14.08.2015 | 16:45 | von Karl
Gaulhofer (Die Presse)
Es führt kein Weg in den Süden.
Zumindest keiner, der Reisende schnell und sicher ans Ziel bringt. Seit einem
halben Jahrhundert wird an der Autostrada A3 gebaut und repariert – länger als
an jedem anderen Straßenprojekt in Europa. Wen es an des Stiefels Spitze zieht,
der passiert ab Neapel zahllose unbeleuchtete Tunnel und rostige
Straßenschilder. Selbst auf manchen neuen Abschnitten darf man nur langsam
fahren. Der Zement ist dort zu verdünnt, um stabil zu sein. Neue Brücken
mussten wieder abgerissen werden. Was die Fahrer trotz vieler Baustellen kaum
sehen, sind Arbeiter – obwohl an die Tausend beschäftigt sind.
Verborgen bleiben auch die in Pfeilern
einbetonierten Leichen und die in Flammen aufgehenden Baumaschinen. Jeder
Kilometer geht an einen anderen Auftragnehmer, hinter allen steht die Mafia.
Gut organisiert ist hier nur die Kriminalität: Die Clans der kalabresischen
'Ndrangheta teilen sich die Pfründe auf. Fertig soll die „Autostrada della
Mafia“ nun 2018 sein – zum Zehnfachen der geplanten Kosten, auch der Mittel aus
Brüssel.
Keine Brücke nach Europa. Beifahrer
blicken beklommen auf Bauruinen in einsamer Landschaft. Man passiert den Hafen
von Gianni Tauro, Europas Landeplatz für Kokain aus Lateinamerika. Die Straße
endet in der trostlosen Provinzstadt Reggio Calabria. Dort löste die Regierung
vor drei Jahren den korrupten Stadtrat auf und stellte die Verwaltung unter
Kuratel. Immerhin: Die berühmten Bronzen von Riace, der touristische Trumpf der
Region, sind wieder zu sehen. Lang hatte man sie unter eine Treppe verstaut,
weil sich die Renovierung des Museums um vier Jahre verzögerte. Mit der seit
Jahrzehnten versprochenen Brücke nach Sizilien aber dürfte es nie etwas werden.
Keiner traut sich über das Projekt, auch aus Furcht vor Mafia und korrupten
Beamten. So bleibt die größte Insel des Mittelmeers ohne Anschluss an den
Kontinent. Die Straße in den Süden erweist sich als Sackgasse.
Reicher Norden, armer Süden: Seit jeher
gilt der Mezzogiorno als Italiens Sorgenkind. Zu den Ritualen des ungelösten
Problems gehören auch die Klagelieder der Svimez. Die Jahresberichte dieses
privaten Instituts, das Vorschläge zur Entwicklung Süditaliens macht, sind für
Regionalpolitiker stets ein willkommener Anlass, mehr Gelder aus Rom zu
fordern. Aber heuer haben die Forscher und Mahner einen weit stärkeren Nerv
getroffen.
Dem Süden drohe eine „industrielle
Wüste“, ein „demografischer Tsunami“ und eine „dauerhafte Unterentwicklung“:
Diese knackigen Formeln haben der italienischen Politik ihr heißes Sommerthema
beschert. Vor allem, als Mafiaexperte und Bestsellerautor Roberto Saviano
seinen Befund nachgeschoben hat: „Der Süden liegt im Sterben. Alle wollen fort,
sogar die Mafia“ – weil sie das große Geld im Norden machen muss, plündere sie
ihre Heimat nur mehr routinemäßig aus. In einem offenen Brief gab der
Neapolitaner seinem „Lieben Ministerpräsidenten“ die Schuld an der Misere. Erst
recht kochte die Polemica hoch, als Matteo Renzi unwirsch reagierte: Die
Süditaliener sollten „aufhören zu jammern“ und „besser die Ärmel hochkrempeln“.
Abseits vom politischen Theatersommer
sprechen die Zahlen für sich. Am wenigsten freilich jene, die rasch in aller
Munde war: dass sogar Griechenlands Wirtschaft von 2000 bis 2013 doppelt so
schnell gewachsen ist wie die der acht Regionen in Italiens Süden. Das
hellenische Pseudowachstum auf Pump sollte besser nicht als Maßstab dienen.
Zurecht aber verstört der Kern der Analyse: Die Schere zwischen Nord und Süd
geht noch weiter auf. Nach sieben Jahren Rezession ist die
Investitionsbereitschaft so niedrig, dass dem Mezzogiorno eine Abwärtsspirale
droht. Die produktive Basis bricht weg: Während Italiens Norden das EU-Ziel von
20 Prozent Industrieanteil an der Wertschöpfung übererfüllt, ist die Quote im
Süden von 14 auf elf Prozent zurückgefallen.
Vor allem aber: Es gehen die Bambini
aus. Lang hob der Landesteil den nationalen Schnitt einer stark sinkenden
Geburtenrate. Nun haben sich die Verhältnisse, auf verheerend niedrigem Niveau,
umgedreht: In Nord und Mitte stieg die Zahl der Kinder pro Frau zwischen 2000
und 2013 von 1,18 auf 1,43, im Süden fiel sie von 1,35 auf 1,31.
Wer es dennoch schafft, auf die Welt zu
kommen, denkt schon bald ans Fortziehen. Gerade die gut Ausgebildeten flüchten
nach Mailand, Turin, Bologna – oder ins Ausland. Das Land leert sich: Bis 2065
wird der Anteil der Meridionali an der Gesamtbevölkerung von 34 auf 27 Prozent
sinken.
Segen und Fluch der
Cassa
Gleich nach Renzis ruppiger Reaktion
ruderte seine Regierung zurück. Die zuständige Ministerin versprach 80 Mrd.
Euro als Investitionsprogramm, wohl wie üblich durch noch mehr Schulden
finanziert. Dabei zeigt die Erfahrung: Mit massiven Mitteln aus Rom ist dem
Sorgenkind nicht zu helfen. In der Nachkriegszeit pumpte die Cassa del
Mezzogiorno, eine Art italienischer Marshallplan, eine halbe Billion Euro in
den armen Süden. Straßen und Kraftwerke bereiteten den Boden. Stahlwerke,
Raffinieren und Autofabriken folgten. Zum Teil führte sie der Staat, zum Teil
lockte er mit Subventionen private Konzerne an. Anfangs verringerte sich so das
Wohlstandsgefälle.
Doch die Rechnung ging nicht auf. Man
hoffte auf eine Eigendynamik: Im Umfeld der herbeigezwungenen Leitbetriebe
sollte unternehmerische Initiative erblühen. Aber es blieb bei „Kathedralen in
der Wüste“. Die gleiche bittere Erfahrung machte Brüssel, das 1971 die
Förderung übernommen hatte. Als mit Spanien und Portugal ärmere Länder der EU
beitraten, versiegten diese Mittel. Die meisten „Kathedralen“ sind heute
Industrieruinen – und ein Menetekel für Europa. Zumal Brüssel mit seinen
Investitionsfonds gerade auch arme Gegenden in Europas Süden auf die Beine
helfen will: Griechenland, Sizilien, Andalusien und den Alentejo.
Italiens Mächtigen aber fiel zu ihrem
Mezzogiorno nichts mehr ein, schon um der separatistischen Lega Nord keine
Munition zu liefern. Seit aber bei den Regionalwahlen im Vorjahr auch Kampanien
und Apulien an Renzis Partito Democratico gegangen sind und damit der ganze
untere Stiefel in linker Hand ist, steigt der Druck auf den Premier im eigenen
Lager.
Ein echtes Rezept gegen die Misere hat
freilich keiner. Kampf der Korruption, weniger Bürokratie, eine effizientere
Verwaltung und weniger Steuern für neue Firmen: All das könnte helfen. Aber
wenn die Trägheit alles lähmt? Woher kommt sie? Warum driften zwei Teile einer
Nation mit gleicher Sprache, gleichen Medien und gemeinsamer Öffentlichkeit
ökonomisch so auseinander? Die Ursachen liegen in der Geschichte. In den Stadtstaaten
Norditaliens und der Toskana entwickelte sich seit dem Mittelalter ein
Bürgersinn, der Samen unserer Zivilgesellschaft. In einem solchen Milieu gilt
der Staat als gemeinsames Projekt, an dem jeder teilhaben kann und teilnehmen
soll. Auf dem Land dominierte die Halbpacht, die allen Bauern die Hälfte ihres
Ertrags beließ. Das förderte unternehmerisches Denken und Handeln.
Die Obrigkeit
Im Königreich Sizilien aber wechselten
sich immer nur despotische Fremdherrscher ab, von den Staufern bis zu den
Bourbonen. Die Adeligen hockten antriebslos auf riesigen Latifundien, die sie
extensiv bewirtschaften ließen. Ihre Knechte hatten keinerlei Anreiz zur
selbstständigen Initiative. In einem solchen Umfeld ist der Staat nicht mehr
als eine verhasste Obrigkeit. Man überlebt, indem man ihn überlistet. Die einen
untergraben ihn, als Banditen und Schmuggler. Die anderen nisten sich parasitär
im öffentlichen Raum ein, um Familie und Freunde zu versorgen. So kommen
Klientelwirtschaft und Korruption zur Blüte.
Trotz vieler schöner Gegenbeispiele, vom
ideenreichen Biobauern bis zur Bürgerinitiative gegen die Mafia: Im Grunde ist
diese Kluft in den Köpfen bis heute nicht überwunden. Sie hat das Wahlrecht
überlebt, das „Telegiornale“ und den Siegeszug des Internets. Zuweilen scheint
es, als würden nur Steuern und Budget alle Italiener als Staatsbürger verbinden
– was Konflikte schürt. Nicht nur wegen des Finanzausgleichs. Sondern auch,
weil selbst besser gestellte Süditaliener im Schnitt nur wenig fiskalisch
beitragen – auch die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, ist in Italien eine Frage
des Breitengrads. Irgendetwas muss den Italienern und dem vereinten Europa
einfallen, um diese Kluft zu überwinden. Auch wenn er eine ewige Baustelle ist:
Am Süden führt kein Weg vorbei.
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