Von Julius Müller-Meiningen
Jahrzehntelang war die italienische Kleinstadt Ercolano am Fuß des Vesuvs
in den Händen der Camorra. Dann zeigte eine Boutiquenbetreiberin ihre Erpresser
an und leitete eine Zeitenwende ein. Der Weg könnte ein Modell für ganz Italien
sein.
«Genau hier ist es passiert», sagt Raffaella
Ottaviano und zeigt mit dem Finger auf die Glastür. Sie steht in ihrer
Boutique, in der es aussieht wie in einer Wäscherei, die Kleider hängen in
durchsichtigen Plastiktüten an den Ständern. In dieser Tür also standen
plötzlich die zwei Gangster. Einer der beiden kräftigen Kerle blieb als Wache
auf dem Trottoir. Der andere trat auf die heute 74 Jahre alte Inhaberin zu. Er
sagte: «Signora, Onkel Giannino will Sie sprechen.» Raffaella Ottaviano, eine
wache Frau, verstand sofort.
Zwei Clans der Camorra, der neapolitanischen
Mafia, kämpften damals in Ercolano um die Vorherrschaft. Links der Hauptstraße,
die vom Vesuv hinunter zu den Ausgrabungen der antiken Stadt Herculaneum führt, hatten die Ascione das Sagen. Rechts
bestimmte der Birra-Clan. Raffaella Ottavianos
Geschäft liegt auf der linken Seite dieser Demarkationslinie namens Corso 4
Novembre. Also fiel ihr Laden in die Zuständigkeit der Ascione.
70 Tote hatte der Krieg der Clans innerhalb
weniger Jahre gefordert, es gab Zeiten, da verging kein Abend ohne Leiche.
Onkel Giannino, das war der Spitzname für den Boss der Ascione. Gesenkten
Kopfes, wie eine hörige Untertanin sollte Ottaviano die erpresserische Macht
der Herrscher akzeptieren und sich die Höhe des Pizzo, des Schutzgelds,
diktieren lassen.
Raffaella Ottaviano aber sagt: «Ich dachte gar
nicht daran zu zahlen.» Sie streicht sich ihr weißes Haar zurecht. Wer denn
dieser Onkel Giannino sei, wollte sie von den Mafiosi wissen. Der Mann in ihrem
Laden reagierte irritiert. Er stelle hier die Fragen, nicht sie. «Ich zitterte
vor Angst, aber ließ es mir nicht anmerken», erzählt die Ladeninhaberin. Nie
zuvor war sie erpresst worden.
das heutige Ercolano |
Nein, sie habe nicht die Absicht zu bezahlen,
sprach die Ladeninhaberin mit fester Stimme. «Signora, Sie wissen, was Ihnen
blüht?», konnte der erstaunte Camorrista noch sagen, als es aus Raffaella
Ottaviano fuhr wie ein Donner: «Raus jetzt, raus aus meinem Laden!» Die
Geschäftsfrau setzte die Mafia vor die Tür. «Wir kommen wieder», drohten die
Gangster.
Das war im Jahr 2004. Der Rauswurf war der
Beginn eines langsamen, leisen, aber unaufhaltbaren Umsturzes in Ercolano.
Ottavianos Widerstand markierte den Anfang vom Ende der Camorra in diesem
kleinen Städtchen wenige Kilometer südlich von Neapel.«Modello Ercolano» taufte der neapolitanische Staatsanwalt Rosario Cantelmo später
dieses Konglomerat.
Das Zusammenspiel von Carabinieri,
Stadtverwaltung und Justiz sowie mutigen Bürgern und Erpressungsopfern, die
sich organisierten, habe das Verbrechen besiegt, sagt Cantelmo. Ercolano,
meinen viele, könnte ein Modell für den gesamten italienischen Süden sein, der
in weiten Teilen noch immer von der Mafia beherrscht wird.
Handkuss vom Kommandanten
«Ich habe die Mauer des Schweigens zum
Einsturz gebracht», sagt Ottaviano ohne falsche Bescheidenheit. Sie nestelt an
ihrer roten Bluse. Dort prangt seit etwa einem Jahr die Anstecknadel mit dem
italienischen Verdienstorden, verliehen vom Staatspräsidenten.
Die Camorra sei eine Krake, sagt Ottaviano.
Wenn sie einen einmal erfasst habe, lasse sie nie wieder los. Deshalb wollte
sie nicht zahlen, ganz einfach. Wie viel Geld der Ascione-Clan genau von ihr
wollte, wisse sie nicht. «Aber wenn du dich ihnen beugst, musst du irgendwann
den Laden zu machen.» Sie hatte Angst, das schon. Aber nach einer Besprechung
mit der Familie zeigte Ottaviano ihre Erpresser an.
Ascione-Clan-Boss Pietro Papale |
Schutzgelderpressung war damals weit
verbreitet in Ercolano. An Weihnachten, Ostern und Mariä Himmelfahrt trieben
die Clans ihre Quoten ein. «Für die Inhaftieren», sagten sie. Auf diese Weise
demonstrierte die Camorra vor allem ihre Macht über die Menschen. Niemand zog
die kriminelle Vorherrschaft in Zweifel. So kam es, dass einige Mitbürger
lieber Abstand nahmen von Ottaviano. «Sei vorsichtig, hol mich lieber nicht
mehr ab», riet ihr etwa eine Freundin.
Ottaviano wollte weiter frei sein, die
Eskorte, die ihr die Carabinieri angeboten hatten, lehnte sie ab. Aber es gab
auch diejenigen, die sagten: «Raffaellina, es ist eine Ehre, neben dir auf der
Straße zu laufen.»
«Meine Anzeige war die erste seit Jahrhunderten»,
sagt Ottaviano. Der damalige Carabinieri-Kommandant David Ellero, ein
vermeintlich kühler Venezianer, ahnte offenbar, dass er Zeuge einer Zeitenwende
geworden war. Nachdem sie auf der Wache Anzeige erstattet hatte, küsste er der
Geschäftsfrau die Hand.
Das Ende der Duldsamkeit
Dieses Gefühl, dass die
Befreiung von der jahrzehntelangen Unterdrückung möglich war, steckte immer
mehr Bürger in Ercolano an. Das Leben war unerträglich geworden. Die Gangster
fuhren mit Motorrädern durch die engen Gassen des Orts, schwer bewaffnet mit Pistolen
oder Kalaschnikows. Nach Sonnenuntergang waren die Straßen wie leergefegt, die
Killerkommandos der rivalisierenden Clans begannen ihr brutales Werk, sie
zündeten sogar Bomben.
in ihrer Pizzeria ging die Mafia-Bombe hoch |
Als auch noch die
Wirtschaftskrise dazukam, nahm es mit der Duldsamkeit ein Ende. «Wir sind
55'000 Einwohner», beschreibt Giuseppe Scognamiglio das damals langsam
wachsende Bewusstsein. «Wie viele Camorristi gibt es in Ercolano? 400, 500,
vielleicht Tausend. Wir sind 55'000! Müssen wir uns das wirklich weiter
gefallen lassen?»
Nein, antworteten an
einem Samstagabend im November 2009 etwa 1500 Menschen und marschierten durch
die Straßen Ercolanos. Junge Aktivisten um Scognamiglio und das Team von Radio
Siani hatten den Marsch gegen die Camorra organisiert. Benannt nach dem Journalisten
Giancarlo Siani, der 1985 im Alter von 26 Jahren in Neapel von der Camorra
ermordet worden war, hatten die Jugendlichen einen Internet-Sender gegründet,
dessen Redaktion am Corso Resina 62 ihren Sitz hat.
Hier wohnte der Clanchef
Giovanni Birra, hier nahm der Marsch seinen Anfang. In der konfiszierten
Wohnung des Bosses, zwischen Türen aus Mahagoni-Holz und exklusiven
Sanitäranlagen, kämpft bis heute ein Team von bis zu 40 jungen Erwachsenen für
den Wandel in der Kleinstadt.
Giavanni Birra |
Das Modell Ercolano nahm Formen an. 2005 war
Nino Daniele Bürgermeister der Stadt geworden. Er marschierte nicht nur bei der
Demonstration mit, unter seiner Ägide annullierte die Stadt Auftragsvergaben an
Firmen aus dem Umfeld der Camorra. Die Gemeinde konstituierte sich als
Zivilklägerin bei allen Prozessen wegen Schutzgeld-Forderung und erließ
Geschäftsinhabern die Steuern, die ihre Erpresser anzeigten. Auch scheinbar
banale Maßnahmen wie die Verbreiterung der Trottoirs wurden ergriffen.
Handtaschenräuber auf dem Motorrad haben es seither schwerer bei ihren
Raubzügen.
Raffaella Ottaviano hatte den Anfang gemacht.
Jetzt folgten in einer Kettenreaktion immer mehr Anzeigen. Der Metzger zeigte
seine Erpresser an, die Bäckerin, die Tabakverkäuferin, der Konditor, der
Restaurantinhaber, der Automechaniker, der Juwelier, der Fischverkäufer, der
Optiker und der Tankstellenpächter. Innerhalb von zwei Monaten war die
Antischutzgeld-Vereinigung mit ihrer Präsidentin Raffaella Ottaviano auf 42
Mitglieder angewachsen. Heute sind es über 80 Geschäftsleute.
Prozess folgte auf Prozess.
Um mildere Haftstrafen zu erzielen, begannen
die Mafiosi mit der Justiz zu kollaborieren. Erst packten sie über die
Pizzo-Erpressungen aus, dann über die Morde. Heute sitzt die gesamte Führungsriege
der Camorra-Clans von Ercolano hinter Gitter, etwa 250 Männer und ein paar
Frauen. Erpressungen, so sind sich alle Beteiligten sicher, gibt es so gut wie
nicht mehr in Ercolano. Das, was von der Camorra übrig blieb, entspreche
gewöhnlicher Kleinkriminalität.
Wachsam bleiben
«Ercolano ist wieder aufgeblüht», sagt Sofia
Ciriello. Vor dem Laden der 38-Jährigen zündeten die Bosse im November 2009
eine Bombe, nachdem sich die Bäckermeisterin geweigert hatte, einen Pizzo von
500 Euro monatlich zu zahlen. Verletzt wurde niemand. Aber man versteht, dass
das lebendige Gewühl auf den Bürgersteigen von Ercolano nach Jahren der Gewalt
nicht selbstverständlich ist. «Heute überlegen es sich die Camorristi zweimal,
bevor sie meinen Laden betreten», sagt Ciriello.
Mario Cutolo |
Auch Matteo Cutolo, der eine Konditorei am
Corso 4 Novembre führt, zeigte seine Erpresser an. Nach ein paar Anläufen,
Geldforderungen von beiden Clans und drei Einschusslöchern im Rollladen seines
Geschäfts rang er sich schließlich dazu durch. Zusammen mit der
Antischutzgeld-Vereinigung erzählt Cutolo seine Geschichte auch in den Schulen
von Ercolano. «Das Wichtigste ist, wachsam zu bleiben», sagt der 40-Jährige.
Einige Bosse sind zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden. «Aber viele
andere kommen irgendwann wieder raus.»
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