Von Hans-Jürgen Schlamp, Rom
"Der Süden stirbt", so Savianos
"Schmerzensschrei". Premier Renzi habe "die Pflicht", sich
endlich um den "Mezzogiorno" zu kümmern. Bislang habe er nichts
getan.
Der Adressat, derzeit mit Familie auf Japan-Besuch,
war empört, verbat sich "das Geheule über den Süden" und mahnte,
"wer es gut meint mit Italien, höre auf, darauf zu schießen". Nun
streitet das Land, wer recht hat.
Dabei stehen die Fakten eindeutig auf Seiten Savianos.
Italiens Süden, das zeigt zum Beispiel die Statistik über das
Wirtschaftswachstum, fällt ökonomisch immer weiter zurück. Demnach wuchsen die
Volkswirtschaften in der Eurozone zwischen 2000 und 2013 um 37 Prozent. Italien
schaffte gerade einmal 20 Prozent.
Tatsächlich aber lag das Wachstum im
wirtschaftsstarken Norden von "Bella Italia" deutlich darüber, die
Südhälfte brachte es dagegen in 13 Jahren nur auf magere 13 Prozent. Das ist
nur etwa die Hälfte des Wachstums im Krisenstaat Griechenland. Dort waren es im
selben Zeitraum immerhin 24 Prozent.
Jede dritte Familie in Süditalien gilt als
arm
Die Folge der wirtschaftlichen Misere ist in Italien
südlich von Rom vielerorts zu sehen, vor allem in Sizilien. Verlassene
Fabriken, brüchige Brücken, marode Straßen, Abbruch statt Aufbruch. Jede dritte
Familie in der Südhälfte des italienischen Stiefels gilt als arm, im Norden ist
es jede zehnte.
Und der Trend ist ungebrochen:
§
Auch 2014 fiel die Wirtschaftsleistung pro Einwohner im Süden des Landes.
Sie liegt jetzt nur noch bei 64 Prozent des italienischen Durchschnitts, auf
ähnliche Niedrigwerte sind die Einkommen und die Konsumausgaben der
süditalienischen Familien gefallen.
§
Die Beschäftigung sackte auf den tiefsten Stand seit 1977, weiter zurück
reicht die Statistik nicht.
§
Die Wertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe nahm auch im vergangenen Jahr
weiter ab, um 2,7 Prozent. Zum Vergleich: Im Durchschnitt Europas nahm sie um
1,6 Prozent zu, in Deutschland sogar um 2,1 Prozent.
§
In der Industrie sieht es noch schlimmer aus, aber von der ist ohnehin
nicht mehr viel zu sehen.
Wer kann, wandert aus, klagt Saviano in seinem
Brandbrief. Vor allem die gut ausgebildeten Jungen ziehen in Scharen weg.
Erinnerungen werden geweckt an die Zeiten, in denen Millionen von Süditalienern
nach Amerika auswanderten.
"Nichts mehr zu melken"
Oder daran, wie später VW in Wolfsburg oder die
Ford-Werke in Köln Tausende aus Kampanien, Kalabrien und Sizilien anlockten.
"Alle, wirklich alle wollen weg", schreibt Saviano. Selbst die Mafia
ziehe es in Italiens Norden oder ins Ausland, weil es in ihren Stammlanden
"nichts mehr zu melken" gebe. Und viele Italiener, im Parlament und
in den Kaffeestuben, sagen: "Ja, so ist es. Eine Schande!"
"Alles übertrieben", halten die Sprecher und
Anhänger der Renzi-Regierung dagegen. Zwar gebe es im Süden durchaus Probleme,
aber man sei ja dabei, Italien zu reformieren, und das werde auch dem Süden
helfen. Schon im Herbst, kündigte Federica Guidi, Ministerin für die
wirtschaftliche Entwicklung des Landes, jetzt überraschend an, werde man ein
gigantisches Investitionsprogramm für den "Mezzogiorno" vorlegen, mit
mindestens 80 Milliarden Euro. Von einem "Marshallplan für den Süden"
spricht nun auch ihr Ministerkollege Graziano Delrio, zuständig für den Ausbau
der Infrastruktur.
Camorra-Boss Luigi Cimmino in Neapels Stadtteil Vomero: Der 54-Jährige wurde am 20. Juli verhaftet. Die Organisation profitiert von der Armut in der süditalienischen Stadt. Und von der Korruption. |
Doch an fehlendem Geld krankt der lahme Süden gar
nicht. Er ist vielmehr befallen von einem Krebsgeschwür aus korrupter
Bürokratie, korrupten Politikern und der Mafia, die mit der Politik und der
Bürokratie gut im Geschäft ist und nicht selten selbst in den Ämtern und
Parlamenten sitzt. Das Elend des Südens ist der Staat, der nicht funktioniert.
Bildung, Gesundheitswesen, Verkehr, alles liegt im Argen. Nur Geld gibt es bis
zum Abwinken.
Der gewaltige Batzen Geld wurde verballert
So lagen aus EU-Fonds und dem römischen Staatshaushalt
für die Jahre 2007 bis 2013 insgesamt 91 Milliarden Euro für die Region bereit.
49,4 Milliarden, also mehr als die Hälfte, wurden gar nicht abgerufen. Man
wusste offenbar einfach nicht, was tun damit.
Der Rest, 41,7 Milliarden Euro immerhin, wurde
weitgehend verplempert. Statt damit endlich die Eisenbahn- und Autobahnstrecken
europäischem Niveau anzupassen oder beispielsweise eine funktionierende
digitale Infrastruktur aufzubauen, wurde der gewaltige Batzen Geld in fast
einer Million Miniprojekte verballert. Jeder Bürgermeister, jeder Landrat, so
scheint es, hatte einen Wunsch frei.
So wurden etwa knapp sechs Millionen für eine
Segelregatta vor Neapel spendiert, zehn Millionen regnete es auf ein Theaterfestival
in Kampanien, in Apulien wurde für sechs Millionen eine CD mit regionaler Musik
bestückt und immer so weiter.
Für die Periode 2014 bis 2020 liegt noch viel mehr
Geld für den armen Süden bereit, 84 Milliarden Euro aus EU-Töpfen und 54
Milliarden aus römischen Quellen. Macht zusammen 138 Milliarden Euro.
Ein bisschen davon wurde sogar schon ausgegeben. Etwa
für die Strafe, die der italienische Staat nach Brüssel wegen illegaler
Subventionen an die - meist norditalienischen - Milchbauern zahlen musste. Oder
für ein Drei-Milliarden-Steuer-Geschenk für das Jahr 2015 an überwiegend
norditalienische Empfänger.
Doch ein großer Batzen ist erst einmal blockiert. Und
das kam so: Zuständig für die Süd-Milliarden aus den nationalen Fonds war bis
zum 2. April Graziano Delrio, Staatssekretär in Matteo Renzis Staatskanzlei.
Dann wurde er Infrastrukturminister, natürlich ohne Zuständigkeit für die
Geldberge. Die blieben in der Staatskanzlei.
Doch dem Delrio-Nachfolger, dem neuen Staatssekretär,
wurde die Zuständigkeit bislang nicht übertragen. Dafür fehlte vermutlich die
Zeit, denn ein paar Minuten dauert der formale Akt schon. Die Folge: Seit vier
Monaten werden Anträge auf die Finanzierung mehr oder weniger sinnvoller
Projekte zwar ordentlich gestapelt - aber nicht bearbeitet.
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