- aufbereitet von Claudio Michele Mancini -
Maurizio Prestieri (Anfang fünfzig, genaues Alter unbekannt) stammt ebenso wie sein Chef Paolo Di Lauro, 57, aus dem Elendsquartier Secondigliano. Zusammen mit dem angrenzenden Scampia gehört es zu den ärmsten Bezirken Neapels, von den Neapolitanern auch Dritte Welt genannt. Hier im Norden der Stadt herrschen die höchste Kriminalitäts-, Analphabeten- und Arbeitslosenrate, seit Anfang der neunziger Jahre entwickelten sich die beiden Viertel zu einem der größten Drogenmärkte Europas, vor allem für Kokain. Die Camorra ist hier einer der wichtigsten Arbeitgeber. Häufig verdient die ganze Familie mit; wer nicht loyal ist, stirbt oder zieht weg.
Einst war Maurizio Prestieri einer der großen Bosse der Camorra in Neapel. Neuerdings arbeitet er mit der Justiz zusammen.
Ich bin sprachlos. Dann frage ich: »Und wo genau liegt dieser Schatz?«
»Wenn ich’s wüsste, hätte ich das den Richtern längst gesagt. Einige der Klunker waren so groß, dass sie nicht durch den Flaschenhals passten. Mit Paolo Di Lauros Diamanten könnte man die Autobahn Rom–Neapel pflastern.«
Das erzählt mir Maurizio Prestieri, früher Camorra-Boss in Secondigliano, einem der ärmsten und brutalsten Viertel Neapels (siehe Infobox). Prestieri war die rechte Hand von Paolo Di Lauro, dem Oberhaupt des Di-Lauro-Clans, einem der bis zu seiner Verhaftung 2005 meistgesuchten Camorra-Chefs Italiens.
Maurizio Prestieri kommt zum Interview |
»Heutzutage waschen italienische Drogenhändler ihr Geld vor allem mit Edelsteinen. Die behalten ihren Wert und werden sogar noch wertvoller. Sie lassen sich leicht verstecken und auf der ganzen Welt zu Geld machen. Immobilien, Autos, Villen – das wird alles beschlagnahmt. Banknoten verrotten. Diamanten hingegen ... wie heißt es in der Werbung so schön? ›Diamanten sind unvergänglich.«
Maurizio Prestieri hat niemanden eigenhändig umgebracht, wird aber beschuldigt, dreißig Morde veranlasst zu haben. Doch was ihm noch mehr anhängt, ist die organisierte Kriminalität, mit der die italienischen Mafia-Clans zur Nummer eins auf dem Kokainmarkt geworden sind: Sie haben eine Elitedroge zur Massendroge gemacht. Als Prestieri im Juni 2003 verhaftet wird, ist er ein reicher Mann. Er und seine Familie sind gerade in Marbella, das für sämtliche kriminellen Vereinigungen Europas zur zweiten Heimat geworden ist. Nach vier Jahren Haft beschließt er, mit der Justiz zusammenzuarbeiten, und bislang gelten seine Aussagen als glaubwürdig.
Auftragsmord in Neapels Altstadt / Das Opfer - der Clanchef Nunzio Giuliano |
Als er auszusagen beginnt, bietet ihm der Clan eine Million Euro für jeden Widerruf. Prestieri macht weiter, obwohl er weiß, dass damit das Todesurteil über ihm schwebt. Er hat keine Lust mehr, Boss zu sein.
»Ich bin, wer ich bin«, sagte er, »und was ich getan habe, lässt sich nicht aus der Welt schaffen, aber immerhin kann ich es jetzt besser machen.«
Wir treffen uns mehrmals in einer Kaserne, von seinem und meinem Begleitschutz bewacht. Geheimer Ort, vage Uhrzeit. Staatsanwalt und Polizei haben die Treffen vermittelt. Zu jedem Treffen erscheint der etwa fünfzigjährige Maurizio Prestieri braun gebrannt und äußerst elegant. Grauer oder schwarzer Nadelstreifenanzug, Stiefeletten, Markenuhr. Nicht der leiseste Hauch von Ungepflegtheit, wie sie sonst oft jene umgibt, die nicht mehr am Ruder sind und sich verkriechen müssen. Er lebt mit seiner Familie an einem geheimen Ort, steht unter Hausarrest. Das Gefängnis durfte er verlassen, weil er mit der Polizei zusammenarbeitet. Seine beiden Kinder hat er nie in den Clan eingeführt und zum Studieren ins Ausland geschickt.
»Erinnern Sie sich noch an mich?«, fragt er. »Ich hab Sie mal richtig übel angeblafft.«
Ich habe keine Ahnung, wovon er redet. Doch O’sicco, der Dürre, wie er in Neapel genannt wird, erinnert sich genau.
»Sie saßen in einer Gerichtsverhandlung, und meine Mutter hat mir Küsse zugeworfen. Sie dachten, die wären für Paolo Di Lauro, und haben ein Gesicht gemacht, als wollten Sie sagen: ›Was will die Alte!‹ Und da hab ich Ihnen zugerufen: ›Verpiss dich, du Arsch...‹«
Maurizio Prestieri gehört zu den Bossen, die aus dem Nichts aufgetaucht sind. Secondigliano ist Start- und Zielpunkt seines Lebens.
»Mit dem ersten Geld, das ich mit etwa zwanzig als Dealer verdient habe, wollte ich was machen, das noch niemand in meinem Viertel getan hatte: fliegen. Ich bin zum Flughafen nach Capodichino und hab ein Ticket für einen Inlandsflug gekauft. Wohin, war egal, Hauptsache, möglichst weit weg von Neapel, und der am weitesten entfernte Ort für uns war Turin. Ich war wahnsinnig aufgeregt. Nach der Landung bin ich ausgestiegen, hab eine Runde durch den Flughafen gedreht und bin wieder zurück. Als ich ankam, war das ganze Viertel da und hat applaudiert. Ich kam mir vor wie Gagarin, der Pionier im All. Alle haben mich gefragt: Und, O’sicco, bringt einen dieses Ding wirklich bis über die Wolken?«
Das Vorstadtelend ist der Antriebsmotor des Clans. »Der Staat hätte uns sofort aufhalten können, aber stattdessen sind wir in null Komma nichts reich und mächtig geworden. Die legale Wirtschaft ist auf unser illegales Geld angewiesen«, sagt Prestieri.
Bei diesen Jungs, für die ein Flug von Neapel nach Turin einer Mondfahrt gleichkommt, ist der Wille, es nach ganz oben zu schaffen, mindestens so groß wie die Unwissenheit. Laut Prestieri hatte Raffaele Abbinante, der spätere Boss der »Scissionisti« (»die Abspalter«), als Teenager noch nie einen Scheck gesehen.
»Als mein Bruder ihm eine Lieferung Hasch mit einem Scheck bezahlen wollte, hat er gesagt: ›Was soll ich mit dem Fetzen? Ich will richtiges Geld!‹ Und heute, zwanzig Jahre später, redet er von Aktien, Öl-Investment und Goldpreis.«
Dann erzählt Maurizio weiter: »Wir sind zur Nummer eins geworden, weil wir uns durch nichts haben aufhalten lassen. Wir hatten vor nichts Angst.«
Die Grausamkeit der Secondigliano-Clans wuchs mit dessen finanziellem Geschick. Der Sohn des erwähnten Raffaele Abbinante hat noch nie jemanden umgebracht und soll das Töten lernen. Bei einem Bandenkrieg aus vielen Rohren feuern zu können bedeutet nicht nur Macht und Anerkennung, sondern auch Sicherheit.
»Einmal saß ein Junge in einem Fiat und hat für uns Drogen vertickt. Abbinante forderte seinen Sohn auf, ihn zu erschießen. »Na los, mach schon, brenn ihm eins auf den Pelz!«
Sein Sohn schoss auf den Jungen, der für diese Feuertaufe geopfert wurde.
»Siehst du‹, meinte sein Vater, »töten ist ein Klacks.«
Der Kronprinz des Di-Lauro-Clans, Cosimo Di Lauro, muss dieselbe Prüfung ablegen.
»Schließlich haben sie ihm eine fette Wachtel vor die Nase gesetzt«, sagt Prestieri.
Fette Wachtel bedeutet: ein leichtes Ziel. Unbewaffnet, unbewegt und ahnungslos, wie die meisten Camorra-Opfer.
»Die Di Lauros hatten ebenfalls einen Dealer für Cosimo ausgesucht. Cosimo geht auf ihn zu, der mit einer Begrüßung, einem Handschlag rechnet. Stattdessen holt Cosimo die Knarre raus und ballert los, aber er streift den Dealer nur und rennt weg. Ein echtes Armutszeugnis...«
Niemand in Secondigliano durfte über diese Schlappe reden.
Cosimo Di Lauro, Kronprinz und Auftargsliller der Camorra |
Aber es geht noch härter. Will einer der ehemaligen Getreuen des Di-Lauro-Clans auf die Gewinnerseite der rivalisierenden Scissionisti überwechseln, gibt’s eine einfache Regel: »Du musst ein Mitglied deiner Familie umbringen. Erst dann wirst du aufgenommen, denn so können sie sicher sein, dass du sie nicht bescheißt.«
Maurizio Prestieri spricht konzentriert und sachlich. Er sieht einem in die Augen, ohne einen Anflug von Provokation. Vielmehr hat er etwas Trauriges an sich. Dieser Mann hätte alles Mögliche erreichen können, stattdessen hat er beschlossen, Mafiaboss zu werden, so wie man beschließt, Geschäftsmann zu werden. Geschäftsmann und Camorra-Chef ist für diese Leute ein und dasselbe.
Er stellt mir eine so kinderleichte wie schwindelerregende Rechenaufgabe: »Ein Kilo Koks kommt für 10.000 bis 12.000 Euro nach Secondigliano. Beim Weiterverkauf bringt das Kilo einen Reingewinn von rund 100.000 Euro. Es gibt Dealer, die arbeiten rund um die Uhr und verticken bis zu zwei Kilo täglich. Und jetzt sag mir mal, wie viel da an einem Tag reinkommt?«
Wenn man bedenkt, dass ein lokaler Dealerring bis zu fünfzehn Plätze bespielt, kommen nur mit Kokain drei Millionen Euro rein, und das alle vierundzwanzig Stunden.
...mit dem Kokain-Taxi nach Neapel |
Ich frage ihn nach den Zulieferern.
»Wir haben das Koks aus Asturien bekommen«, sagt Prestieri, »wir standen mit den Basken in Kontakt.«
Ich erinnere ihn an den Aufschrei der Empörung, den meine Behauptung, die Eta habe Verbindungen zur Camorra in Spanien ausgelöst hat.
»Ich weiß, die wollen alle keinen Ärger mit der Eta und geben es deshalb nicht zu. Mit einer politischen Organisation kann man sich an einen Tisch setzen, aber nicht mit jemandem, der seine Finger im Drogengeschäft hat. Jedenfalls haben wir bei baskischen Rauschgifthändlern gekauft, die von der Eta unterstützt wurden. Als unser Kontaktmann in Spanien angefangen hat, direkt mit den Südamerikanern zu verhandeln, sind wir nicht mehr hingefahren. Er hatte beste Beziehungen zu den Leuten vom kolumbianischen Cali-Kartell. Die Sache läuft folgendermaßen: Jede Ladung Koks wird zur Hälfte bezahlt, man selbst bleibt als Pfand bei den Kolumbianern. Wird die andere Hälfte nicht bezahlt, bringen sie einen um.«
Binnen zehn Jahren zählt Maurizio Prestieri zu den reichsten Männern und meistgefürchteten Bossen der Gegend. Zu Spitzenzeiten macht er monatlich fünf Millionen. Er entwickelt ein Faible für Glücksspiel und Luxusschlitten. Er liebt Ferraris, »aber ich fand’s nervig, mit dem Ferrari in Neapel rumzugurken, alle kommen und glotzen. Das hatte was total Prolliges. Den Ferrari bin ich nur in Monte Carlo gefahren. Ich hab das Leben genossen. Aber ich habe immer dafür gesorgt, dass es meiner Familie an nichts fehlt, und sie aus allem rausgehalten.«
Fortsetzung folgt.....
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