Samstag, 8. Juni 2013

Corleone - Verbrechen als Folklore

Corleone - Zwischen verdorrten Hochebenen und kargen Hügeln schmiegt sich das kleine Städtchen Corleone an zerklüftete Felswände, als suche es darunter Schutz. Seine schmalen Gassen und Straßen winden sich wie Gedärme und in den Sommermonaten, wenn der heiße Schirokko aus Afrika weht, herrscht hier oftmals eine Hitze wie in einem Backofen. Dass Mario Puzo seinem Don Vito im Film "Der Pate" den Nachnamen Corleone gab, ist kein Zufall: Seit über hundert Jahren gilt der hiesige Mafiaclan als besonders blutrünstig und verschwiegen.


Corleone


Die meisten Besucher, die heute nach Corleone kommen, parken in der Nähe der Piazza Garibaldi. Auf der einen Seite des Platzes befindet sich das Rathaus mit seinem Uhrenturm aus dem 18. Jahrhundert, auf der anderen die "Central Bar", neben deren Eingang ein von der Sonne verblichenes Filmplakat hängt. Es zeigt den Schauspieler Al Pacino als Michael Corleone, wie er im ersten Teil des "Paten" gemeinsam mit zwei Leibwächtern über sizilianische Felder schreitet.




Und auch im Inneren der Bar ist das Meisterwerk von Francis Ford Coppola allgegenwärtig: Filmszenen bedecken die Wände, man hört leise die Titelmelodie und hinter der Theke wird ein Kräuterlikör ausgeschenkt, der Il Padrino ("Der Pate") heißt und auf dessen Etikett das Stadtbild Corleones abgebildet ist.

"Für die meisten Touristen ist die Mafia heute fast so etwas wie eine Folkloretruppe", sagt Alfredo di Stefano, ein 48-jähriger Polizist, der seit über 20 Jahren in Corleone Dienst tut. "Sie kaufen einen Il-Padrino-Likör als Souvenir, fotografieren den "Platz für die Opfer der Mafia" und besuchen dann noch schnell das Antimafia-Museum. Doch dieser Ort hier", er deutet mit der Hand einen Halbkreis an, "ist keine Filmkulisse. In Corleone wurde das Blut von Hunderten vergossen; aus Corleone stammen die vielleicht grausamsten Paten, die es jemals in der Mafia gegeben hat."




In Corleone gab es keine Proteste gegen die Mafia
 
Die Männer, von denen di Stefano spricht, sind Bernardo Provenzano und Salvatore Riina. Riina, innerhalb der Cosa Nostra nur als "Die Bestie" bekannt, gab 1992 auch die tödlichen Autobomben-Attentate auf die Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino in Auftrag, nach denen sich in Italien erstmals weite Teile der Bevölkerung gegen die von der Mafia ausgeübte Gewalt auflehnten. Nur nicht in Corleone - hier gab es keine Proteste und kein Aufbegehren. Nur Schweigen.


Corleone: Obwohl viele der Straßen wie Filmkulissen aussehen,
wurde in der sizilianischen Stadt selbst keine Szene des "Paten" gedreht



Auch Anna Pelorotto, eine ehemalige Lehrerin, die heute das Anti-Mafia-Museum in Corleone leitet, hat eine Geschichte über die Omerta auf Lager, über das "Gesetz des Schweigens". Es ist ihre Lieblingsgeschichte; sie erzählt sie wahrscheinlich jedem Journalisten, von dem sie über den Ort befragt wird:

"Direkt vor dem Rathaus wurde in den siebziger Jahren ein Mann von der Mafia erschossen. Die Menschen haben sich bei den Schüssen kurz zu Boden geworfen, dann gingen sie einfach weiter. Ein junger Oppositionspolitiker rief dem Bürgermeister zu, man solle doch jetzt die Polizei holen. "Warum rufen Sie die nicht selbst?", erwiderte der Bürgermeister. Der Politiker ist dann zum Metzger gegangen und wollte telefonieren. Das Telefon funktionierte angeblich nicht und auch in der Bar nebenan hieß es, das Telefon sei soeben kaputtgegangen. So ist Corleone gewesen. Damals."



Wohnen bei der "Bestie"

Und heute? Heute soll alles anders sein. Die Polizei fasste Salvatore "Totó" Riina 1993 in Palermo. Der Mafiaführer, der kaum des Schreibens mächtig war, besaß damals Landgüter, Grundstücke und Weinberge im Wert von über 230 Millionen Dollar. Auf Riina folgte Bernardo Provenzano als Capo di tutti Capi - er gab seine Anweisungen mehr als vier Jahrzehnte lang nur aus Verstecken heraus.

Provenzano befahl, wer ermordet, erpresst, entführt werden sollte; die Namen schrieb er auf kleine Zettel, sogenannten pizzini, über die er mit Untergebenen kommunizierte. Als die Polizei Provenzano am 11. April 2006 in einer kargen Hütte drei Kilometer außerhalb von Corleone verhaftete, schlief er wie ein Bauer auf einem einfachen Feldbett. Nur 5000 Euro in bar, fünf Bibeln und ein kleiner Fernseher befanden sich in seinem persönlichen Besitz. Die von ihm beschlagnahmten Häuser, Grundstücke, Hotels und Konten waren mehr als 150 Millionen Dollar wert.

Seitdem führt die Cosa Nostra in Corleone wieder ein Leben im Verborgenen. Die Jahre der offensichtlichen und rohen Gewalt, in denen zeitweise selbst die italienische Nationalgarde eingesetzt wurde, sind vorbei - sie waren wohl auch zu schlecht fürs kriminelle Geschäft. Heute können Touristen im Landhotel "Terre di Corleone" wohnen, einem ehemaligen Gut von Totò Riina, das von Mitarbeitern der Organisation Libera Terra, also "Freier Erde", geführt wird.

Ihnen hat der italienische Staat einige der beschlagnahmten Ländereien übergeben, die sie nun verwalten und bewirtschaften. Auf dem Wein, der von einstigen Mafiagütern stammt, steht auf dem Etikett "Per fare questo vino si sono sporcati le mani ma non la coscienza" zu lesen: "Um diesen Wein herzustellen, haben wir zwar unsere Hände, aber nicht unser Gewissen beschmutzt." Übernachten kann man auch in ehemaligen Mafia-Gütern: Etwa in Terre di Corleone in Corleone, in Placido Rizzotto (San Guiseppe Jato) und der Calamancina Residence in San Vito lo Capo.


"Il Padrino" ist ein großer Erfolg bei den Touristen

Sind Initiativen wie Libera Terra nun ein Zeichen dafür, dass die Mafia in Sizilien allgemein und in Corleone speziell an Einfluss verloren hat? Alfredo di Stefano ist skeptisch. "Sie sind zumindest ein Zeichen dafür, dass die Cosa Nostra versucht, sich im öffentlichen Bewusstsein rar zu machen. Wahrscheinlich lassen sie deshalb auch die jungen Leute in Ruhe, die mit großem Engagement mafiafreie Produkte wie Wein und Pasta herstellen.

Dennoch: Libera Terra hat im letzten Jahr einen Umsatz von rund 500.000 Euro gemacht - der der Mafia wird von staatlichen Stellen auf 180 Milliarden geschätzt; deutlich mehr als der des Autokonzerns Fiat. Schutzgeld, Drogenhandel, Prostitution, Baufirmen - die wichtigsten Einnahmequellen sprudeln nach wie vor.

Dabei wäre es so einfach, meint di Stefano: "Sizilien hat fünf Millionen Einwohner, nur fünf- bis siebentausend davon sind Mitglied der Cosa Nostra. Sie müssten sich nur auflehnen, das Schweigen brechen und zusammenhalten. Aber ich", sagt er und wirkt dabei wie ein sehr altes Kind, "glaube nicht mehr daran."

An der Piazza Garibaldi hält ein Reisebus. Zwei Dutzend Touristen steigen aus; viele davon haben um den Hals eine Spiegelreflexkamera hängen. Ohne Ausnahme fotografieren sie das Filmplakat neben der Central Bar, dann gehen sie hinein. Als sie die Bar fünf Minuten später wieder verlassen, tragen die meisten von ihnen eine Plastiktüte am Arm, in der Flaschen aneinander klappern. "Il Padrino" ist ein voller Erfolg; hier in Corleone.

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