http://www.welt.de/politik/ausland/article133891442/Das-ist-der-mutigste-Buergermeister-Italiens.html
Allein
gegen das Böse in Kalabrien: Der 31-jährige Giuseppe Falcomatà hat der Mafia
den Kampf angesagt. Wie schon sein Vater, versucht er, die 'Ndrangheta zu
vertreiben - unter Lebensgefahr.
Riskante Mission: Giuseppe Falcomatà will in Reggio Calabria der Mafia ein Ende setzen – mit einer "Revolution der Normalität" |
Giuseppe Falcomatà ist jung, schön und sehr elegant – wie man
sich einen attraktiven Italiener eben vorstellt. Er hat ein strahlendes
Lächeln, einen federnden Gang. Höflich begrüßt er seine Besucher. Doch dann ist
er schlagartig anders, sehr ernst, die Augen gehen auf Distanz, sezieren, als
müsste er blitzschnell Daten verarbeiten. Das hat er früh gelernt.
Seit Mittwoch ist der
erst 31-jährige Politiker neuer Bürgermeister seiner Heimatstadt Reggio
Calabria, die tief im Süden Italiens in der Region Kalabrien liegt. Aber
Falcomatà ist hier nicht angetreten, um es mit irgendeiner Oppositionspartei
aufzunehmen.
Sein politischer Gegner ist
ein lebensgefährlicher Feind: die 'Ndrangheta, heute eine der mächtigsten
Mafia-Organisationen der Welt. Sie regiert in Kalabrien und hat an vielen Orten
der Region die staatliche Gewalt untergraben oder ersetzt. Sie kontrolliert von
hier auch ein Verbrecher-Imperium in fünf Kontinenten, macht mit Drogen- und
Waffenhandel, Erpressung und Geldwäsche Umsätze, die geschätzt ein Zehntel von
Italiens Bruttosozialprodukt ausmachen.
Giuseppe Falcomatà weiß, dass er dieser
'Ndrangheta den Kopf nicht abschlagen kann. Aber er möchte wenigstens seine
Stadt aus ihren Klauen befreien, die sie zu ersticken drohen. "Meine
Vorgänger haben die Politik und öffentliche Gelder als Privatsache
angesehen", sagt er. Sie hätten sich selbst bedient und nicht die Stadt
und dafür in Kauf genommen, "dass die 'Ndrangheta sie bei den Wahlen
unterstützte", oder, noch schlimmer: direkt Einzug in die Stadtregierung
hielt.
Die Mafia nahm in
städtischen Betrieben Platz
Vor zwei Jahren war dieser bis dahin
unvorstellbare Höhepunkt politischer Korruption und mafiöser Arroganz in Reggio
Calabria erreicht: Zum ersten Mal war die Mafia, vor den Augen der
Öffentlichkeit, in die Regierung einer italienischen Provinzhauptstadt
eingedrungen. 'Ndrangheta-Leute hatten in der Geschäftsführung städtischer
Betriebe Platz genommen. Die Regierung in Rom setzte einen Zwangsverwalter auf
den Stuhl des letzten Bürgermeisters von Reggio Calabria.
Dass der junge Falcomatà nun endgültig
mit diesem System Schluss machen will, könnte lebensbedrohlich sein. Aber er hat
keine Angst, erklärt schlicht: "Die Stadt würde total veröden, wenn wir
alle nur weglaufen."
Statt heroischer Ziele verfolgt er ein
simples Rezept, das er die "Revolution der Normalität" nennt. Auch er
selbst will ganz normal weiterleben, in der Freizeit Fußball spielen, wenn er
sie hat. Wie genau seine Revolution aussehen soll, will er auf den Straßen der
Kleinstadt mit seinen knapp 200.000 Einwohnern erklären.
Auf der Strandpromenade hat eine Gruppe
Demonstranten den Verkehr lahmlegt. Langzeitarbeitslose, die seit Monaten keine
Sozialhilfe mehr bekommen. In Reggio Calabria sind über 50 Prozent der Menschen
ohne Arbeit, es gibt keine Industrie und die früher florierende
Klientelwirtschaft wirft kaum mehr etwas ab, seit die italienische Regierung
spart. Die Leute rufen Falcomatà "Viva Beppe!" entgegen,
applaudieren, umarmen ihn, obwohl sie wissen, dass er nichts mehr zu verteilen
hat und es auch nicht tun würde. Was wollen sie dann?
Den Leuten "eine
normale Existenz zurückgeben"
"Die Bürger brauchen Licht,
fließendes Wasser, Straßen, Verkehrsmittel, Kindergärten", erklärt der
Bürgermeister. Dinge wie Umweltsanierung und Aufwertung von Kunstschätzen, um
den Tourismus anzukurbeln, wirken wie Fernziele. In Reggio Calabria gibt es
einen der weltweit besten Strände für Kitesurfer. Aber erst einmal "müssen
wir den Leuten eine normale Existenz zurückgeben." Denn normal ist in
Reggio Calabria so gut wie nichts.
Wie es aussieht, wenn Mafia und
Korruption jahrzehntelang wüten? Das kann man in der Stadt sehen. Wo früher die
Zitronen blühten, hat zügellose Bauwut Wunden aus Zement in die grünen Hügel
geschlagen, die vom Meer hinauf ins Gebirge steigen.
Ein verlorenes Paradies am blauen
Mittelmeer, wo Millionen römischer und europäischer Fördermittel in den Taschen
von Kriminellen verschwunden sind. Aus den Wasserhähnen der Häuser fließt eine
stinkend-salzige Brühe, aufbereitetes Meerwasser.
An der Strandpromenade herrscht wegen
starker Verschmutzung durch Kloaken seit Jahren Badeverbot. Die meisten Straßen
sind gesäumt von Müll und Dreck, gezeichnet von tiefen Schlaglöchern. Warum
"Licht anmachen" für Falcomatà schon eine Revolution ist, wird hier
deutlich. Nachts sind viele Straßen stockduster, dann gleicht die Stadt Beirut
nach dem Krieg, nicht einer Stadt im Süden der Europäischen Union.
Noch schlimmer ist es an der nördlichen
Peripherie von Reggio Calabria in der Trabantenstadt Argilla, wo die ganz
Armen, viele Kriminelle, Roma leben, die der frühere Bürgermeister Giuseppe
Scopelliti aus der Altstadt hierher deportierte. Der Berlusconi-Freund wurde
mittlerweile für Mafia-Kollusion verurteilt. Hohes Gestrüpp wuchert hier,
nackte Zementruinen stechen hervor. Alte Frauen, Schwangere und Kinder laufen
in der Mittagshitze am Straßenrand, denn es gibt nur einmal am Tag einen Bus in
die Stadt. Ein Amphitheater dient tagsüber Dealern als Marktplatz, nachts den
Prostituierten als Straßenstrich.
Müll türmt sich an der Straße.
"Ratten mit Glatze", wie Kinder riesige nackte Viecher nennen,
tummeln sich dazwischen. Sie haben Milben, deswegen keine Haare mehr. Die
Kinder hatten in diesem Sommer die Krätze. In die Schule geht hier keiner.
"Die sanitären Bedingungen sind verheerend, lebensgefährlich", sagt
die Journalistin Katia Colica, die ein Buch über dieses Getto geschrieben hat.
In den Häusern sind Asbest und Giftmüll verbaut. Colica ist eine der wenigen,
die Zugang zu Argilla haben. "Aber nur bis abends um neun. Danach ist das
hier die Bronx." Die Leute haben bemerkt, dass Fremde gucken,
fotografieren. Innerhalb weniger Minuten tauchen "Streifenwagen" auf,
junge Männer in getunten Autos. Wenn sie zum dritten Mal kommen, muss man raus.
Südlich von Argilla liegt das
Justizgebäude, ein postmoderner Bau. Im sechsten Stock sitzt Staatsanwalt
Nicola Gratteri, man muss zu Fuß hinauf, der Fahrstuhl klemmt. Die Wände sind
dreckig, Karren mit brisanten Akten stehen zur Selbstbedienung herum.
Unglaublich, dass so eine Schaltzentrale im Kampf gegen die internationale
Mafia aussieht, wo einer der erfahrensten Ermittler gegen das organisierte Verbrechen
nicht mal von einer gepanzerten Tür geschützt wird. Gratteri sitzt vor Bildern
der von der Mafia ermordeten Kollegen. Von seinem Büro blickt er auf die
Abhänge des Aspromonte-Gebirges. In den 70er- und 80er-Jahren hielt die Mafia
hier in Höhlen ihre Geiseln fest.
Die Killer von
Duisburg kamen aus San Luca
Gratteris Feind sitzt dort oben, im
kleinen San Luca, nur 30 Kilometer von Reggio Calabria entfernt. An den Straßen
stehen "Streifen", die den Falkenhorst der 'Ndrangheta abschirmen.
"In San Luca ist das Kommando", sagt er. Von dort leiten die
Mafiabosse Hunderte 'Ndrangheta-Filialen und ihre Geschäfte weltweit, so wie es
früher die Paten der Cosa Nostra in Corleone auf Sizilien taten. Aus San Luca
kamen auch die Killer von Duisburg, wo 2007 sechs Menschen im Kugelhagel vor
einer Pizzeria starben.
Dass die 'Ndrangheta so erfolgreich ist,
verdanke sie ihrer rigorosen Organisation und eisernen Regeln, erklärt
Gratteri. In dem patriarchischen System wird Verrat mit dem Tod bestraft.
"Die 'Ndrangheta ist zuverlässig, es gibt keine Überläufer, das macht sie
bei den kriminellen Partnern glaubwürdig in aller Welt." Auch ein
Entkommen gibt es nicht. Deshalb experimentiert der Präsident im nahen
Jugendgericht, Roberto Di Bella, mit einem selbst entwickelten Verfahren. Er
spricht 'Ndrangheta-Familien das Erziehungsrecht ab und schickt die
Jugendlichen in soziale Einrichtungen außerhalb Kalabriens.
Damit soll die Nabelschnur zur Familie
gekappt werden. Di Bella ist stolz auf erste Erfolge – er konnte nicht länger ertragen,
"Minderjährige zu verurteilen, deren Väter ich schon vor 20 Jahren
verurteilt habe".
Im Namen der Väter betreiben heute auch
die Söhne in "weißen Westen", die im Norden und im Ausland studieren
und als unbescholtene Manager agieren, das neue Kerngeschäft der 'Ndrangheta:
Geldwäsche und Investitionen in der legalen Wirtschaft Italiens und Europas.
Dagegen hat Europa keine Antikörper, "keine Normen und Gesetze, und ist
mit der Länge von Bananen beschäftigt, während die Mafia überall Fuß fasst",
wie Gratteri kritisiert. Allein in Deutschland gebe es "einige
Dutzend" 'Ndrangheta-Stützpunkte.
Die Familie lebte
eskortiert von Sicherheitspersonal
In Reggio Calabria seien diese Leute
längst "der harte Kern der öffentlichen Verwaltung, überall
infiltriert", sagte er. Die wirtschaftliche Misere macht viele zu stummen
Mitläufern. Promovierte Söhne der 'Ndrangheta säßen fest im Sattel, unbescholten.
Gratteri ist deswegen froh über die Wahl von Falcomatà. Aber ob der junge Mann
es allein mit dieser Mafia aufnehmen kann?
Falcomatà hat Antikörper. Er gilt als
brillanter Jurist, hat mit einer Arbeit über die Konfiszierung von Mafia-Gütern
im norditalienischen Bologna habilitiert. Vor allem kennt er seinen Feind seit
der Kindheit. Schon Vater Italo war in den 90er-Jahren Bürgermeister von Reggio
Calabria gewesen und hatte versucht, die Mafia zu bekämpfen. Eines Nachts stand
Giuseppes Elternhaus in Flammen. Die Familie lebte fortan eskortiert von
Sicherheitspersonal.
Vater Falcomatà starb 2001 an einem
Tumor – und die Mafia kehrte für viele Jahre in die vorderste Reihe der Politik
zurück. Als Falcomatà junior am Mittwoch sein Amt antrat, stand seine Schwester
Valeria im Prunksaal des Rathauses und weinte. "Im Namen des Vaters",
sagt Falcomatà, trete er jetzt an, "aber nicht, weil er mein Vater war,
sondern ein wichtiges, das einzige Vorbild für alle."
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