Italien gilt als das
korrupteste Land Europas. Das organisierte Verbrechen arbeitet heute
vorzugsweise mit Bestechung statt mit Gewalt.
Ein Kilometer der Hochgeschwindigkeitsstrecke Mailand–Turin
verschlingt 74 Millionen Euro. In keinem anderen Land Europas ist Infrastruktur
so teuer wie in Italien. In Spanien kostet die Strecke Madrid–Valladolid gut 30
Millionen Euro pro Kilometer. In Frankreich genügen auf der Strecke Lyon–Paris
weniger als 2 Millionen Euro pro Kilometer.
Die
Erhebung der amerikanischen Reason Foundation bestätigt, was die Italiener
längst wissen: Ihr Land ist durch
und durch korrupt. Bei jedem dritten öffentlichen Bauauftrag gehe es nicht mit
rechten Dingen zu, heißt es im jüngsten Jahresbericht der Finanzpolizei Guardia
di Finanza. Korruption macht Italien arm. Jedes Jahr werden nach offiziellen
Schätzungen rund 60 Milliarden Euro dem Staat und der Privatwirtschaft geraubt.
Bestechung
und Bestechlichkeit sind für Raffaele Cantone, den Chef der vor einem Jahr
geschaffenen nationalen Antikorruptionsbehörde, das schlimmste aller
italienischen Übel. Korruption, sagt er, sei das Virus, das die ganze
Gesellschaft verseucht habe. Italien sei das korrupteste Land Europas,
behaupten auch Vertreter von Transparency International. Es ist demnach noch
korrupter als Bulgarien und Griechenland, die lange Zeit die Rangliste
anführten.
Geld und
Gefälligkeiten
Schmiergeld floss beim Bau des
Hochwasserschutzes «Mose» für Venedig und bei den Vorbereitungen für die Expo
in Mailand. Von einer «Cupola», ähnlich strukturiert wie die sizilianische
Mafia, sprach die Staatsanwaltschaft, als sie im letzten Jahr einen Bestechungsring
in Rom auffliegen ließ. Dieser hatte sogar aus Sozialhilfe für
Gefängnisinsassen und Einwanderer Profit geschlagen.
Kürzlich musste Verkehrsminister
Maurizio Lupi zurücktreten, weil er falsche Freunde hatte, die wegen
Korruptionsverdacht verhaftet wurden. Die beiden Festgenommenen hatten dem Sohn
des Ministers einen Posten besorgt und ihn mit teuren Geschenken verwöhnt. Der
Minister war deshalb für Ministerpräsident Matteo Renzi nicht mehr tragbar.
Wegen unlauterer Geschäfte wurde vor kurzem auch der Bürgermeister von Ischia
festgenommen. Er hatte beim Bau von Gasleitungen auf der Ferieninsel eine Firma
begünstigt, die ihm 300 000 Euro in bar zuschob, seiner Familie eine
Ferienreise nach Tunesien schenkte und seinem Bruder eine feste Stelle
besorgte.
Aber auch im kleineren Rahmen wird
überall bestochen. So wunderte sich eine junge Wirtin in einem kleinen
Ferienort am Comersee, warum nie Gäste einer nahe gelegenen Ferienanlage bei
ihr essen. Sie hatte versäumt, wie ihr später ein Freund erklärte, an der
Rezeption einen Briefumschlag mit Geld für den Portier zu hinterlegen.
«Für Italiener ist Korruption eine ganz
natürliche Sache», sagt der Mailänder Soziologe und Politologe Nando dalla
Chiesa. Vor ein paar Jahren gründete er die Beobachtungsstelle Organisiertes
Verbrechen, die vor allem die Machenschaften der ursprünglich kalabrischen
'Ndrangheta im Norden Italiens untersucht. «Die Mafia gedeiht mit der
Korruption, und Korruption gedeiht durch die Mafia», sagt der 65-jährige
Universitätsprofessor, der an der Università degli Studi in Mailand im
Fachbereich Soziologie des organisierten Verbrechens unterrichtet. Er war zudem
Parlamentsabgeordneter und ist Autor mehrerer Bücher über Mafia und Korruption.
Sein Vater, der Polizeigeneral Carlo Alberto dalla Chiesa, wurde 1982 von der
Mafia in Sizilien umgebracht.
Jahrzehntelang terrorisierte die Mafia
Italien. Als 1992 Mafia-Killer die Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo
Emanuele Borsellino mit Sprengstoff in die Luft jagten, war ganz Italien schockiert.
Der Gesetzgeber erließ strengere Gesetze, und die Bevölkerung fing an, sich
gegen die Gewalt der Mafia zu wehren. Diese wurde dadurch nicht ausgerottet,
aber geschwächt. Sie änderte ihre Methoden. Die Mafia machte, um sich
auszubreiten, Korruption zur «strategischen Waffe», wie es im jüngsten Bericht
der nationalen Antimafia-Kommission heißt Das Kalkül war einfach. «Mit
Morden riskiert die Mafia hohe Gefängnisstrafen, Korruption birgt jedoch keine
große Gefahr», sagt dalla Chiesa.
Der Gesetzgeber tat in den vergangenen
20 Jahren viel, um gegen das organisierte Verbrechen vorzugehen. «Korruption
und Wirtschaftskriminalität wurden aber ausgeblendet», kritisiert der
Staatsanwalt Franco Roberti. Dabei drangen Mitglieder des organisierten
Verbrechens inzwischen bis in die Spitze italienischer Wirtschaftsunternehmen
vor, vor allem im Norden Italiens. So konnten sie den Wiederaufbau nach den
Erdbeben in der Emilia Romagna und den Abruzzen ebenso kontrollieren wie die
Baustellen für die Expo.
Schutz für Verbrecher
Anders als die meisten Italiener haben
Mafiabosse keine Liquiditätsprobleme. Sie seien offenbar die Einzigen, die noch
Geld zum Investieren hätten, sagen Staatsanwälte. Aus Ermittlungsakten geht
hervor, dass es keine Ausnahme mehr ist, wenn sich Wirtschaftsmanager,
Verwaltungsdirektoren, Politiker und auch Mitglieder der Sicherheitskräfte in
Gesellschaft von Clan-Mitgliedern befinden und sich mit Geld und Gefälligkeiten
korrumpieren lassen. «Bestechung schafft stille Komplizenschaft, die anders als
Bomben keinen öffentlichen Protest hervorruft», sagt der Soziologe dalla
Chiesa.
Mit strengeren Gesetzen will die
Regierung Renzi der Korruption nun Einhalt gebieten. Im Parlament wird
allerdings um jedes Komma gerungen, wenn etwa die Verjährungsfrist bei Fällen
von Bestechung um ein gutes Jahr auf acht Jahre und neun Monate verlängert
werden soll. Ob das abschreckt? In Italien fehlt es bei vielen immer noch am
politischen Willen, gegen Bestechung vorzugehen.
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