In der Heimat der 'Ndrangheta ist die Armut
groß und der Staat kaum präsent. Platì und andere Dörfer in Südkalabrien werden
seit Jahren zwangsverwaltet und von der Politik vernachlässigt.
Seit Jahren hat Platì keinen gewählten
Bürgermeister mehr und wird durch einen «Commissario» zwangsverwaltet. Der
Gemeinderat des Orts mit 3700 Einwohnern an der Südspitze Kalabriens ist in den
letzten zwölf Jahren dreimal wegen Mafia-Infiltration aufgelöst worden. Bei den
Kommunalwahlen 2014 schaffte es die einzige eingereichte Liste nicht, das
nötige Quorum zu erreichen. Beim letzten Urnengang im Mai trat erst gar keiner
mehr an.
Politiker leben in Platì, der Heimat der
'Ndrangheta, gefährlich. Domenico Demaio, der letzte Bürgermeister, der es
wagte, sich der organisierten Kriminalität entgegenzustellen, bezahlte seinen
Mut 1985 mit dem Tod. Der kleine Platz vor dem Gemeindehaus wurde vor ein paar
Jahren nach ihm benannt und eine Gedenktafel zu Ehren «des Helden der ehrlichen
Bürger von Platì» angebracht. An den Machtstrukturen im Ort hat sich dadurch
wenig geändert.
Schutzgelder
Platì und seine Nachbargemeinde San Luca
sind in ganz Italien bekannt, oder besser gesagt berüchtigt. Die kalabresische
Mafia war hier im 19. Jahrhundert aus Gruppen von Briganten heraus entstanden
(wie Räuber und Gesetzlose damals genannt wurden). Traditionell waren
Entführungen und Erpressungen die Haupteinnahmequellen der Clans. Mittlerweile
verdienen diese ihr Geld vor allem mit Drogenhandel und Geldwäsche.
Der kometenhafte Aufstieg der
'Ndrangheta in den letzten Jahrzehnten hat Platì allerdings wenig gebracht.
Wohltätigkeit gehört nicht zu ihrem Programm. Die Herrschaft der Clans beruht
auf dem Konsens weniger und der stillen Duldung vieler, die sich aus Angst oder
Eigeninteresse den Kriminellen unterwürfen, anstatt Anzeige zu erstatten. Die
Machenschaften der Mafia kosten Kalabrien laut der Studie 1,2 Milliarden Euro
im Jahr. Rund 40 000 Firmen seien gezwungen, Schutzgelder zu zahlen.
Auch viele Politiker und Beamte sind
korrupt oder stecken mit der organisierten Kriminalität unter einer Decke.
Sonst ist der Staat hier wenig präsent, einmal abgesehen von Repressionsmaßnahmen.
Die Locride, das Gebiet zwischen den schönsten Stränden Italiens am Ionischen
Meer und dem atemberaubenden Bergmassiv des Aspromonte, hätte großes
touristisches Potenzial. Doch die jahrzehntelange staatliche Vernachlässigung
hat Spuren hinterlassen. In einigen Vierteln Platìs gibt es bis heute kein
fließendes Wasser. Die Straßen sind in einem katastrophalen Zustand.
Am Fuße des Ortes im Tal steht das Skelett
einer geplanten Schnellstraße auf Betonpfeilern, das inmitten eines Feldes
endet. Das Bauwerk wirkt wie ein Mahnmal der Perspektivlosigkeit. Das Großprojekt
war um die Jahrtausendwende in Angriff genommen worden, um die Ost- und die
Westküste Kalabriens zu verbinden und damit der Isolation der bitterarmen
Locride ein Ende zu setzen. Doch seit Jahren steht die Bauarbeit still.
Die Menschen hier leben von ihren
Olivenbäumen und ihrem Vieh. Doch in der Landwirtschaft lässt sich immer
weniger verdienen, und andere
Erwerbsmöglichkeiten gibt es kaum. Die
Arbeitslosigkeit ist noch höher als in anderen Ecken Süditaliens. «Jeder zweite
Jugendliche hat keine Arbeit», erklärt der Anwalt Antonio Pangallo. «Und was
sollen junge Leute hier in der Freizeit tun? Es gibt weder einen Fußballplatz
noch ein Kino.» Wer könne, verlasse Platì, sagt der Mittvierziger. Er sei aus
Überzeugung geblieben. Aus seiner ehemaligen Schulklasse lebe sonst kaum noch
einer hier. Der von Rom entsandte Zwangsverwalter, Luca Rotondi, tut, was er
kann, um den Bürgern mit den beschränkten Mitteln, die er zur Verfügung hat,
das Leben zu erleichtern. Bald würden alle Haushalte fliessendes Wasser haben,
erklärt er stolz.
Vorurteile und Sippenhaftung
Niemand im Ort stellt Rotondis gute
Absichten infrage. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist der zupackende
Neapolitaner populär. «Trotzdem wollen wir nicht länger zwangsverwaltet
werden», sagt Giuseppe Lentini. «Wir wollen endlich wieder einen gewählten
Bürgermeister!»
Der ehemalige Vizebürgermeister hat eine
unglaubliche Wut im Bauch. Im November 2003 war er bei einer Großrazzia
verhaftet und nach 22 Tagen aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen worden.
Alle damals Verhafteten seien unschuldig gewesen, behauptet der 67-Jährige. Dem
dürfte zwar kaum so gewesen sein. Bei der Aktion scheint aber tatsächlich
vieles schiefgelaufen zu sein. Von über 140 Verhafteten kamen am Ende 19 vor
Gericht; 8 von ihnen wurden verurteilt, der Rest kam wegen Verjährung frei.
Justiz und Polizei konnten im Kampf
gegen die 'Ndrangheta in den letzten Jahren allerdings auch einige Erfolge
verzeichnen. Zahlreiche Mafiabosse – unter anderem aus Platì – wurden
verurteilt und Vermögen im Wert von Milliarden beschlagnahmt. Heute vergeht
kaum ein Tag, an dem die Medien nicht über Polizeiaktionen gegen die
kalabresische Mafia irgendwo im Land berichten. Dennoch scheint diese kein
Nachwuchsproblem zu haben. Söhne, Brüder und Cousins der Verurteilten führen
die Geschäfte weiter, und wenn die Bosse ihre Strafe abgesessen haben, steigen
sie meistens sofort wieder ein.
Wegen der starken lokalen Verwurzelung
der 'Ndrangheta ist in Platì fast jeder direkt oder indirekt mit einem
verurteilten oder gesuchten Mafioso verwandt. Das Innenministerium scheint
deshalb die gesamte Bevölkerung eines politischen Amtes für unwürdig zu halten.
Und Platì ist kein Einzelfall. «Als ich
Vizebürgermeister war, wurde der Gemeinderat mit fragwürdigen Argumenten
aufgelöst», so schimpft Lentini. «Wir werden hier kollektiv als Verbrecher
abgestempelt. Selbst wenn mein Onkel ein Krimineller wäre, könnte aber doch ich
ein ehrwürdiger Mensch sein!»
Auch Rosario Rocca, Bürgermeister des
benachbarten Benestare, kritisiert die Auflösung gewählter Lokalverwaltungen.
Der Staat könne nicht ganze Gemeinden in Sippenhaftung nehmen, sagt der
38-Jährige, der ein bequemes Leben als Lehrer in Turin aufgegeben hat, um in
seiner Heimatgemeinde die Dinge zu verändern. Platì sei ein Sinnbild für das
Scheitern des Staates in der Region. Die Rechte der Bürger würden hier seit
Jahren mit Füssen getreten. Damit spiele der Staat der Mafia in die Hände,
anstatt das Volk auf seine Seite zu ziehen.
Resignierte Bürger
Auf einem Schild über der Kasse in dem
kleinen Lebensmittelgeschäft von Platì steht: «Kein Einkauf auf Kredit!» Früher
habe man anschreiben lassen, erklärt der junge Verkäufer. Doch immer mehr Leute
könnten ihre täglichen Einkäufe nicht mehr bezahlen, und irgendwie müsse man ja
selbst über die Runden kommen. Platì ist ein Kaff. Jeder kennt jeden. Besucher
werden misstrauisch beäugt, Journalisten sowieso. Von den Medien erwartet man
nichts Gutes. Die verbreiteten nur Lügen, erklärt uns Lentini über einem Bier.
Er nimmt sich immerhin die Zeit, uns seine Sicht der Dinge darzulegen. Die
anderen Männer, die an diesem Abend in der Bar an der Hauptstraße Karten
spielen, schauen uns nur grimmig an.
Die Menschen in Platì fühlen sich als
Opfer. Als Opfer der Justiz, der Politik, der öffentlichen Meinung und
wahrscheinlich auch jener, denen sie dies alles verdanken. Doch das wagt keiner
laut zu sagen. Unter der Mafia litten die Dörfler nicht, nur unter dem Staat,
sagt Pangallo. Auch Lentini leugnet das Problem: «Was sehen Sie hier? Macht?
Reichtum? Nur bittere Armut gibt es!» Die Mafia finde man dort, wo es Geld zu
verdienen gebe, fügt er hinzu, im Finanzsektor und in der Politik.
In der Tat wirkt Platì nicht gerade wie
die Hochburg des einflussreichsten Verbrechersyndikats Europas. Die Clans
scheinen hier kaum wirtschaftliche Interessen zu verfolgen. Die Heimat bleibt
laut Ermittlern aber ein wichtiges Rekrutierungszentrum und ein Rückzugsort für
gesuchte Mafiabosse. Platì ist ihr Zuhause, und solange hier ein politisches
Vakuum herrscht, können sie sich sicher fühlen.
Die Parlamentarierin Doris Lo Moro
spricht von einer schweren Krise der Beziehung zwischen Bürgern und staatlichen
Institutionen. Gemeinden, die von der Mafia infiltriert seien, brauchten
dringend mehr staatliche Hilfe, sagt die aus Kalabrien stammende Senatorin. Es
reiche nicht, einen «Commissario» zu entsenden und diesen dann sich selbst zu
überlassen. Damit gebe man die Ortschaften der Mafia preis, und die Bürger
fühlten sich zu Recht vom Staat im Stich gelassen.
Ein mutiger Bürgermeister
Dass es anders geht, hat Rosario Rocca
bewiesen. Er und sein Team von Gemeinderäten wurden 2009 in Benestare gegen den
Widerstand der lokalen Mafia gewählt und im letzten Jahr mit überwältigender
Mehrheit bestätigt. Wie überall in der Region sei die 'Ndrangheta auch in
seiner Gemeinde allgegenwärtig, sagt er. Doch sei es ihm gelungen, diese aus
öffentlichen Aufträgen und anderen Gemeindeangelegenheiten herauszuhalten.
Er wolle den Rechtsstaat stärken und
eine gewisse Normalität für die 2500 Bewohner schaffen, sagt Roca. Das passe
den Mafia-Clans natürlich nicht. Dreimal hätten sie sein Auto angezündet und
wiederholt auch seine Familie bedroht. Mehrere Male seien zudem Kehrichtwagen
der Gemeinde zerstört worden. Er habe seinen Feinden aber klargemacht, dass er
sich durch Einschüchterungsversuche nicht von seinem Kurs abbringen lasse, fügt
der noch immer sehr motiviert scheinende 36-Jährige hinzu.
Die Unterstützung der Bevölkerung gebe
ihm den Mut, weiterzumachen.
«Der demokratische Staat hat in
Kalabrien kläglich versagt», kritisiert Rocca. «Lokalpolitiker bekommen kaum
Unterstützung. Die Institutionen auf Distrikt- und Regionalebene sind schwach
oder unterwandert. Die Verbrechen der Mafia bleiben ungesühnt. Nur dank diesem
institutionellen Vakuum konnte die 'Ndrangheta hier so stark werden.» Sein
wichtigstes Projekt war die Schaffung von Quartierkomitees, mit denen er die
Teilnahme am öffentlichen Leben stärken will. «Die Bürger haben resigniert. Ich
will sie politisch wieder einbinden und zeigen, dass positive Veränderungen
selbst in einem Ort wie Benestare möglich sind.»
Eine engagierte Politikerin
Auch die aus einem Küstenort der Locride
stammende Maria Grazia Messineo sieht die politische Klasse in der Pflicht,
allen voran ihren Partito Democratico. «Bei den Regionalwahlen im Mai haben die
Demokraten und seine Verbündeten in Platì über 70 Prozent der Stimmen erhalten.
Dennoch haben wir es nicht geschafft, Kandidaten auf lokaler Ebene
aufzustellen. Wie ist das möglich?», fragt die Jungpolitikerin.
«Die Justiz und die Polizei können den
Kampf gegen die Mafia allein nicht gewinnen. Sie sind auf die Unterstützung der
Politik angewiesen», sagt die 26-Jährige.
Die Mehrheit der Bewohner von Platì
seien ehrliche Menschen. Im Gegensatz zur Mafia seien sie aber nicht
organisiert. Das wäre eigentlich die Aufgabe der Parteien, doch diese seien
hier seit Jahrzehnten nicht mehr präsent. Die Rechtsstudentin organisiert in
Platì regelmäßig Bürgerversammlungen und ist überzeugt, dass sich im Ort
durchaus wählbare Kandidaten für politische Ämter finden würden. Einen kleinen
Erfolg konnte sie bereits verbuchen, wie sie sagt. Mit Unterstützung von
Parteikollegen aus Rom wurde im Juni in Platì ein Parteisitz eröffnet. Das Büro
steht allerdings noch immer leer, weil die Regionalsektion der Demokraten es
bisher nicht geschafft hat, einen Sekretär zu ernennen.
Der Regierungschef Renzi sei angetreten,
um die korrupten politischen Strukturen im Land zu «verschrotten», erklärt
Messineo. Kalabrien habe seine Politik der Erneuerung leider noch nicht
erreicht.
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