieder einmal streikt.
Im Januar 2008 rückte die Armee an, um in Neapel platzende
Abfallsäcke einzusammeln, aber noch im März verrotteten schätzungsweise
5000 Tonnen Unrat in den Straßen der Stadt.
Neun Sonderkommissare wurden verschlissen, der Advokat kennt das
schon, dieses “Müll-Ballett”, seit 14 Jahren geht das so, seit die
Camorra entdeckte, dass der Müll ihr mehr Geld einbringt als der
Kokainhandel.
Die Camorra betreibt über ihre Firmen nicht nur die Müllabfuhr der
Stadt, sondern verdient vor allem am Giftmüll Europas, den sie
konkurrenzlos preiswert beseitigt, indem sie ihn einfach irgendwo in
Kampanien verscharrt.
Neapel hat die höchsten Müllgebühren Italiens, seit Jahrzehnten macht
die Camorra hohe Profite mit der Müllabfuhr und mit den Mülldeponien,
legalen und illegalen, mit denen sie das Hinterland verseucht hat, mit
Müll, der illegal verbrannt wird und der das Grundwasser und die Luft
mit Dioxin belastet, mit Müllsäcken, die aus den Straßengräben wie
Furunkel wuchern und die nachts, nachdem sie angezündet wurden, wie
Signalfeuer des Untergangs lodern.
In der Region Kampanien gibt es keine einzige funktionierende Abfallverbrennungsanlage.
Und der Notstand wird regelmäßig immer dann ausgerufen, wenn die Kippen
überlaufen – und regelmäßig tun alle Politiker so, als entdeckten sie
erst dann, womit die Camorra ihr Geld verdient.
“Sieben neapolitanische Universitäten sind nicht imstande, das
Problem zu lösen”, sagt der Advokat müde. Bürgermeisterin Rosa Russo
Iervolino brachte sich ins Gespräch, als sie ein Rauchverbot in
öffentlichen Parks durchsetzte.
Marotta macht mit seiner mageren Hand eine Geste, als wollte er eine
Fliege verscheuchen. Er sitzt vor ochsenblutroten Marmorkapitellen, ein
leichenblasser Geist mit Hornbrille und schwarzen Augen. Ungeachtet der
Hitze hat er einen Wollschal um sich geschlungen, ganz so, als würde
dieser Schal ihn davor bewahren, sich zu verflüchtigen.
Der Palazzo Serra di Cassano ist ein Juwel des neapolitanischen
Barock, er beeindruckt mit Fresken und Marmorsäulen und mit einer
Freitreppe aus schwarzem Gestein, die sich hinter dem Hauptportal
emporschwingt. Dieses Portal wird seit 1799 geschlossen gehalten, seit
dem Scheitern der neapolitanischen Republik.
Das Tor werde erst dann wieder geöffnet, wenn man in Neapel die Luft
der Freiheit atme, hatte der Duca di Cassano entschieden: Sein Sohn war
auf Geheiß von Bourbonen-König Ferdinand IV. hingerichtet worden – wie
alle Revolutionäre jener aristokratischen Elite, welche, inspiriert von
der französischen Revolution, die neapolitanische Republik ausgerufen
hatten.
Und wir halten das Portal geschlossen, weil es bis heute keine Freiheit in Neapel gibt”, sagt Gerardo Marotta.
“Keine unternehmerische Freiheit, keine politische Freiheit, nichts. Es
gibt hier nur die Freiheit der Camorra.” Vor mehr als 30 Jahren hat
Marotta unter Einsatz seines gesamten Besitzes das Institut
mitbegründet, um das intelektuelle Erbe der Stadt zu retten. Eine
Festung der Aufklärung in einem Meer von Müll. Gelehrte aus ganz Europa
halten hier Vorträge, Nobelpreisträger und Philosophen, Jacques Derrida
und Hans- Georg Gadamer waren da. Hier spricht man über die Schöpfung
und die Evolution, über die Idee der Gleichheit und den süditalienischen
Humanismus.