Von Henning Klüver
Der sizilianische Autor
Andrea Camilleri wird neunzig - und nicht zufällig am selben Tag erreicht seine
populärste Figur, Commissario Salvo Montalbano, das Rentenalter.
Neunzig Jahre wird er alt und kann es
nicht lassen. Andrea Camilleri schreibt auf Teufel komm raus ein Buch nach dem
anderen. Er arbeitet, schwer sehbehindert, mühsam mit Riesenlettern auf dem
Computer. In diesem Sommer ist gerade beim Verlag Sellerio in Palermo ein neuer
Band seiner Montalbano Krimiserie herausgekommen. Ein weiterer ist in
Vorbereitung. Rizzoli (Mailand) bringt die bislang nur als Beilage für den Corriere
della Sera erschienene Erzählung "La Targa" ("Die
Ehrentafel") als Buch.
Geboren wurde Andrea Camilleri am 6.
September 1925 in Porto Empedocle an der Südküste von Sizilien. Im nahen
Agrigent besuchte er das humanistische Gymnasium. Nach einem abgebrochenen
Philosophiestudium machte er einen Abschluss im Fach Regie auf der Nationalen
Schauspielschule in Rom. Seitdem darf er sich "maestro" nennen. Erste
Versuche, als Literat mit einem Gedichtband zu reüssieren, verliefen im Sand.
Camilleri trieb sich lieber im Theater und in Fernsehstudios herum, inszenierte
Pirandello, brachte als Erster Beckett nach Italien oder bearbeitete Simenons
Romane mit dem Kommissar Maigret für die Rai.
Erst im Alter wurde Camilleri zum Erfolgsautor
Durch die Vermittlung des großen
sizilianischen Autors Leonardo Sciascia fand er als Sechzigjähriger wieder
Kontakt zu Verlagen wie Sellerio. Erste Titel blieben ohne Erfolg. Mitte der
90er-Jahre platzte dann der Knoten, mit zwei Büchern, die künftige Themenfelder
absteckten. Mit "Il birraio di Preston" ("Die sizilianische
Oper", Piper 2000) begann die Auseinandersetzung mit der Geschichte
Siziliens. In "La forma dell'acqua" ("Die Form des
Wassers", Lübbe 2000) betrat ein gewisser Commissario Montalbano zum
ersten Mal sein Revier. Hier wie dort war das Städtchen Vigàta Ort der
Handlung. Ein Fantasiename für einen Fantasieort, der Porto Empedocle, dem
Geburtsort des Autors, verblüffend ähnelt.
Mehr als 100 Bücher hat Camilleri inzwischen
veröffentlicht, nachdem er als Rentner das Schreiben entdeckt hatte. Davon 40 allein mit Salvo Montalbano - der Name ist eine Hommage
an den spanischen Autor Manuel Vázquez Montalbán. Von der Krimireihe wurden in
Italien bis heute zwölf Millionen Exemplare verkauft, ein Feuerwerk in einer
eher müden Verlagslandschaft, angefacht auch durch die Fernsehserie mit dem
glatzköpfigen Luca Zingaretti in der Hauptrolle. Sogar im Comic
"Topolino", der italienischen Mickey Mouse, tauchte ein Commissario
"Topalbano" auf.
Das sizilianische Lokalkolorit, eine oft deftige Sprache,
Liebesgeschichten und eine klare dialogische Erzähltechnik garantieren
Lesevergnügen, jedoch mit Widerhaken. So mühelos und scheinbar oberflächlich
Camilleri erzählt, so geschickt streut er Bosheiten, Kritik und politische
Kommentare in seine Bücher ein.
Psychotherapeuten, berichtet der Corriere della Sera,
verschreiben Montalbano-Krimis gegen Lesestörungen. Und der Sellerio Verlag
feiert seinen Starautor jetzt mit einem Band "I sogni di Andrea
Camilleri" ("Die Träume von Andrea Camilleri"), der alle
Traum-Texte seiner vielen Bücher versammelt.
Dass Camilleri-Titel bislang in 120
Sprachen übersetzt wurden, ist nicht ohne Tücke. Der Autor hat eine eigene,
unverwechselbare Kunstsprache entwickelt, die das Hochitalienische mit Wörtern
und Redewendungen des Dialekts von Agrigent durchsetzt. Monika Lustig, die
Übersetzerin von "Die sizilianische Oper" sah vor 15 Jahren in ihrem Nachwort in der volkstümlich anmutenden
Redeweise so etwas wie einen literarisch-sprachlichen Widerstand gegen alle
Herrschaftsidiome.
Moshe Kahn, der für den Wagenbach Verlag mehrere der Romane mit
historischen Stoffen übertragen hat, suchte beim Schelmenroman "König
Zosimo" mit altdeutschen Ausdrücken der Sprachfärbung des Originals
nahezukommen. Und Rita Seuß, die gemeinsam mit Walter Kögler die meisten
Montalbano-Titel für Bastei Lübbe übersetzt hat, spricht von der Last, aber
auch von der Lust, möglichst viel von dem Reichtum an Flüchen, Bildern und
Sprichwörtern der Camilleri-Texte zu erhalten.
Während
der Berlusconi-Ära hat Camilleri Flagge gezeigt
Bei Nagel & Kimche ist "Die
Revolution des Mondes" (2014), einer der schönsten Romane des späten
Camilleri, erschienen. Karin Krieger hat ihn nicht aus dem Italienischen,
sondern "aus dem Sizilianischen" übersetzt. Es ist die Geschichte
einer Frau als Übergangsherrscherin im 17. Jahrhundert, die einen Monat lang
die Männergesellschaft der von Spaniern beherrschten Insel in Atem hält und die
Ahnung einer gerechteren Welt vermittelt.
Kritik an den Verhältnissen übt auch
Commissario Salvo Montalbano. Entsetzt nimmt er wahr, was seine Kollegen beim
G-8-Gipfel in Genua 2001 anrichten. Das Politische beschränkt sich jedoch nicht
nur auf Romane und Erzählungen. Wie viele junge Italiener trat Camilleri 1945
der Kommunistischen Partei bei. Zeit seines Lebens hat er sich als
"Linker" verstanden, sich mit der Mafia auseinandergesetzt,
Umweltsünden kritisiert. Derzeit unterstützt er Künstler aus
dem Gazastreifen.
Besonders während der Berlusconi-Ära
mischte er sich aktiv in öffentliche Debatten ein. Einer der Höhepunkte war
eine Artikelfolge in Sonderausgaben der Zeitschrift MicroMega zur
Parlamentswahl 2008, mit Glossen zur Charakterisierung des durchschnittlichen
Berlusconi-Italieners. Der möchte ein "Motorino" sein, sich wie die
Mopeds durch den Verkehr wuseln, rote Ampeln und Einbahnstraßen missachten und
darauf vertrauen, dass die Polizisten sowieso weggucken: "Ihre Bewegung
ist ein einziger Verstoß gegen die Regeln. Sie dürfen alles."
Regeln einhalten, ein funktionierender
Staat - das ist für den in Rom lebenden Sizilianer eine revolutionäre Utopie.
Die politischen Artikel Camilleris sind unter dem Titel "Was ist ein
Italiener", versehen mit Kommentaren von Peter Kammerer, bei Wagenbach auf
Deutsch erschienen. Ein aktives politisches Engagement des Autors allerdings,
der bei der Europawahl 2009 für eine autonome linke Verbindung antreten wollte,
scheiterte bereits im Vorfeld an innerparteilichen Querelen.
Das Kapitel aktive Politik ist für
Camilleri inzwischen abgeschlossen. Er macht sich Sorgen um seine populärste
Kreation, um Salvo Montalbano, den er am 6. September 1950,
genau 25 Jahre nach seiner eigenen Geburt, auf die
Welt hat kommen lassen. Also kann Montalbano an diesem Sonntag seinen 65. Geburtstag feiern und sich auf das Rentnerdasein
vorbereiten. Was soll er machen, wenn künftig, sagen wir Dottore Augello das
Kommissariat von Vigàta leitet? Soll er im Meer angeln, zu Livia nach Genua
ziehen oder gar nach dem Vorbild seines Schöpfers Buchautor werden? Er habe, so
erzählte Andrea Camilleri, das "Ende Montalbanos" bereits vor Jahren
beschrieben und das Manuskript dem Sellerio Verlag übergeben. Der soll es nach
seinem Tod veröffentlichen.
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