Mittwoch, 7. August 2013

Neapel sehen und überleben - ein Besuch im Herrschaftszentrum der Camorra

Neapel zählte jahrhundertelang zu den führenden Metropolen Europas. Jetzt hat die organisierte Kriminalität die Stadt fest im Griff. Die Camorra arbeitet wie ein modernes Wirtschaftsunternehmen und ist gleichzeitig im Territorium verankert. Im März veröffentlichte der Journalist Roberto Saviano sein Buch «Gomorra. Eine Reise durch das wirtschaftliche Imperium und den Herrschaftstraum der Camorra». Ganz Italien geriet in Aufruhr.



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Eine kleine Schar, nur achtzig Leute vielleicht. Viele Männer, die meisten älter als vierzig, und eine Handvoll Frauen. Sie haben sich vor dem Rathaus an der Piazza del Municipio in Neapel versammelt, im Hintergrund dröhnen die Bauarbeiten für die neue U-Bahn-Haltestelle. Es dämmert schon, und die Buchstaben auf den handgemalten Schildern sind schwer zu lesen. «Vergesst Scampia nicht» steht dort. Ihr Anführer hält ein Megaphon in der Hand und gibt den Rhythmus vor. «Lavoro, lavoro - Arbeit, Arbeit!», skandieren sie. Pfiffe. Ein paar Hunde bellen. Manchmal halten die Demonstranten erschöpft inne und holen Atem. Sie sind zu wenige, um große Sprechchöre zu intonieren. Wir halten uns abseits. Aber plötzlich wird ein weißhaariger Mann auf uns aufmerksam. «Sind Sie von der Zeitung? Können Sie nicht etwas von uns erzählen?»


Scampia - ein verrufener Ort

«Man spricht immer nur schlecht von Scampia. Es geht um Drogen und um Morde. Aber von Arbeit ist nie die Rede», mischt sich ein Jüngerer ein, «was sollen die Leute machen, die mit der Camorra nichts zu tun haben wollen und trotzdem dort wohnen?» Die Demonstration droht sich aufzulösen, alle wollen etwas sagen. Wir hören zu. Die meisten der hier Versammelten haben keine Beschäftigung, manche sind Saisonarbeiter im Norden. Wie kommen sie zurecht? Wer gesund ist, versucht es als Tagelöhner. «Ci arrangiamo», man schlägt sich durch. Scampia, am nördlichen Rand von Neapel gelegen, offiziell 40.000 Einwohner, inoffiziell doppelt so viele, ist durch die Berichterstattung der letzten Wochen zu einem der kriminellsten Orte in ganz Europa geworden. «Das System» wird die Camorra dort genannt, als sei sie eine staatliche Einrichtung.




Was seit je in den neapolitanischen Zeitungen beklagt wurde, hat der 27-jährige Journalist Roberto Saviano in seiner atemraubenden literarischen Reportage «Gomorra» auf den Punkt gebracht: die Beherrschung ganzer Stadtviertel, die internationalen Verflechtungen, die Unterwanderung legaler Bereiche, das perfekte Rekrutierungsprinzip der Clans von Scampia. In der gesichtslosen Vorstadt mit ihren vierspurigen Straßen und den Hochhäusern mit abblätterndem Verputz werden so viele Drogen und Waffen umgeschlagen wie sonst kaum irgendwo. Ein Drittel aller Fünf-Personen-Haushalte lebt unterhalb der Armutsgrenze, und in den verwahrlosten Wohnblocks bezahlt nur selten jemand Wasser, Strom, Heizung oder Miete.


Roberto Saviano


Aus Angst, dass die Kinder in den Strudel der Camorra geraten, lassen viele Mütter ihre Söhne ab einem bestimmten Alter nicht mehr draußen spielen. «Aber wir müssen nicht nur inmitten von Verbrechern leben», sagt eine Frau, die gerade ihre Stelle als Putzfrau mit Hinweis auf ihren Wohnort verloren hat, «wir werden auch noch wie Verbrecher behandelt.»


Unser täglich Schutzgeld

Um die Ecke der Piazza del Municipio liegt die Einkaufsstrasse Via Toledo. Weihnachtliche Lichterketten, die eleganten Auslagen und die flanierenden Familien verbreiten eine friedliche Stimmung. Wir sind am Dante-Denkmal verabredet und treffen die Schriftstellerin Valeria Parrella.


Valeria Parrella


Sie ist 32 Jahre alt und hat mit zwei Erzählungsbänden auf sich aufmerksam gemacht, in denen die Camorra immer wieder auftaucht. Eine ihrer schönsten Geschichten heißt «Die Signora, die ich werden wollte» und erzählt von einem Mädchen aus den heruntergekommenen quartieri spagnoli im Herzen der Stadt, das den kruden Darwinismus der Straße für die eigenen Zwecke zu nutzen weiß. Mit einer Mischung aus Instinkt, Stolz und ruppigem Beharrungsvermögen macht sich die gerissene Schönheit einen Camorrista gefügig, lässt sich erst eine Wohnung kaufen und dann eine Boutique, bis sie per Eheschließung in die Oberschicht vordringt.

«Wer in Neapel lebt, kommt zwangsläufig in Berührung mit der Camorra. Mich interessiert daran aber nur der menschliche Aspekt», erklärt die zarte Valeria Parrella. «Wenn Personen aus sozial schwachen Familien die Camorra als einen Ausweg aus ihrer Misere begreifen und keine andere Möglichkeit sehen, gehe ich dem nach.» Sie ist fasziniert von der starken Durchmischung der Gesellschaftsschichten in der Innenstadt, wo man oft sogar in denselben Häusern lebt. Geändert, sagt Parrella, habe sich in den letzten zehn Jahren überhaupt nichts. «Es gibt genauso viele Tote wie damals. Die Weltöffentlichkeit ist nur plötzlich wieder auf die Lage in Neapel aufmerksam geworden. Das sind diese zyklischen Medienkampagnen, sonst nichts.»


Claudio Michele Mancini


Am selben Abend erfahre ich von einem Touristikmanager, der wegen seiner Kontakte zur Camorra die Lizenz verloren hatte, mit 16 Schüssen ermordet. Und am nächsten Tag berichtet der «Corriere del Mezzogiorno», der Süditalien-Teil des Mailänder «Corriere della Sera», unter der Überschrift «Unser täglich Schutzgeld gib und heute» von selbsternannten Parkplatzwächtern, die telefonisch Vorbestellungen für illegale Parkplätze entgegennehmen.


Soziales Engagement

«Heute sind viele indirekt in die kriminellen Strukturen verwickelt. Es ist inzwischen auch kein System mehr, das von unten kommt. Es hat sich in allen Sphären etabliert, Bauwesen, Bekleidung, Nahrungsmittel. Und es scheint sich für alle zu lohnen», sagt die Schriftstellerin Antonella Cilento, der wir am Morgen gegenübersitzen im «Gambrinus», dem ältesten Café der Stadt mit goldenem Stuck, Kristalllüstern und Spiegeln.


Antonella Cilento


Während Damen in Pelzmänteln neben uns Cappuccino trinken und den letzten Theaterabend kommentieren, berichtet uns die 36-Jährige mit lebhaften Gesten von ihrer Arbeit. Seit 1993 betreibt Cilento die Schreibschule «La linea scritta» und führt auch immer wieder Projekte an Schulen in der Umgebung von Neapel durch, wo die Camorra besonders präsent ist. «Für die Kinder der Clans ist der Weg vorgezeichnet. Selbst Unterbringungen in Pflegefamilien, wie es dort versucht wird, nützen nichts.»

Aber besonders bedrückend findet sie kriminelle Verhaltensweisen im Alltag. «Meine Mutter ist Schuldirektorin. Die Tochter eines Notar-Ehepaares wollte die Klasse wechseln. Die Eltern haben sich nicht an meine Mutter gewandt. Stattdessen kam es über einen Camorra-Autoschieber zu einem Erpressungsversuch.» Eigentlich spüre man immer noch die Folgen der missglückten Revolution von 1799, meint die Autorin, als aufgeklärte Bürger und Adlige einen Wandel herbeiführen wollten und vom Volk niedergemetzelt wurden. Diese Spaltung, von der auch der große alte Mann der neapolitanischen Literatur, Raffaele La Capria, in seinem Essay «L'armonia perduta» (1986) erzählt, wurde nie überwunden.


Effektvoller Pulp oder Anklage?

Wir besuchen Raimondo Di Maio, der an der Via Mezzo Cannone gegenüber der Universität eine traditionsreiche Buchhandlung betreibt und außerdem Verleger ist.




Dante & Descartes heißt sein kleiner Laden, und es ist einer der schönsten Orte in Neapel, vollgestopft mit Büchern bis unter die Decke und auf den ersten Blick eher unscheinbar. Aber es gibt hier viel zu entdecken. Unter wackligen Stapeln kommen Erstausgaben zum Vorschein; dauernd tritt jemand in den Laden. «Trinkst du einen Kaffee?», ist die häufigste Frage, die Di Maio stellt, und das Gespräch reißt den ganzen Tag nicht ab. In den sechziger Jahren wurde hier eine wichtige Literaturzeitschrift gemacht, und Schriftsteller wie Domenico Rea, Michele Prisco und Raffaele La Capria, inzwischen Klassiker der Moderne, fanden sich regelmäßig ein. Ihre Fotos baumeln über dem Verkaufstisch von der Decke.

Vor einigen Jahren zählte auch Nunzio Giuliano, Bruder des Clan-Oberhaupts Loigino Giuliano, zu den Besuchern von Dante & Descartes. Nunzio hatte der Camorra 1989 öffentlich abgeschworen. «Er war hochintelligent, interessierte sich vor allem für Philosophie. Ich hatte allerdings Schwierigkeiten mit einigen seiner Angewohnheiten, z. B., dass er Geld zu Wucherzinsen verlieh. Sie haben ihn im letzten Jahr dann erschossen wegen einer Racheaktion unter den Familien.»




Di Maio veranstaltet regelmäßig Lesungen aus unveröffentlichten Manuskripten. Roberto Saviano hat hier «Gomorra» zum ersten Mal vorgestellt, Mancini seinen Roman Mala Vita. «Ungeheuer wichtige Bücher. Saviano hat einen riesigen Stein in diesen neapolitanischen Schlamm geworfen. Und er macht die Camorra zu etwas, was man erzählen kann. Mancini prangert die enormen Geldströme in die Steueroasen an, die mit Drogengeld verdient werden.»

Die Soziologin Enrica Morlicchio, eine von Di Maios Autorinnen und Expertin für die Folgen der De-Industrialisierung, ist anderer Meinung. Sie hat viele Untersuchungen in Scampia durchgeführt. «Gomorra» stigmatisiere die gesamte Einwohnerschaft des Viertels: «Saviano sieht nur die schauerlichen Seiten. Für mich ist das ein guter Pulp-Roman.»

Plötzlich steht ein Herr in der Tür, ein Universitätsdozent, und bittet um eine fiktive Rechnung. Er fliegt unter Beschimpfungen aus dem Laden.

 

Zerfall der Moral

Wenn man die Via Mezzo Cannone mit ihren Buchhandlungen und Cafés hinunterläuft, dann nach rechts biegt, sich vom ohrenbetäubenden Verkehrsstrom leiten lässt, noch einmal links um die Ecke geht, gelangt man zu einem verwitterten Hochhaus, das den «Corriere del Mezzogiorno» beherbergt.


Via Mezzo Cannone

Geschäftiges Treiben; Redaktionsschluss ist erst um 22 Uhr 30. Die Anzahl der Toten sei in Neapel, abgesehen von dem Bandenkrieg im Sommer 2004, seit 20 Jahren gleich, erklärt uns der Polizeireporter Gianluca Abate. «Allerdings gibt es in den letzten zehn Monaten einen Anstieg der Raubüberfälle um 38 Prozent. Vor allem die Kinderbanden nutzen das als Einstieg in die kriminelle Sphäre.»

Wie tritt so ein Camorrista eigentlich auf? «Er ist das Gegenteil von einem Mafioso. Mafiosi leben oft ganz einfach und bescheiden, ein Camorrista trumpft immer auf und verprasst seinen Reichtum: dicke Autos, Motorräder, große Villen. Außerdem schmieden hier die Bosse alle drei Tage neue Allianzen. Die Mafia ist dagegen streng hierarchisch aufgebaut.» Selten werden die Camorristi älter als vierzig Jahre. Über die Sitten und Gebräuche der Clans erfährt man bei Saviano viel, denn er hat sich, nach Günter-Wallraff- Art, in ihrer Umgebung aufgehalten, Bekanntschaften geschlossen, sich die Musik auf ihren MP-3-Playern angehört, die sie als Untermalung für Killeraufträge benutzen. Auch wenn die Tatsachen, um die Savianos romanartige Reportage kreist, größtenteils in Zeitungen und im Internet zu finden waren, stellt sie neue Zusammenhänge her, meint der Chefredaktor des «Corriere del Mezzogiorno», Francesco Durante. «Saviano gelingt auch eine literarische Zuspitzung. ‹Gomorra› hat eine sehr eigene Ästhetik.»

Die Morddrohungen, wegen deren Roberto Saviano seit zwei Monaten untergetaucht ist, hält der joviale Blattmacher für untypisch: Eigentlich töte die Camorra eher, bevor jemand etwas schreibe. «Saviano hat ein Phänomen, worüber wir jahrelang auf lokaler Ebene berichteten, zu einem nationalen Thema gemacht. Das ist ein enormes Verdienst.» Die Gefahr sei natürlich, dass das Buch als endgültiger Beweis für die totale Ausweglosigkeit der Lage genommen werde: «So als seien wir unverbesserlich und als sei es das Günstigste, den Süden kurzerhand abzutrennen vom Rest des Landes.»

Mit polternder Stimme betritt der Jesuitenpater Domenico Pizzuti die Redaktion. Er hat lange in Scampia mit Jugendlichen gearbeitet und ist jetzt der wissenschaftliche Leiter einer Forschungseinrichtung der Zeitung, die «Osservatorio della Camorra» heißt und über die jüngsten Entwicklungen informiert. «Die Schließung der großen Fabriken Ende der siebziger Jahre hat vieles verändert und Freiräume für die Camorra geschaffen, es gab plötzlich einen Überschuss an Arbeitskräften», skizziert der Pater die Entwicklung. «Die zweite Kehrtwende war das Ende des Zigarettenschmuggels, der durch den Drogenhandel ersetzt wurde. Die Konsequenz davon ist wiederum die internationale Expansion der Camorra, was Saviano sehr gut aufzeigt.» Es gebe eine Ausdehnung der kriminellen Aktivitäten, die von Schottland bis China reicht. 30 Prozent ihrer Einkünfte investiere die Camorra in den legalen Sektor. «Und dann ist natürlich ohnehin ein Niedergang der Moral zu bemerken. Man könnte auch von Berlusconismus sprechen.»


Feudale Strukturen und Globalisierung

Es ist spät geworden. Weil auch direkt vor dem Redaktionsgebäude der Drogenhandel floriert, begleitet man mich bis zum Rathausplatz. Wie eine schlafende Schildkröte wirkt die Galleria Umberto mit ihren Glaskuppeln, eine ferne Idee von geschütztem öffentlichem Raum. Hinter der Piazza del Plebiscito liegt das tintenschwarze Meer. Ein paar Straßen weiter gabeln wir Giuseppe Montesano auf. Der Schriftsteller mit der tiefen, schleppenden Stimme besitzt viel Sinn für schwarzen Humor. Er hat Flaubert, Baudelaire, Gautier u. a. übersetzt und schreibt für Zeitungen, aber sein Geld verdient er als Philosophielehrer in Secondigliano, das kaum weniger berüchtigt ist als Scampia.


Giuseppe Montesano


Einen erzählerisch und stilistisch rasanten Roman über die Camorra hat Giuseppe Montesano vor drei Jahren veröffentlicht: «Di questa vita menzognera» (Von diesem verlogenen Leben). Im Mittelpunkt der furiosen Groteske stehen die Söhne des Negromonte-Clans. «Ein Problem sehe ich in der Familienideologie des Mezzogiorno. Die Familie ist alles, außerhalb existiert nichts. Das begünstigt feudale Strukturen.» Außerdem weigere man sich hier, erwachsen zu werden: «Italien ist ein Peter-Pan-Land.» Giuseppe Montesano ist seit Jahren mit Roberto Saviano befreundet und schätzt seine Arbeit.

Er beleuchtet die Grauzonen: alltägliche Gewalt und eine völlige Verunsicherung darüber, was richtig oder falsch, was gut oder böse ist. Ist es normal, wenn in einem Bus ein Raubüberfall passiert und dies stillschweigend geduldet wird? «Diese anthropologischen Veränderungen: Das ist viel unheimlicher, als wenn ein Gehirn auf den Bürgersteig spritzt.» Nachdenklich verabschieden wir uns von Montesano. Sich an den apokalyptischen Zuständen zu weiden und sie als uneuropäisch abzutun, wäre leichtfertig. In Neapel kann man beobachten, welche Folgen schwache Institutionen, Kulturzerfall und mangelnder Bürgersinn haben und wie dynamisch sich illegale Strukturen den Anforderungen der Globalisierung anpassen. Die Stadt am Golf ist die Avantgarde und antizipiert Probleme, die in Ansätzen vielen Metropolen zu schaffen machen.

Inzwischen ist es Nacht. Polizisten patrouillieren durch die Stadt, Müllberge lagern an Häuserecken, die 14-jährigen Mädchen sind ausgehbereit, stöckeln zur Piazza hinunter und nehmen auf den Motorrädern ihrer Verehrer Platz. Neapel gehört zu uns. Das sollten wir nicht vergessen.

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