Im 11.000-Seelen-Örtchen Sedriano ist für gewöhnlich nicht viel los – Reporter deckten allerdings eine mutmaßliche Zusammenarbeit des Bürgermeisters mit der kalabrischen 'Ndrangheta auf |
Für einen Journalisten ist Sedriano eigentlich die Höchststrafe. In der Stadt mit 11.000 Einwohnern im Westen Mailands geschieht nichts. Was für die meisten Grund genug ist, einen weiten Bogen um den Ort zu machen, ist für Ersilio Mattioni, 40, Ansporn. Mattioni ist in der Pressewelt als Hitzkopf verschrien. Er hat eine flotte Feder und eckt gern an.
Im Oktober 2011 wird er Chefredakteur der frisch geborenen Lokalzeitung "Altomilanese" mit Sitz in Magenta. Tombolas, Verkehrskreisel und Dorffeste interessieren Mattioni nicht. Er will dunkle Machenschaften aufklären und schickt seine Redakteurin Ester Castano nach Sedriano. Er gibt der 23-Jährigen folgendes mit auf den Weg: "Dort geschieht nichts? Da schauen wir doch mal nach."
Castano wird schnell fündig. Bereits in der zweiten Ausgabe von "Altomilanese" enthüllt sie den ersten vermeintlichen Skandal. "7000 Euro für den Anwaltfreund des Bürgermeisters", titelt Castano. Es ist eine vertrackte Geschichte. Im Mai 2011 kürt Sedrianos Bürgermeister Alfredo Celeste kreative Frauen der Gemeinde. Als Stargast lädt er Nicole Minetti ein. Die gelernte Zahnhygienikerin ist für die Staatsanwaltschaft Mailand eine der Mitorganisatoren der berüchtigten Bunga-Bunga-Parties, auf denen sich der damalige Premier Silvio Berlusconi mit jungen Frauen vergnügt haben soll.
Nicole Minetti |
Gegen die Anwesenheit von Minetti protestiert eine Gruppe in Sedriano, darunter eine pensionierte Lehrerin und eine Nonne. Die beiden Damen beschweren sich später in einem öffentlichen Brief, von den Ordnungskräften zur Teilnahme an der Preisverleihung genötigt worden zu sein. Gegen den Brief unternimmt Bürgermeister Celeste rechtliche Schritte. Er bezahlt dem Anwalt der Gemeinde 7000 Euro. Später verklagt Celeste "Altomilanese". "Danach häuften sich die Merkwürdigkeiten", sagt Chefredakteur Mattioni. Seine Zeitung nimmt die Fährte auf, es beginnt ein Kleinkrieg mit dem Bürgermeister.
Wurde der Bürgermeister bestochen?
Fast genau zwei Jahre später stehen die Merkwürdigkeiten in einem anderen Licht. Sedriano ist ein Thema in den großen Nachrichtensendungen und in ganz Italien bekannt. Die Regierung von Ministerpräsident Enrico Letta entschied am 15. Oktober, die Stadt unter ein Kommissariat zu stellen. Die Regierung von Bürgermeister Celeste musste zurücktreten, weil sie angeblich Kontakte zur kalabrischen 'Ndrangheta unterhielt.
Bei Celeste soll ein gewisser Eugenio Costantino ein- und ausgegangen sein. Die Staatsanwaltschaft Mailand hält ihn für einen Abgesandten der 'Ndrangheta. Costantino soll dem ehemaligen Mailänder Stadtrat Domenico Zambetti mit Stimmenkäufen ins Amt geholfen und dafür Gegenleistungen verlangt haben. Im Oktober 2012 musste Zambetti dafür ins Gefängnis. Bürgermeister Celeste ist laut den Ermittlern ein weiterer Politiker, der von Costantino bestochen wurde.
Sedriano ist ein Präzedenzfall. Es ist die erste Gemeinde in der Lombardei, die nun unter der Kuratel Roms steht. Seit Anfang der 90er-Jahre wurden mehr als 200 Stadtregierungen wegen angeblicher Verstrickungen mit der organisierten Kriminalität aufgelöst – allerdings fast ausschließlich in Süditalien. Im Norden waren es nur fünf, beschränkt auf Ligurien und Piemont. Sedriano reiht sich als Nummer sechs in die traurige Liste ein.
Mafia und 'Ndrangheta sind nahezu unsichtbar
Das ist eine Schmach für die Lombardei, die sich aufgrund ihrer Wirtschaftskraft für das Aushängeschild Italiens hält. Die sizilianische Mafia und die kalabrische 'Ndrangheta sind auf Expansionskurs und infiltrieren immer stärker den Norden des Landes. Im unternehmerischen Herz des Landes gelingt es ihnen, das schmutzige Geld aus Drogen- und Waffengeschäften sowie Erpressungen reinzuwaschen. Sie beteiligen sich an öffentlichen Ausschreibungen, kaufen Land und Immobilien auf.
Die Krise stellt für sie eine Chance dar. Im Gegensatz zur ehrlichen Konkurrenz, die sich schwer tut, an Kredite zu kommen und unter einer Steuer- und Abgabenlast ächzt, schwimmen Mafia und 'Ndrangheta im Geld. So können sie ihre Wettbewerber locker ausstechen. Der Anti-Mafia-Organisation Libera zufolge wurden in der Lombardei bisher 13.000 Vermögenswerte und 963 Immobilien der organisierten Kriminalität konfisziert.
Domenico Zambetti
In der Öffentlichkeit wird darüber bislang geschwiegen. "Ich glaube, dass der Norden sich noch hartnäckig gegen die Idee wehrt, dass Mafia und Konsorten nicht nur präsent, sondern inzwischen hier fest verwurzelt sind", sagt Roberto Galullo, Mafiaexperte der Zeitung "Il Sole 24 Ore".
Die Weigerung der Öffentlichkeit, sich mit dem Phänomen Mafia auseinanderzusetzen, mag einem einfachen Problem geschuldet sein: Mafia und 'Ndrangheta sind nahezu unsichtbar. Werden ihre Vertreter in Filmen gerne als ungehobelte Raufbolde mit Sonnenbrillen dargestellt, so tragen sie heutzutage häufig edle Anzüge und haben an Spitzen-Universitäten studiert. Anstelle der Metropolen bevorzugen sie die Provinz. Dort schaut keiner so genau hin, wer den Bürgermeister regelmäßig besucht. Es wird nicht wie im Kino geballert, sondern diskret zu Mittag gegessen.
Castano hat ein Faible für Kriminalgeschichten
Sedriano fällt in dieses Raster. Die Stadt liegt an der Autobahn Mailand–Turin, im sogenannten "Hinterland". Die Bahnstation findet sich im drei Kilometer entfernten Nachbarort Vittuone. Bürgermeister Celeste ist im Hauptberuf Religionslehrer. Im Umgang mit den Bürgern ist er freundlich und schnell beim Du.
Politik ist seine Leidenschaft, schon in den 80er-Jahren war er Bürgermeister. Man sagt ihm Ambitionen nach, die nationale Bühne Rom soll ihn locken. Celeste denkt groß. Er verfolgt einen ehrgeizigen Plan rund um die Villa Colombo, einem Prachtbau in der Stadt. Damit Sedriano die Villa kaufen kann, sollen Ackerflächen in Bauland umgewandelt werden und Hunderte neue Wohnungen entstehen. Wer an dem Projekt mitwirkt, kann gut verdienen.
Auftritt Eugenio Costantino, groß gewachsen und mit langer Haarmähne. Er ist Eigentümer eines Ladens für Goldankäufe. Er gehört den Christdemokraten an, genauer gesagt der "Democrazia Cristiana per le Autonomie". Bei den Wahlen 2009 verhalf sein Netzwerk Celeste zum Bürgermeisteramt. Augenscheinlich tut er das nicht völlig uneigennützig. Die Tochter Costantinos, Teresa, steht auf der Liste Celestes und zieht in das Gemeindeparlament ein. Viel politische Erfahrung hat die junge Dame nicht. In ihrem Lebenslauf gibt sie an, in der Mailänder Oper, im Teatro alla Scala, ein Praktikum gemacht zu haben.
Dieses Netzwerk wird durch die Lokalzeitung "Altomilanese" gestört. Jungredakteurin Castano hat einen Faible für Kriminalgeschichten. Die Studentin der Literaturwissenschaften schreibt für die Internetseite "Stampo Antimafioso", die sich mit Mafiaverbrechen in der Lombardei beschäftigt. Stundenlang sitzt Castano im Mailänder Gericht und folgt Prozessen.
Das Gelernte wendet sie in Sedriano an. Sie wittert überall das Übel. Sie berichtet über unbezahlte Wasser- und Gasrechnungen, über die Müllabfuhr, die nicht ausrückt, und über ein neues Einkaufszentrum, das bei den Händlern vor Ort Angst auslöst. Sie lauert Polizisten auf und befragt sie zu belegten Behindertenparkplätzen. Ab und zu schreibt sie über mysteriöse Schusswechsel, brennende Autos und Ungereimtheiten bei den Plänen rund um die Villa Colombo.
Ein Umschlag mit Patronenhülse in der Redaktion
Bürgermeister Celeste fühlt sich von ihr bedrängt. Er wendet sich an die Polizei und erwirkt, dass sich Castano ihm nicht mehr nähern darf. In der Redaktion geht ein anonymer Brief ein. In dem Umschlag befinden sich eine Patronenhülse und ein Zettel mit drei Wörtern: "Hört auf damit".
Dass Castano einen guten Riecher hat, zeigt sich im Herbst 2012.
Bürgermeister von Sedriano - Signore Celeste
Die Staatsanwaltschaft Mailand erwirkt Hausarrest gegen Celeste. Sie wirft ihm vor, sich von dem mutmaßlichen 'Ndrangheta-Emissär Costantino bestochen haben zu lassen. Er habe Celeste für einige Gefälligkeiten einen Senatorenposten in Rom angeboten, behaupten die Ermittler. Celeste weist alle Anschuldigungen zurück und kehrt wieder ins Rathaus zurück. Erst als eine Kommission den Fall untersucht und Italiens Innenminister Angelino Alfano die Zwangsverwaltung über die Stadt verhängt, muss er weichen.
Geschlagen gibt sich Celeste jedoch immer noch nicht. Am Telefon schimpft er über die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren sei. "Absurd" seien die Vorwürfe, Sedriano sei anstandslos sauber. Costantino habe er nur für einen Christdemokraten gehalten. Einen Senatorenposten in Rom? Aufgrund des Wahlrechts könne da niemand mit Stimmenkauf helfen. Er werde vor das Verwaltungsgericht ziehen, kündigt er an. "Meine politische Karriere ist vorbei", sagt Celeste. Jetzt gehe es um seine Würde – und die will er verteidigen.
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