Von Roberto Saviano
In der Vorstellung bedeutet organisiertes Verbrechen, in
wunderschönen Villen zu leben, wunderschöne Autos zu haben und von schönen
Frauen umgeben zu sein. Die Wahrheit sieht ganz anders aus. Das Leben eines
Mafioso ist entsetzlich, trist und fast schon klösterlich. Die meisten Leute
verstehen nicht, dass Mafiosi, selbst die Bosse, wie Ratten in einem
Abwasserkanal leben. Sie sind gezwungen, den erlangten Reichtum zu verstecken,
weil sie sonst ihr Leben und das ihrer Angehörigen riskieren. Von dem Moment an,
wo sie diesen Weg einschlagen, wissen sie, dass es nur zwei Arten geben kann,
wie er enden wird: Entweder landen sie im Gefängnis oder sie werden von ihren
Feinden getötet.
Ich spreche hier insbesondere von den heutigen Mafiosi, der
derzeitigen Generation mächtiger, reicher und einflussreicher italienischer
Krimineller, die nur ein Lebensziel haben: Macht und Geld. Wenn man der Mafia
beitritt, beginnt man mit einem niedrigen Einstiegsgehalt. In der kalabrischen
'Ndrangheta bekommt man den Titel picciotto
d'onore („Ehrenbursche"), in der neapolitanischen Camorra den
Titel guaglione („Junge")-in
jedem Fall verdient man nicht sehr viel, wenn auch mehr, als sich in diesen
Teilen Süditaliens mit einer legalen Tätigkeit verdienen ließe. Anfangs bekommt
man möglicherweise 2.000 bis 3.000 Euro.
Sobald man dann mehr Verantwortung übernimmt (und es schafft, zu
überleben), steigt das Gehalt auf 6.000 bis 12.000 im Monat. Wenn man es noch
weiter nach oben schafft und einer der Handlanger des Bosses wird, kann der
Monatssold auf 30.000 bis 35.000 steigen. Als vicecapo und zweiter in der Befehlskette nach
dem Boss kommt man auf etwa 100.000 Euro im Monat. Und was die Bosse angeht-was
diese verdienen können, entzieht sich jeder Vorstellungskraft.
Im Allgemeinen haben kriminelle Organisationen viele Mitglieder,
von denen die meisten nicht wirklich viel Geld verdienen, auch wenn ihre Arbeit
teilweise sehr gefährlich ist. Gebietsbosse und capos können allerdings beträchtliche Summen
verdienen. Die Mitglieder von La Santa, einer Geheimgesellschaft aus den
ranghöchsten Mitgliedern der 'Ndrangheta, verdienen angeblich 100.000 Euro
monatlich. Die Monatsgehälter der Gebietsbosse in Scampia (dem Drehkreuz des
neapolitanischen Drogenhandels) reichen von 50.000 bis 100.000 Euro. Zu diesem
Geld kommen noch verschiedene andere Vergütungen in Form von Autos, Immobilien
oder Anteilen an den rechtmäßigen Unternehmen.
Darüber hinaus bietet jeder Clan eine eigene Form von Versicherung
an. Wenn man ein behindertes Kind hat, steigt das Grundgehalt. Falls (bzw.
wenn) man getötet wird, erhält die Familie Geld für das Begräbnis sowie eine
„Todesbeihilfe". Wird das Mitglied eines mächtigen Clans getötet, kann die
Familie wählen, ob sie eine Pauschale von 100.000 bis 240.000 Euro oder eine
monatliche Zahlung vorzieht, die dann an die Witwe, Mutter oder Freundin des
Toten (vorausgesetzt, diese ist die Mutter seiner Kinder) ausgezahlt wird.
Außerdem gibt es Gefängnisbeihilfen.
Nie werde ich eine Szene vergessen, deren Zeuge ich vor einigen
Jahren in einem Gerichtssaal in Neapel wurde. Vor Gericht standen Mitglieder
einer Camorra-Familie, und ich war wie so häufig da, um den Prozess zu
verfolgen.
Bei der Urteilsverkündung sah ich, wie einer der Angeklagten, erst
24 oder 25 Jahre alt, das Gesicht in den Händen vergrub, als er hörte, dass er
zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Er befand sich im Käfig, der
Zelle, in der Häftlinge während des Prozesses untergebracht sind. Einer meiner
Personenschützer, der gesehen hatte, wie jung der Angeklagte war, versuchte,
ihn zu trösten: „Wenn du dich gut benimmst, wird deine Strafe reduziert, du
wirst sehen", sagte er. „Außerdem ist dies erst die erste Instanz."
(In Italien gibt es drei Gerichtsinstanzen, von denen die ersten beiden das
Einlegen einer Berufung ermöglichen.)
Der Angeklagte hob den Kopf und entgegnete: „Ja und? Wer sagt jetzt
meiner Frau, dass ich nur acht Jahre bekommen habe?" Wie sich
herausstellte, war er wütend, weil seine Familie nach den Regeln seiner
Organisation bei einer Strafe von zehn Jahren fast 3.000 Euro im Monat erhalten
hätte, während es bei acht Jahren nur höchstens die Hälfte war.
Ich bin auf Camorra-Gebiet aufgewachsen und habe früh mitbekommen,
dass sich selbst Mord nicht wirklich auszahlt. Hinrichtungen sind
Sonderaufträge, die getrennt vom Tagesgeschäft des organisierten Verbrechens
abgewickelt werden und den Auftragsmördern einen Bonus-im Allgemeinen von etwa
2.500 bis 3.000 Euro-einbringen. Nach der Tat wird der Killer sofort an einen
sichereren Ort gebracht, fern von der Gegend, in der er normalerweise arbeitet.
Vor Jahren hat ein bezahlter Killer einmal für 2.200 Euro eine junge Frau in
Neapel umgebracht. Ihn schickte man in die Slowakei, wo die Polizei ihn nicht
finden konnte.
In vielerlei Hinsicht ähnelt der Beitritt zu einer kriminellen
Organisation dem Antritt eines neuen Jobs in einer Anwaltskanzlei oder einem
anderen großen Unternehmen: Man verdient kaum genug zum Leben, weiß aber, dass
man sich alles hart erarbeiten kann. Zu Anfang ist die Arbeit reine Routine und
manchmal auch erniedrigend, aber mit der Zeit werden die Aufgaben
prestigeträchtiger und man selbst wohlhabender und wichtiger. Die 2.000 Euro,
die ein picciotto
heute verdient, könnten zu Millionen werden, wenn er Boss wird. Auch die
Tätigkeit als Mafiakiller hat ihre Vorteile-jemanden zu töten, ist der Karriere
mit großer Wahrscheinlichkeit förderlich. Als einfacher Soldat oder
Angestellter kann man kein Boss werden.
Gelegentlich geht einem Clan das Geld aus, zum Beispiel, weil er
zu sehr im Blickfeld der Medien und der Polizei steht. Dann beschafft er sich
Kapital, indem er Schutzgeld von Unternehmen erpresst. So kann es vorkommen,
dass ein Clan in der Weihnachtszeit Geschäfte zwingt, den Preis für Panettone
zu verdoppeln, um die Jahresabschlussprämien für ihre inhaftierten Mitglieder
zahlen zu können.
In Extremfällen, dann, wenn sich der Clan in einer echten
Zwangslage befindet, genehmigt er vielleicht sogar Raubüberfälle. Raubüberfälle
sind bei der italienischen Mafia allerdings äußerst selten-genau wie
Prostitution gelten sie als „schmutzig". (Andererseits hat die Mafia kein
Problem damit, einen bestimmten Prozentsatz von dem Gewinn aus derartigen
Aktivitäten einzustreichen.)
Das Wichtigste, was kriminelle Organisationen wie die Mafia ihren
Mitgliedern bieten können, ist Sicherheit. Wenn du dich gut machst, wirst du
belohnt. Wenn du einen Fehler machst, stirbst du oder gehst für lange Zeit ins
Gefängnis. Doch selbst dann kümmert sich jemand um deine Familie und bezahlt
deine Anwälte. Ein derartiges Übereinkommen ist in unserer Zeit ziemlich selten
geworden-wie viele Arbeiter haben noch die Gewähr einer Lohnfortzahlung, wenn
sie sich bei der Arbeit verletzen? Und wie viele Leute leisten jahrzehntelang
anständige Arbeit im gleichen Job, ohne je eine anständige Lohnerhöhung zu
bekommen? Darin liegt die wahre Macht und die Anziehungskraft der Mafia.
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