Sonntag, 10. November 2013

Berlin - Im Netz der Mafia-Clans

Berlin –   Die Mafia hat sich verändert. Sie arbeitet unauffälliger, setzt weniger auf Angst und Einschüchterung. Profitable Geschäfte macht sie durch ihre Beziehungen in die sogenannten besseren Kreise. Auch in Berlin.

Das Restaurant ist groß, durch die Glasfenster sieht man in einen Saal mit etwa dreißig Tischen. Mehr als hundert Gäste könnten an ihnen Platz nehmen. Im Moment ist der Saal leer. Hinter der langen, bläulich schimmernden Theke steht ein Kellner – Mitte vierzig, kräftig gebaut, kurze schwarze Locken. Er kommt mir entgegen, dirigiert mich wortlos zu einem Tisch am Fenster, drückt mir eine Speisekarte in die Hand.

Das Lokal ist prächtig, aber unpersönlich eingerichtet. In einem Aquarium schwimmen ein Dutzend Hummer. Merkwürdig, auf der Karte sind sie nicht zu finden. Ich blicke zum Kellner hinter dem Tresen und sage auf Italienisch: „Heute ist nicht viel los.“– „Es ist immer so“, antwortet er, ohne meinen Blick zu erwidern, „während der Ferien geht keiner essen.“ Durch die großen Fenster hat man das Restaurant auf der anderen Straßenseite gut im Blick. Es ist rammelvoll. So wie die meisten Restaurants hier in Charlottenburg, unweit des Kurfürstendamms.
 
 
Name ist mir bekannt
 
Während ich auf die Pizza warte, denke ich an das, was mir kürzlich ein Lieferant sagte. Er versorgt mehrere Berliner Restaurants mit italienischer Feinkost: Mozzarella aus Kampanien, Salami aus Kalabrien, Süßwaren aus Sizilien. „Manche Lokale sind immer leer, egal um welche Uhrzeit ich vorbeifahre“, erzählte er mir. „Sie bestellen zwar reichlich Ware. Aber wer das Zeug dann isst, das bleibt ein Rätsel.“
 
 
 Berlin
 
Schlecht besuchte Restaurants, die trotzdem hohe Umsätze verbuchen? Wie kann das sein? Um diese Frage zu beantworten, besuchte ich, Italiener und seit dem Jahr 2010 in Berlin lebend, den Dezernatsleiter für organisierte Kriminalität des Berliner Landeskriminalamts (LKA), Carsten Wendt. Er empfing mich in seinem Büro, dessen Wände mit unzähligen Polizeiabzeichen aus aller Welt geschmückt sind.
 
 
Möglichst unentdeckt bleiben
 
Seit etwa dreißig Jahren beschäftigt sich Wendt mit dem organisierten Verbrechen. „Die Rolle der Restaurants im kriminellen Umfeld ist so einfach wie effektiv“, erläuterte er mir. „Keiner kann sagen, wie viele Menschen pro Monat in einem bestimmten Restaurant am Tisch saßen. Was die Gäste nicht im Lokal lassen, kommt aus einer anderen Quelle.“ Woher denn? „Illegale Müllentsorgung, Erpressung, Drogen- oder Waffenhandel. Sobald das Geld in die Bücher des Restaurants übertragen wird, macht es sowieso keinen Unterschied mehr.“ Natürlich werden Steuern auf die fiktiven Umsätze bezahlt und das Finanzamt ist zufrieden.
 
Allein die kalabresische Mafia, die ’Ndrangheta, soll in Deutschland um die hundert Restaurants betreiben, schätzt die Staatsanwaltschaft im italienischen Reggio Calabria. Sie dienen nicht nur als Waschanlagen für das Geld der Organisation. In einem Restaurant kann man auch Drogen oder Waffen lagern. Außerdem kann man sich dort in aller Ruhe treffen. Wenn in Deutschland ein neues Mitglied in die Organisation aufgenommen wird, gibt es meist eine Feier im Hinterraum eines Restaurants. Es war nach einer solchen Veranstaltung im Restaurant „Da Bruno“ in Duisburg, dass der ’Ndrangheta-Clan Nirta-Strangio an einem frühen Morgen im August 2007 sechs junge Männer eines verfeindeten Clans ermorden ließ.
 
Die Gangster und ihre Hintermänner hatten nicht mit den Konsequenzen ihrer Tat gerechnet. Zum ersten Mal wurde sich die deutsche Öffentlichkeit der Mafia-Präsenz im Land bewusst. Kurz darauf gründete das Bundeskriminalamt zusammen mit der italienischen Polizei eine spezielle Task-Force, um weitere Stränge des ’Ndrangheta-Netzwerks in der Bundesrepublik aufzudecken. Und in der Tat: Dieses Netzwerk war viel größer als geahnt, es reichte in alle Bundesländer.
 
Entstanden ist es nicht von heute auf morgen. Die italienische Polizei vermutet, dass die ’Ndrangheta seit den Siebzigerjahren in Deutschland zu Hause ist. Bis zu den Morden von Duisburg war sie allerdings so gut wie unsichtbar. „Es ist ein Hauptinteresse der Mafiosi, unentdeckt zu bleiben“, erklärte Dezernatsleiter Wendt in seinem Büro. „Man kann sagen, dass das Massaker in Duisburg für die Organisation ein dramatischer Fehltritt war.“ Auf einmal schien die Mafia in Deutschland allgegenwärtig zu sein. Und so mancher italienische Restaurantbesitzer wurde verdächtigt, Kontakte zur organisierten Kriminalität zu haben.
 
Kurz nach dem Massaker tauchten zwei Männer aus Neapel in mehreren Berliner Restaurants auf. Sie boten den Besitzern Schutz im Austausch für eine monatliche „Spende“ an. Die Restaurantbesitzer alarmierten das LKA. Das wiederum schaltete ein Vertrauenstelefon, um die Unternehmer über die beste Vorgehensweise im Fall einer Erpressung zu beraten. Zwei Wochen später saßen die Verdächtigen bereits hinter Gittern.
 
 
 
 
Aus dieser Erfahrung entstand in Berlin die erste Anti-Mafia-Organisation Deutschlands: „Mafia? Nein Danke!“ Ihr Ziel: über die Mafia aufzuklären und gleichzeitig klarzumachen, dass nicht jede Pizzeria ein Ort ist, hinter dem das organisierte Verbrechen seine illegalen Aktivitäten verbergen kann.
 
Carsten Wendt ist mit dem Erfolg von „Mafia? Nein Danke!“ zufrieden. Mithilfe der Berliner Industrie- und Handelskammer organisierte die Polizei im September 2012 eine Fachkonferenz, um weitere Communitys auf das Thema Schutzgeld anzusprechen. Etwa 80 Unternehmer unterschiedlicher Herkunft ließen sich von den italienischen Kollegen beraten. Ähnliche Initiativen sind nun für die türkische und griechische Community geplant. „Die Initiative zeigt, dass die Mafia dort, wo Menschen Mut und Aufmerksamkeit zeigen, keine Angst einjagen kann“, so Wendt. Seit drei Jahren musste das Berliner LKA keine Ermittlung im Milieu der italienischen organisierten Kriminalität (IOK) durchführen. Im Ranking der gefährlichsten kriminellen Organisationen der Hauptstadt steht die IOK auf Platz zehn.
 
„Also gibt es keine Mafia in Berlin?“, fragte ich Wendt. Er schwieg für einige Sekunden. „Das habe ich nicht gesagt“, antwortete er dann.
 
Die Mafia hat sich verändert. Sie ist unauffälliger geworden, setzt weniger auf Angst und Einschüchterung. Profitable Geschäfte macht sie inzwischen durch ihre Beziehungen in die sogenannten besseren Kreise. Bereits in den Achtzigerjahren sah die italienische organisierte Kriminalität in Deutschland ein ideales Investitionsland. Zum einen gab und gibt es in der Bundesrepublik eine gut integrierte Migrantengemeinschaft, in der die Anhänger der Clans schnell abtauchen können. Zum anderen wird hierzulande weniger als in Italien auf die Herkunft von Geldern für Investitionen geachtet. Vor allem die ’Ndrangheta hat diese Situation ausgenutzt.
 
Kurz nach der Wende hörte die italienische Polizei ein Gespräch zwischen zwei ’Ndranghetisti ab: Da hieß es, man solle so viele Immobilien wie möglich in Ostdeutschland kaufen. Das Anliegen der ’Ndranghetisti war es aber vor allem, mit deutschen Unternehmern und Bankern in Berlin Kontakte zu knüpfen. Man wollte sich einen Zugang zu den Machtkreisen der neuen Hauptstadt verschaffen.
„Damals hat die Strategie der Clans nicht gegriffen“, sagte Wendt. Das heißt aber nicht, dass sie den Plan aufgegeben haben. Alle italienischen Mafia-Gruppen, die ’Ndrangheta aus Kalabrien, die Camorra aus Neapel, die Cosa Nostra aus Sizilien und die Sacra Corona Unita aus Apulien, haben im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte viel Geld in die neuen Bundesländer investiert.
 
 
 
 
Und dort, wohin das Geld der Mafia fließt, tauchen bald die Mafiosi auf. Das gilt vor allem für die ’Ndrangheta, deren Strategie darin besteht, in jedem Territorium, in dem sie ansässig wird, dieselben Machtstrukturen wie in der Heimat zu etablieren. Der Plan ist einfach: Die Clan-Mitglieder starten im Ziel-Revier eine legale Aktivität, die mit dem Geld der Organisation finanziert wird. Dadurch gewinnen sie schnell Zugang zu lokalen Unternehmerkreisen und zur öffentlichen Verwaltung. So stieg die ’Ndrangheta zur mächtigsten Mafiaorganisation der Welt auf. Ihr jährlicher Gewinn wird auf 44 Milliarden Euro geschätzt.
 
Das Hauptquartier des Anti-Mafia-Dezernats DIA in Rom ähnelt einer Festung. Es reicht, den Bau aus Stahl und Beton zu betrachten, um zu verstehen, wie real und gefährlich die Mafia ist. Dort besuchte ich Oberst Enrico Senatore, einen der führenden Kriminalisten der DIA. Senatores Büro befindet sich tief im Herzen der Festung. „Vergessen Sie das Bild des Mafioso mit der Schäfermütze und der Doppelflinte“, sagte er. „Wir haben es mit einer ganz neuen Art Mafiosi zu tun. Die aus der alten Generation waren Analphabeten, Bauern und Schäfer, die mit der Flinte besser als mit dem Kugelschreiber umgehen konnten. Die Mafiosi der neuen Generation sind anders: Sie sind gut gebildet, tragen Markenkleidung und pflegen Kontakte zur Hautevolee. Vor allem aber müssen sie sich nicht mehr verstecken. Sie stehen mitten in unserer Gesellschaft.“
 
Mir fallen Senatores Worte wieder ein, als ich im Charlottenburger Restaurant in mein letztes Stück Pizza beiße. Gerade kommen vier junge Frauen herein. Sie sind blond, groß, tragen bunte Minikleider. Sie sprechen miteinander russisch. Der Kellner empfängt sie wie alte Bekannte und bringt ihnen eine Flasche Champagner. Sie scherzen miteinander und machen Fotos.
 
Ich behalte die kleine Party im Auge und erinnere mich daran, dass es genau ein Foto aus diesem Restaurant in Charlottenburg war, das in mir den Verdacht wachsen ließ, dass die Mafia versucht, Berlin zu erobern. Das Foto findet man im Internet. Darauf sieht man zwei Männer neben der Bar stehen. Der eine auf der rechten Seite, der Besitzer des Restaurants, ist um die vierzig, trägt einen eleganten Anzug. Der andere ist älter, Anfang sechzig, er hat eine dunkle Jacke an.


Ristorante Dante in Charlottenburg
 
 
Ihre Namen dürfen hier nicht genannt werden. Der ältere Mann mag es nicht, wenn sein Name in Verbindung mit dem Thema Mafia auftaucht. Journalisten, die es gewagt haben, über ihn zu schreiben, wurden verklagt und teilweise zu einem Schadenersatz im fünfstelligen Bereich verurteilt. Und das, obwohl das BKA in einem Auswertungsbericht aus dem Jahr 2007 über ihn Folgendes schrieb: „Aufgrund des hohen Ansehens, welches der Berliner Pate in der Italienerszene genießt, muss er ein vollwertiges Mitglied der ’Ndrangheta sein.“ Den Bericht tat der Anwalt des Mannes mit der dunklen Jacke als faktisch falsch ab.
 
Ursprünglich kommt der ältere Mann aus der Toskana; er lebt aber seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland. Gemeinsam mit einem Kollegen aus Kalabrien hat er ein bundesweites Gastronomie-Imperium aufgebaut. Beide Gastronomen haben Anfang der Neunzigerjahre im „Da Bruno“ in Duisburg gearbeitet, in der Pizzeria also, in deren Nähe fünfzehn Jahre später das August-Massaker stattfinden sollte. Bereits damals war das „Da Bruno“ der Polizei als Drogenumschlagplatz bekannt. Von Duisburg aus bereiteten die ehrgeizigen Gastronomen die Eroberung der östlichen Bundesländer vor. Das Kapital für die Investitionen, vermutet die italienische Polizei, kam aus demselben Dorf, aus dem die Mörder von Duisburg kamen: San Luca in Kalabrien.
 
Mit dem Geld eröffneten sie 1996 eines der ersten italienischen Restaurants in Ost-Deutschland. Es folgten weitere Pizzerien, Cafés und Eisdielen: stilvolle Feinkosttempel mitten in den Einkaufsstraßen von Erfurt, Weimar, Leipzig, Jena.
 
 
Il Mulino - Erfurt
 
 
Die beiden Unternehmer blieben durchgehend im Visier der italienischen und der deutschen Polizei. Gegen sie wurde im Laufe der Jahre wegen Erpressung, Fälschungsdelikten, Drogenhandel und Mordes ermittelt. Im bereits erwähnten Auswertungsbericht des BKA wird vermutet, dass beide hochrangige Mitglieder des Clans Romeo-Pelle seien. Der Mann aus Kalabrien soll die Beziehungen zum Hauptquartier seiner Heimatregion pflegen, während der Toskaner vermutlich für die Kontakte zu den deutschen und internationalen Partnern zuständig sein soll. Doch bis auf kurze Haftstrafen blieben die Gastronomen unbehelligt.
 
 
Jedes Foto ist einen Kampfansage
 
Unter ihrer Führung ist Erfurt zu einem der wichtigsten Knotenpunkte im europäischen ’Ndrangheta-Netzwerk aufgestiegen. Als der Clan Romeo vor einigen Jahren ein Restaurant im Zentrum von Rom kaufte, konnte die Erfurter Gruppe 1,3 Milliarden Euro dafür ausgeben. Die italienischen Ermittler versuchten jahrelang, die Quelle des Geldes zu finden. Vergeblich.
 
Die DIA vermutet, dass die Erfurter Gruppe bereits den Anschluss zu einigen wichtigen Entscheidungsträgern in der Politik und Wirtschaftswelt gefunden hat. Die Mafiosi wissen, dass man mit Zustimmung bessere Geschäfte macht als mit der Angst.
 
Und keiner weiß das besser als der Mann mit der dunklen Jacke. In seinen Restaurants sind oft Politiker, Unternehmer, Schauspieler und Sportler zu Gast. Für die Foto-Galerien auf den Webseiten der Restaurants lässt er sich gerne neben ahnungslosen Prominenten fotografieren. „Jedes Foto ist eine Kampfansage“, hat Enrico Senatore, der römische Mafia-Ermittler, gesagt. „Die Botschaft lautet: Das ist unsere Welt, wir gehören hierher.“
 
Die deutsche Öffentlichkeit hofiert den Mann mit der dunklen Jacke als Vertreter des Italian Style. Wegen seines Engagements in gemeinnützigen Projekten ist er in der Presse als Wohltäter und Mäzen gefeiert worden. Ich schaue zur Bar und versuche mir vorzustellen, wie er neben dem jüngeren Mann steht. Ich kann nicht genau sagen, warum, aber etwas irritiert mich noch an diesem Foto.
 
 
das La Strada in Leipzig
 

Der junge Mann auf der linken Seite mit dem eleganten Anzug ist offiziell der einzige Besitzer dieses Restaurants. Im Kaufvertrag steht neben seiner Unterschrift aber auch die des Mannes aus Kalabrien, der – nach Annahmen des BKA – gemeinsam mit dem Mann mit der dunklen Jacke die Erfurter Gruppe leiten soll. Der junge Mann ist der Besitzer von zwei italienischen Lokalen in Ost-Deutschland. Eines davon hat er vom Mann mit der dunklen Jacke übernommen. Das andere betreibt er gemeinsam mit einem der Besitzer des berüchtigten Restaurants im Zentrum von Rom, das die Erfurter Gruppe vor fünf Jahren kaufte. Rom, Erfurt, Leipzig, Weimar. Und Berlin.
 
 
das Giardino in Weimar

 
Nach Angaben der DIA konzentriert sich die Aktivität der ’Ndrangheta in Deutschland zurzeit auf den internationalen Handel, die Bauindustrie (vor allem bei öffentlichen Ausschreibungen), den Immobilienmarkt, den Tourismus und die Hotellerie. Und wo kommen alle diese Geschäftsfelder zusammen? In Berlin.
 
Langsam scheinen die verschiedenen Stücke des Puzzles einen Sinn zu ergeben. Ich bezahle meine Pizza und breche auf. Von der Tür aus werfe ich einen letzten Blick zurück in das fast leere Restaurant. Der Kellner scherzt mit den jungen Frauen. Dabei fallen mir die Worte des LKA Dezernatsleiters Carsten Wendt ein: „Damals hat die Strategie der Clans nicht gegriffen.“ Damals. Und jetzt?
 
Plötzlich weiß ich, was mich am Foto mit den zwei Männern so irritiert hat. Keiner von ihnen lächelt. Ihre Mienen sind entspannt, aber nicht fröhlich. Jedes Foto ist eine Kampfansage.
 
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