Padre Chirondella gab einem Mafiaboss Kirchenasyl |
Neunzehn Bildchen von Heiligen und -72 von Jesus, zwei Holzkreuze, zwei Bibeln, ein Gebetbuch und diverse religiöse Gegenstände fand die Polizei in der Bauernkate, in der sie am 11. April 2006 Bernardo Provenzano aufspürte, Boss der Bosse der sizilianischen "Cosa Nostra", jener Organisation, die mit "der Mafia" gleichgesetzt wird. In der Kate hatte sich Provenzano Jahrzehnte lang versteckt gehalten.
Ein ähnliches Bild zeigte sich den Fahndern am 11. März 1999: An diesem Tag verhafteten sie in einem hochgesicherten Bunker Giuseppe Piromalli, Boss eines mächtigen Clans der "Ndrangheta", der in Kalabrien verwurzelten Mafia. Die Wände waren, wie die Polizeifotos zeigten, mit christlichen Bildern bedeckt.
Giuseppe Piromalli - berüchtigter Mafiaboss |
Bei Carmine Alfieris, dem Boss der neapolitanischen "Camorra", der am 11. September 1992 festgenommen wurde, fanden sich Bibeln und Beethoven-CDs. Bei Pietro Aglieri, einem Boss der sizilianischen Mafia, standen die Ermittler auf einmal vor einem kleinen Altar, an dem Geistliche zweimal die Woche die Messe gelesen und dem Killer das Abendmahl gereicht hatten. Und dasselbe Bild bot sich bei Cosa-Nostra-Boss Nitto Santapaola.
Pietro Aglieri
Mehr als Folkore
Bei allen italienischen Mafien, auch der derzeit schwächsten, der apulischen "Sacra Corona Unita", finden sich Zeugnisse römisch-katholischer Frömmigkeit. Die Killer scheinen kein Problem damit zu haben, die Schrotflinte, die "lupara", und das Evangelium in Einklang zu bringen. Nun ist die Folklore der Mafia durch Kino, Fernsehen und andere Medien soweit Gemeingut geworden, dass das vielleicht wenig verwundert. Und warum nicht auch ein wenig katholischen Religionskitsch, mag der aufgeklärte Mitteleuropäer denken. Gläubigen Katholiken und schlicht all jenen, die den Zynismus nicht zur Weltanschauung erhoben haben, stellt sich allerdings die Frage: Mafia und eine Religion, zu deren Kern die Ablehnung von Gewalt gehört, ist das nicht eine irrsinnige Kombination?
Wird diese Frage einem Mafioso gestellt wird er pikiert antworten: "Was erlaubst du dir? Mafia und Katholizismus gehen sehr gut zusammen." Und das, obwohl Papst Johannes Paul II. am 9. Mai 1993 in einer Predigt im sizilianischen Agrigento deutliche und seitdem viel zitierte Worte fand: "Bekehrt Euch! Eines Tages wird das Urteil Gottes kommen!" (Convertitevi! Un giorno sarà il giudizio di Dio!).
Dabei ist der Glaube einer der wichtigsten Bestandteile mafiöser Identität. Bernardo Provenzanos handgeschriebene Zettelchen, mit denen er aus seinem Versteck mit der Außenwelt kommunizierte und Befehle erteilte, begannen und endeten immer mit einer Wendung, in denen er den Empfänger dem Schutz Gottes oder der Madonna empfahl. Er gab Mordbefehle und schmückte sie mit Gleichnissen aus dem Lukasevangelium. Die ganze Art sich auszudrücken, war die eines tiefgläubigen katholischen Großvaters. Ja, die italienischen Mafiosi fühlen sich nicht als Sünder, sondern sind überzeugt, dass Gott ihre Untaten gutheißt.
Das lange Schweigen
Das weiß die römisch-katholische Kirche seit anderthalb Jahrhunderten - eben solange, wie es die Mafien gibt. Trotzdem dauerte es bis 1982, dass ein Kirchenmann zum ersten Mal öffentlich Stellung bezog, bei der Grabrede für den von der Mafia ermordeten Polizeigeneral Carlo Alberto dalla Chiesa.
Carlo Alberto dalla Chiesa
Es dauerte also einhundertfünfzig Jahre, bis die katholische Kirche etwas sehr einfaches erklärte, nämlich dass sich mafiöse Religiosität und katholischer Glaube nicht vereinbaren lassen. Wer sich mit dem Glauben der Mafia beschäftigt, kommt am langen Schweigen der Kirche nicht vorbei. Und welche Rechtfertigungen gab es dafür? Handelte es sich um das Schweigen des Durchschnittsbürgers, der einfach Angst hat?
Hätte sich die Kirche schon vor hundert Jahren so geäußert, wie sie das heute tut, wäre die Lage heute anders. Erst recht, wenn die Kirche die Mafia seinerzeit exkommuniziert hätte. Oder vor fünfzig Jahren, als sie zum Beispiel die Mitglieder der Kommunistischen Partei Italiens vom Abendmahl ausschloss.
Wenn das Mafiaproblem im italienischen Süden - und davon ausgehend weltweit - auch ein kulturelles ist, müssen diejenigen Bildungsinstitutionen in Frage gestellt werden, die für die Gesellschaft und das in ihr herrschende Klima mitverantwortlich sind. Und dazu gehört im Süden Italiens, im "Mezzo-giorno", noch vor den staatlichen Einrichtungen die römisch-katholische Kirche. Denn der Süden ist im Guten wie im Bösen vom Katholizismus geprägt, von einer Kirche, die das Evangelium predigt, die gute Botschaft, und sich dabei auf eine so außergewöhnliche und friedfertige Figur wie Jesus Christus beruft, die Beispiele gelebter Nächstenliebe lieferte, aber leider auch die Rechtfertigung für Mörder.
Nichts zu versöhnen
Wer dieser Spur folgt, darf sich nicht auf eine Erklärung einlassen, die Kirchenmänner immer mal wieder anbieten: Es gehe um die Versöhnung der Gegensätze. Aber hier gibt es nichts zu versöhnen. Deutlich wird das Problem an der Seligsprechung des Anti-Mafia-Priesters Pino Puglisi, der in Palermo wirkte, der Hauptstadt Siziliens. Seliggesprochen wird ein Mensch, der als Märtyrer gestorben ist, der von Leuten getötet wurde, die den Glauben hassen, den das Opfer repräsentiert. Aber Padre Puglisi wurde am 15. September 1993 von katholischen Mafiosi ermordet.
Padre Pino Puglisi
Und das stellt ein schwieriges theologisches Problem dar. Wie soll die Kirche aus der Verlegenheit herauskommen, dass die Mörder Puglisis regelmäßig die Kirche besuchten und beichteten, denen das Abendmahl gereicht wurde, die in der Beichte losgesprochen wurden, bei Prozessionen mitmarschierten und die Heiligen auf der Schulter trugen? Ja, es ist eine christliche, katholisch geprägte Gesellschaft, die die Cosa Nostra, Ndrangheta, Camorra und Sacra Corona Unita hervorgebracht hat. Sie sind in den vier Regionen Italiens entstanden, die den höchsten Gottesdienstbesuch aufweisen. Gibt es da einen Zusammenhang? Oder muss man das als zwei völlig getrennte Phänomene betrachten? Schließlich hat ja auch die Kirche Opfer zu beklagen. Mehr noch: Menschen wie Padre Puglisi sind geradezu Vorbilder, was die Opferbereitschaft angeht. Doch wenn man die Zahl derer, die aus den Reihen der Kirchenmänner der Mafia zum Opfer gefallen sind, mit der von Mafiaopfern aus Zivilgesellschaft und Staat vergleicht, sieht es anders aus.
So wurden allein nach Kriegsende in Sizilien fünfzig Gewerkschafter, Sozialisten und Kommunisten von der Mafia ermordet. Zu denken ist auch an die Staatsanwälte, die Polizisten, Justizbeamten, Unternehmer, kleinen Händler, die einfachen Bürger.
Friedliche Koexitenz
Dabei könnten die zölibatär lebenden kirchlichen Amtsträger mutiger sein als andere, müssen sie doch weniger Rücksicht auf Familienangehörige nehmen. Man kann es zuspitzen: Zwischen katholischer Kirche und Mafia hat es im Wesentlichen nie einen Konflikt gegeben. Vielmehr herrschte zwischen ihnen lange Zeit eine friedliche Koexistenz.
Politisch hat das Anti-Mafia-Staatsanwalt Vincenzo Macrì einmal so zusammengefasst: Im dem vom Kalten Krieg besonders gebeutelten Italien standen im Norden auf Seiten der herrschenden Eliten faschistische Terroristen zusammen mit der Nato-stay-behind-Organisation "Gladio", die für das Massaker am Bahnhof von Bologna 1980 verantwortlich war. Und in der ganz anders verfassten Gesellschaft des Südens bediente man sich des Terrors der Mafien.
Vincenzo Macrì - Vice-General-Staatsanwalt
Aber hat sich die Kirche vielleicht nur deswegen so wenig um die mafiose Religion des Aberglaubens gekümmert, weil diese ein randständiges Phänomen darstellt? Doch so ist es nicht. Denn die große Masse der Katholiken Süditaliens lebt ihren Glauben genau wie die Mafiosi: Sie besucht die Messe, beichtet, lässt ihre Kinder taufen, stellt Firmpaten und nimmt an Prozessionen teil. Wenn die Mafiosi abergläubisch sind, dann ist es die große Mehrheit im Süden auch.
Ruhiges Gewissen
Der Katholizismus hat den Mördern - unfreiwillig - ein ruhiges Gewissen verschafft. Belegt ist das Beispiel eines Mafiakillers, der vor seinen Morden immer zur Beichte ging. Sünde ist für die katholische Kirche eine Beleidigung Gottes. Ob Mord oder Diebstahl, es handelt sich aus der Sicht der Kirche um zerstörtes Vertrauen zwischen Gott und Mensch. Und Vergebung erlangt man, indem das Vertrauensverhältnis mit Gott wieder aufgebaut wird. Doch das steht oft im Widerspruch zur Wiederherstellung eines Vertrauensverhältnisses zur Gesellschaft. In der römisch-katholischen Beichtpraxis scheint es nicht darum zu gehen, dass der Beichtende den Schaden wieder gutmacht, den er angerichtet, Einzelnen und der Gesellschaft zugefügt hat. Eine Gefängnisstrafe scheint da auszureichen. So drängt sich manchmal der Eindruck auf, der Weg vom Verbrechen zur Vergebung ist aus kirchlicher Sicht arg kurz, ohne große Leiden und persönliche Opfer des Übeltäters.
Kardinal Carlo Maria Martini, der Alterzbischof von Mailand, hat den Finger in die richtige Wunde gelegt: Er kritisierte, dass in der Beichtpraxis seiner Kirche das Verhältnis zwischen Tat und Buße nicht stimme. Warum sollte die Kirche einem Mörder nicht auferlegen, denjenigen Buße zu leisten, denen er den Vater, die Tochter oder Mutter weggenommen hat? Ja, warum betrifft die Vergebung im Beichtstuhl nur das Verhältnis von Mensch und Gott und nicht auch das zwischen den Menschen?
Kardinal Carlo Maria Martini
Der Bischof der kalabresischen Diözese Locri-Gerace, Giuseppe Fiorini Morosini, hielt 2010 bei der Wallfahrt nach Polsi, zur "Madonna vom Berge", das die Ndrangheta als Heiligtum betrachtet, eine bemerkenswerte Predigt. In ihr äußerte sich der ganze Schmerz eines Mannes der Kirche. Und doch nannte er die Mafiosi "Brüder", die "gefehlt" hätten.
Bischoff Giuseppe Fiorini Morosini
Der Bischof sagte zwar, dass Mafiosi und Kirchenleute nichts gemein hätten und jene den heiligen Ort der "Madonna vom Berge" schändeten. Dann aber meinte Morosini: Wenn diese zum Wallfahrtsort mit anderen Absichten kämen, sei das ihr Problem. ("È un problema loro e non nostro").
Gottes Missfallen
Wie das? Wenn ein hohes Heiligtum der Kirche von Mördern aufgesucht wird, ist das nur ein Problem der Mörder? Es ist doch eines aller Beteiligten. Dabei müsste es für die Kirche sehr einfach sein, die Mafia zu bekämpfen. Sie müsste ihnen nur sagen: "Ihr werdet nicht erlöst, solange ihr euch nicht mit dem Staat und mit der Gesellschaft versöhnt." Doch solange den Mafiosi gesagt wird, sie seien "Brüder", wenn auch fehlgeleitete, auf deren Bekehrung die Kirche wartet, solange wird es keinen Fortschritt im Kampf gegen die Mafia geben.
Ein letzter Punkt: Warum verhält sich die katholische Kirche so hart zu den Kronzeugen gegen die Mafia, den "pentiti", und so offen zu den stillschweigenden Aussteigern? Es gibt Erklärungen von Kirchenleuten, wonach die "pentiti" Gottes Missfallen erregten, weil sie dazu beitrügen, dass Christen festgenommen würden. Und das sei kein christliches Verhalten. Die katholische Kirche erklärte, eine Reue nur vor dem Gesetz und nicht auch vor Gott sei keine.
In der Zeit des Terrorismus seit den Siebzigerjahren trug sich die Kirche nicht mit solchen Bedenken, im Gegenteil: Diese Epoche wurde auch dadurch überwunden, dass viele Priester die meist jungen Leute aufsuchten, um ihnen ins Gewissen zu reden und sie zu Aussagen zu bewegen. Aber die Kronzeugen gegen die Mafien werden nicht ermutigt. Die Kirche liebt die Aussteiger, die im Frieden mit Gott leben wollen, aber keine Aussage machen und niemanden anklagen. Doch das erinnert an das Mafiagesetz des Schweigens, die "omertà".
Zwischen "sich lossagen" und "nicht aussagen" besteht ein kulturelles Band. Wer so handelt bleibt ein "Ehrenmann". Und ein guter Katholik. Dabei ist klar, dass das Schweigen der Mafia nutzt. Daher hat das Zentrum des sozialen Widerstand im kalabresischen Reggio das Motto "Der erste Schritt ist das Benennen" (Il primo passo e nominarla).
Die Existenz der Mafien zeigt letztlich auch eine Erfolgslosigkeit der Kirche, ihrer Bekehrungsversuche und ihres religiösen Formalismus. Aber wenn sich die katholische Kirche nicht geschlossen gegen die Mafia stellt, wer soll es sonst tun? Der Einzelne im Süden wird die Mafien nicht besiegen. Und das bekommen auch wir im scheinbar ganz anders verfassten Norden zu spüren. Spätestens seit den Ndrangheta-Morden von Duisburg im Jahr 2007 kann das jeder Deutsche wissen.
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