Von Jan-Christoph Kitzer
Der Zustand der Justiz in Italien ist
desolat. Das öffentliche Ansehen hat in der Ära von Silvio Berlusconi
nachhaltig gelitten, Strafen werden häufig nicht vollstreckt und einige Richter
stehen unter dem permanenten Druck der Mafia.
"Io
sono innocente!"
"Sono oggetto delle attenzioni dei PM
e dei giudici ideologizzati che sono una metastasi della nostra
democrazia!"
"Questi
PM die Milano, che hanno prodotto questi tentativi di eversione sono ancora li
a ripetere il tentativo dell'eversione! Gli stessi contro lo stesso cittadino!
Questo e una patologia! E un cancro della nostra democrazia che dobbiamo
levare!"
"Io
non ho commesso alcun reato. Io non sono colpevole di alcunché. Io sono innocente! Io
sono assolutamente innocente!"
Silvio Berlusconi, immerhin der am längsten amtierende
Regierungschef des modernen Italien hält sich immer noch für innocente, für
unschuldig. Obwohl er im Sommer 2013 als Steuerbetrüger rechtskräftig
verurteilt wurde. In über 20 Jahren, in denen er die politische Szene Italiens
geprägt hat, und bis zum heutigen Tag hat er Richter und Staatsanwälte
beschimpft, sie als Krebsgeschwür, als Metastasen der Demokratie bezeichnet.
Das hat das Verhältnis der Italiener zu ihrer Justiz nachhaltig geprägt.
Umfragen zufolge hat nicht einmal die Hälfte Vertrauen in die Justiz, fast
jeder meint, das System müsse besser funktionieren.
Wie schwer die Suche nach der Wahrheit
ist, kann man gerade in Palermo erleben. Dort steht die so genannte Aula
Bunker, ein riesiger Gerichtssaal der höchsten Sicherheitsstufe. Hier fanden
schon in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts die großen Mafia-Prozesse
statt. Und in diesen Tagen geht es um eine besonders heikle Frage: haben
Vertreter des italienischen Staates Anfang der 90er-Jahre Absprachen mit der
Mafia getroffen? Gab es einen Deal: weniger Verfolgung durch die Behörden gegen
weniger Morde der Mafia? In diesem Prozess hat der italienische Staat quasi
sich selbst auf die Anklagebank gebracht. Der Chefankläger ist Nino Di Matteo,
53, graue Haare. Er hat große Erfahrung als Anti-Mafia-Staatsanwalt. Frei
bewegen kann er sich schon lange nicht mehr. Ihn zum Interview zu treffen ist
alles andere als einfach:
"Ich lebe jetzt
schon seit 20 Jahren mit einer Eskorte. Ich werde den Leuten, die mich
geschützt haben und schützen, immer dankbar sein, aber wenn das Leben des zu
Schützenden dadurch so entscheidend beeinflusst wird wie bei mir, dann kommt
einem schon der Gedanke: In bestimmten Momenten leiden wir unter mehr
Einschränkungen als die Mafiosi. Und vor allen Dingen müssen auch unsere
Verwandten, die uns umgeben, diese Freiheitseinschränkungen ertragen."
Ganz konkrete
Bedrohung
Die Bedrohung gegen Nino di Matteo ist
sehr konkret. Sein Chef hat neulich im schwer bewachten Justizpalast von
Palermo einen Zettel auf seinem Schreibtisch gefunden, auf dem stand: „Wir
kriegen Dich, überall!". Die Mitschnitte der Videokameras, die sein Büro
überwachen, sind für den fraglichen Zeitraum, seltsamerweise verschwunden –
eine technische Panne, heißt es. Di Matteo selbst wird von Toto Riina, dem
legendären Cosa Nostra Boss bedroht. Aus dem Gefängnis gab er vor kurzem seinen
Mordauftrag: „Deve fare la fine del tonno", er muss enden, wie ein
Thunfisch: in die Enge getrieben, abgestochen. Die Angst, ermordet zu werden,
gehört zu seinem Leben als Staatsanwalt:
Nino Di Matteo: "Wenn ich
das verneinen würde, wäre ich nicht ehrlich. Ich glaube, dass die Angst, mich
und vor allem meine Familie Rache- und Vergeltungstaten ausgesetzt zu sehen,
menschlich ist und sie befällt mich oft. Aber Paolo Borselino sagte: "Mut
ist nicht die Abwesenheit von Angst. Er ist das Bewusstsein, dass es Gefühle
gibt, die dich vorantreiben und dich die Angst überwinden lassen. Der Beruf,
den wir ausüb-en, und auch der Respekt für die vielen unserer Kollegen, die
getötet worden sind, zwingt uns weiterzumachen, ohne uns von der Angst
einschüchtern zu lassen."
Nino Di Matteo |
Paolo Borsellino, seinem Vorgänger in
Palermo, hat der Mut nichts genützt: er wurde 1992 vor dem Haus seiner Mutter
von einer Autobombe getötet. Fünf aus seiner Eskorte starben an jenem Tag mit
ihm. Es gibt die Sorge, dass die Zeit der Mordanschläge wieder kommt. Und das
liegt auch an dem Prozess, in dem Nino di Matteo in Palermo der Ankläger ist,
und der ihn konkreter Gefahr aussetzt. Druck bekommt er von zwei scheinbar
verschiedenen Seiten:
Großer Druck lastet
auf der Justiz
Nino Di Matteo: "Es gibt
eine Gewissheit: Diese Drohungen gegen mich und einige meiner Kollegen, die
sich mit demselben Thema beschäftigen, kommen sowohl aus der Welt der Mafia als
auch - besonders was die anonymen Schreiben und Briefe betrifft - aus Kreisen,
die nicht mafiös erscheinen. Sie scheinen aus institutionellen oder
halbinstitutionellen Kreisen zu kommen."
Und so hart die Wirklichkeit von Nino di
Matteo ist, der Anti-Mafia-Staatsanwalt aus Palermo steht für den großem Druck,
dem die italienische Justiz in den letzten Jahren zunehmend ausgesetzt ist. Qua
Verfassung ist die Justiz eine der tragenden Säulen eines demokratischen
Staates. In Italien ist die Justiz in den letzten Jahren kontinuierlich
geschwächt worden, nicht zuletzt von der Politik.
In Italien jemanden zu finden, der auf
die Justiz, auf Richter und Staatsanwälte schimpft, ist nicht besonders schwer.
Man kann zum Beispiel nach Mailand
fahren. Mario Caizzone hat hier einen Verein gegründet: den „Italienischen
Verein der Opfer der schlechten Justiz". Der Mann ist ein Kämpfer, das
zeigt nicht nur seine kräftige Statur, der forsche Blick, das zeigt auch der
Blick in seine Gerichtsakten. Caizzone ist Kaufmann und Steuerberater und er
hat sich mit der Finanzpolizei angelegt: als er angezeigt hat, dass
Finanzbeamte in einer der von ihm betreuten Firma Schmiergeld verlangt hatten,
wurde er in ein langes Verfahren gezogen, wegen Rufmord:
Mario Caizzone |
Mario Caizzone: "1994 ist das
Verfahren eröffnet worden. 1998 habe ich drum gebeten, mir den Prozess zu
machen. Ich hatte ein Recht auf einen Prozess ohne Vorverfahren, ich erinnere
mich, ich hatte Weihnachten 1994 diesen Antrag gestellt. Den Prozess haben sie
dann 2005 begonnen. Nach dem ersten Richterspruch, nach fast 20 Jahren war dann
alles verjährt. Da ich aber keinerlei Schuld trug, habe ich auf die Verjährung
verzichtet. Trotzdem hat alles fast 22 Jahre gedauert."
"Ich habe alles
verloren"
Und alles endete mit einem Freispruch,
im letzten Frühjahr. Mario Caizzone ist stolz darauf, wieder eine weiße Weste
zu haben. Aber in all den Jahren musste er nicht nur zehntausende Euro für
Anwälte und für insgesamt fünf Prozesse ausgeben, lange Jahre konnte er nicht
arbeiten, seine ganze Existenz war zerstört – obwohl er erwiesenermaßen
unschuldig war.
Mario Caizzone: "Ich habe
meine Arbeit verloren. Ich hatte ein Büro in Mailand und eines in Rom. Ich habe
alles verloren. Ich musste schließen, ich war vier Monate im Hausarrest. Ohne
jeglichen Grund. Ich habe meine Freunde verloren. Ich habe die 20 Jahre nur
durchgehalten, weil meine Familie mich großzügig unterstützt hat. Ein anderer
hätte das nicht gekonnt. Am Tag der Anklage haben die Kunden mich verlassen und
ich musste die Mitarbeiter nach Hause schicken. Sie haben mein Leben
zerstört."
Silvio Berlusconi und seine
Schimpftiraden auf die Justiz kann er ganz gut verstehen – auch wenn er ihm
vorwirft, als Regierungs-Chef nichts dafür getan zu haben, dass die Italienische
Justiz besser wird. Dass Italiens Justiz alles andere als effizient ist, sagt
nicht nur Mario Caizzone – das ist auch das Ergebnis einer Studie des
Europarates, in der über 40 Länder verglichen wurden: nirgendwo in Europa
dauert es zum Beispiel länger bis ein Bankrottverfahren entschieden ist.
Im Schnitt vergehen 2.648 Tage, fast
siebeneinhalb Jahre! Unternehmer, die auf das Geld von ihren Schuldnern
angewiesen sind, gehen in dieser Zeit oft selber pleite. Bis ein Urteil in
einem Strafrechtsprozess fällt, dauert es im Schnitt 4 Jahre und neun Monate.
Im „Verein der Opfer der Schlechten Justiz" in Mailand kennen sie diese
Zahlen, aber nicht nur deshalb hält Mario Caizzone nichts von den italienischen
Richtern und Staatsanwälten. Über 1.000 Menschen haben sich schon verzweifelt
an den Verein gewandt, über 1.000, die sich als Justizopfer fühlen.
Mario Caizzone: "Das Rechtssystem in Italien funktioniert nur für wohlhabende Leute, die sich einen guten Rechtsanwalt leisten können. Wer nicht genug Geld hat, um einen guten Rechtsanwalt zu bezahlen, ist schwach. Das System ist stark gegenüber den Schwachen und stark mit den Mächtigen."
Mario Caizzone: "Das Rechtssystem in Italien funktioniert nur für wohlhabende Leute, die sich einen guten Rechtsanwalt leisten können. Wer nicht genug Geld hat, um einen guten Rechtsanwalt zu bezahlen, ist schwach. Das System ist stark gegenüber den Schwachen und stark mit den Mächtigen."
Rattenplage im
Berufungsgericht
In einer Stadt im Norden treffen wir
Maria, eine junge Strafrichterin. Sie heißt eigentlich anders. Sie will auch
nicht sagen, wo genau Sie arbeitet. Nur so viel: sie hat auch mit organisierter
Kriminalität, also mit der Mafia, zu tun. Und sie hat viel zu tun. Vor kurzem
konnte man von ihren Kollegen am Berufungsgericht in Rom lesen, die übel dran
sind. In ihrem Gebäude gibt es eine Rattenplage. Außerdem ist das Trinkwasser
mit Legionellen verseucht. Auch so kann man die Justiz lahm legen. Maria, in
Norditalien, ist besser dran, aber ihr Beispiel zeigt, warum Italiens Gerichte
überlastet sind:
Maria, Richterin: "In jeder
Gesellschaft, in der du eine intellektuelle Arbeit machst, kannst Du
normalerweise die Recherchen delegieren, du hast Mitarbeiter. Der italienische
Richter nicht. Wenn du juristisch etwas vertiefen musst, wenn du komplexe
Nachforschungen machen musst, kannst Du das an niemanden delegieren. Du musst
es selbst machen. Es gibt keinen Beamten, der Dich unterstützt, du musst dir
sogar die Akten selber holen."
Und die Arbeit, die Maria erwartet, ist
beängstigend: laut der Studie des Europarates gab es Ende 2012 4.650.000
schwebende Zivilverfahren, und fast 1,5 Millionen Strafverfahren waren nicht
entschieden.
Maria, Richterin: "Eines
der Probleme ist meiner Meinung nach das Missverhältnis zwischen dem Bedarf an
Rechtsprechung und dem Angebot. Das ist ein Problem des Systems. Da gibt es
Unterschiede zwischen Zivil- und Strafrecht. Sicherlich gibt es viel
Streitsucht, die in der Gesellschaft nicht anders ausgelebt werden kann - und
so suchen die Leute ein Ablassventil in den Prozessen."
Wenn die Strafe zu
mild ist, rufen die Bürger "Schande!"
Wenn wieder ein Fall in die Verjährung
gekommen ist, nach langen Gerichtsverfahren, an deren Ende kein Schuldiger
steht und wenn die Strafe in den Augen vieler zu milde ausfällt, dann entlädt
sich der Zorn der Bürger, dann rufen sie Vergogna – Schande.
In Palermo, auf Sizilien, kann man
sehen, dass es auch anders geht. Nach den Morddrohungen gegen die
Anti-Mafia-Staatsanwälte haben sie dort einen Verein gegründet: Scorta civica,
was man mit Bürger-Eskorte übersetzen könnte. Sie wollen zeigen, dass es Bürger
gibt, die eine starke Justiz wollen – und sie wollen den Vertretern dieser
starken Justiz den Rücken stärken. Sie kommen, wenn es geht, wenn zum Beispiel
Nino Di Matteo irgendwo auftritt, sie versuchen, so oft es geht, im
Gerichtssaal zu sein, bei den Verhandlungen – damit die Ermittler nicht allein
dastehen. Linda Grasso ist fast immer dabei. Es gab schon Versuche, auch die
Leute von Scorta Civica einzuschüchtern. Deutliche Hinweise, dass sie sich auf
gefährlichem Terrain bewegen. Aber Linda Grasso und ihre Mitstreiter lassen
sich nicht einschüchtern:
Linda Grasso: "Ja, aber wir
werden da sein! Wir geben nicht auf! Wir sind da und werden immer da
sein!"
Sie hat schon zu viel erlebt, um
Vertrauen in Italiens Justiz zu haben. Linda Grasso versucht die zu
unterstützen, die versuchen, aus diesem maroden System das Beste zu machen –
aber ist Italien so gesehen überhaupt noch ein Rechtsstaat?
Linda Grasso |
Linda Grasso: "Ja,
theoretisch ja. Ein Rechtsstaat! Wir sind der Mafia ausgeliefert. Eigentlich
haben alle Gewalt über uns, außer denen, die es sollten."
Im großen Verhandlungsbunker des
Gerichts von Palermo versucht der Staat derweil Verstrickungen des Staates mit
der Mafia aufzuklären. Neulich musste sogar der greise Staatspräsident
Napolitano aussagen. Nino Di Matteo hatte darauf bestanden – und war wieder
einmal heftig angegangen worden. Vielleicht wird in einem Jahr ein Urteil
gesprochen, vielleicht dauert es auch länger. Und sicher kommt noch eine
weitere Instanz, die alles wieder kippen könnte.
Bei dem Prozess werden Bosse der Mafia
aus Ihren Gefängnissen zugeschaltet, aus denen sie immer noch ihre Mordbefehle
erteilen. Zeugen werden diskreditiert, der Prozess mit sinnlosen Anträgen
blockiert. Dieser Prozess, in dem der Staat auch sich selbst auf die
Anklagebank gebracht hat, ist sinnbildlich für Italiens Justiz. Unten steht
Nino Di Matteo, der Staatsanwalt. Zusammen mit seinem Team ist er ein Symbol
dafür, dass es noch Hoffnung gibt für den Rechtsstaat Italien.
Nino Di Matteo: "Viele
Bürger wollen wirklich eine schnelle, effiziente Rechtsprechung, die auf
niemanden Rücksicht nimmt, die alle gleich behandelt, so wie das unsere
Verfassung vorsieht. Auf dem Gebiet der Politik und der Gesetzgebung ist aber
noch nicht alles gemacht worden, was zu tun wäre, um das Grundrecht der
Gleichheit aller vor dem Gesetz umzusetzen. Ich träume davon, dass unsere
Verfassung, die ich zu den besten der Welt zähle, nicht so sehr reformiert,
sondern vor allem angewandt wird."
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