In Scampia in der nördlichen Peripherie Neapels herrscht die Camorra |
In manchen Gegenden Italiens stirbt man wegen einer Kleinigkeit. Ein Rüffel, ein falscher Parkplatz, ein Faschingsscherz. Gianluca Bidognetti, genannt Nanà, ist in Casal di Principe, der Hauptstadt der Camorra, nicht irgendein Junge. Nanà ist der Kronprinz, der Sohn von Clanchef Francesco Bidognetti und dessen zweiter Frau Anna Carrino.
Francesco Bidognetti |
Wenn der Kronprinz die Straße überquert, muss jedem klar sein, ob im Auto, auf dem Motorrad oder zu Fuß, wen er vor sich hat. Antonio Petito, 20 Jahre alt, Tischler und ebenfalls aus Casal di Principe, bremste 2002 im letzten Moment, als der damals 13-jährige Nanà vor ihm über die Straße ging. Beinahe hätte er ihn angefahren. Die beiden Jugendlichen streiten und geben sich gegenseitig die Schuld.
Als Nanà nach Hause kommt, erzählt er die Geschichte sofort seiner Mutter. Die Camorristen leiden an Verfolgungswahn, für sie gibt es keinen Zufall. Ereignisse und Worte, die jedem anderen einerlei wären, laden sich in der kriminellen Syntax grundsätzlich mit Bedeutung auf. Nanà ist in aller Öffentlichkeit beleidigt worden.
Im Dorf könnte sich das Gerücht verbreiten, dass man einem Bidognetti ungestraft den Respekt verweigern kann. Anna Carrino, die Mutter des Kronprinzen, interpretiert den Zwischenfall als Affront und ruft die Casalesi-Clanchefs zusammen. Carrino ist eine Frau voller Widersprüche; zurzeit kooperiert sie mit der Justiz und berichtet, was sie in diesen Jahren alles habe sehen müssen. Doch damals, 2002, hat sie selbst die Fäden gezogen. Die Ermittlungen der Antimafia-Bezirksdirektion Neapel zeigen jetzt, dass sie es war, die das Todesurteil über Antonio Petito verhängte.
Anna Carrino
Maurizio Prestieri gehörte im neapolitanischen Stadtteil Secondigliano zu den wichtigsten Paten der Camorra. Heute arbeitet er mit der Justiz zusammen. Den Mechanismus mafiöser Macht erklärt er mit der Logik des VIPL: very important person local . Bedeutet: In deinem eigenen Gebiet musst du sehr bekannt sein, jeder muss vor dir kuschen und dich hoch achten. Außerhalb des Gebiets hingegen dürfen deine Aktivitäten kein Aufsehen erregen, du musst ein Nobody sein. In einer anderen Gegend wäre womöglich nichts passiert, selbst wenn jemand den Kronprinzen angefahren hätte. Aber im eigenen Machtbereich müssen die Leute terrorisiert, psychologisch geknebelt werden. Nicht zufällig geben die Bosse für ihr Dorf keinen einzigen Euro aus. Nicht eine asphaltierte Straße, nicht eine renovierte Schule, nicht ein Spielplatz. Es sei denn, die Familie kann sich so Aufträge sichern.
Gespendet wird nicht, obwohl die Bosse selbst im Dorf wohnen. Zustimmung erreichen sie durch Terror und Hunger. Der Grund? Ganz einfach: Wenn der Lebensstandard steigt, wer wird dann noch bereit sein, für 1.000 Euro im Monat für die Clans zu arbeiten? Feudale Logik. Maurizio Prestieri erzählt von seinen Besuchen im Stadtviertel Monterosa: Die Leute rannten auf die Straße und fuhren ihre Autos weg, um ihm die Parklücke zu überlassen. Sobald er sich zu erkennen gab, machten ihm alle Platz.
Die Geschichte der Bidognetti ist auch eine Geschichte absurder Hinrichtungen. Francesco Bidognetti, der Gründer des Clans, sitzt schon lange im Gefängnis. Ein Boss muss in seinem Territorium blutige Regeln durchsetzen. Er muss deutlich erklären: Was auch passiert – wir haben des Kommando. Bidognetti zögerte im Oktober 1993 keinen Moment. Er ließ den Arzt, der für »schuldig« befunden wurde, den Krebs von Bidognettis erster Frau nicht rechtzeitig erkannt zu haben, ermorden. Der Mediziner wurde in seiner Praxis umgebracht, als er gerade ein Rezept ausstellte. Bei der Schießerei wurde auch eine Patientin verletzt.
Noch früher, 1991, wurde ein junger Afrikaner ermordet, enthauptet und in einen Fluss geworfen. Vermutlich, weil er bei Sportwetten gewonnen hatte und der Camorra ihren Anteil verweigerte. Du lebst in unserem Gebiet, du gewinnst in unserem Gebiet, also gehören dein Leben und dein Gewinn uns! Jeder Mord vermittelt eine Botschaft und schafft neue Regeln für das Alltagsgeschäft der Clans. Jeder Mord macht deutlich, wer der Boss ist und welche Folgen es hat, gegen die Macht zu rebellieren.
Häufig dienen die Frauen des Clans als Vorwand für Konflikte, die in Tragödien enden. Im Frühjahr 2005 besuchte der jüngste Sohn von Francesco Schiavone, dem Chef des Casalesi-Clans, ein Fest in Parete – Herrschaftsgebiet der Bidognetti. Er flirtete mit einem Mädchen, obwohl es in Begleitung war.
jüngster Sohn von Francesco Schiavone, Paolo Schiavone
Der Sprössling der Schiavone trat ohne die bei den Kronprinzen der Bosse übliche Leibwache der Camorra auf. Er glaubte, als Sohn des Bosses immun zu sein. Ein Irrtum. Er wurde mit Schlägen und Fußtritten traktiert. Am nächsten Tag erschienen etwa 15 Personen im Stammlokal der Jungen, die am Abend zuvor zugeschlagen hatten. Mit Baseballschlägern zerlegten die Männer das Lokal und verprügelten Gäste. Auf der Straße schoss das Kommando wild um sich und verletzte einen Passanten mit einem Bauchschuss.
Der Blick markiert das Revier. Wegen eines Blickes wird getötet. So geschah es Francesco Estatico, 19 Jahre. Am Abend fährt er ans Meer, nach Mergellina, wo sich Hunderte Jugendliche vor einem Ferienhaus treffen. Mit seinem neuen Mofa holt er etwas zu trinken. Als er zurückkommt, bemerkt ihn ein Mädchen, sie lächelt ihn an und geht zu ihm. Francesco sieht gut aus, das kann reichen, um Ärger zu bringen. Ein paar Jungen, die damit angeben, dass sie zu einem Clan gehören, umringen ihn und erstechen ihn vor den Augen seines fassungslosen Freundes inmitten einer gleichgültigen Menge.
Francesco Estatico - erstochen
Auch Augusto La Torre, Boss von Mondragone, einer Stadt nahe Neapel, behauptete seine Macht auf brutale Weise. 1990 verurteilte er den Zweiten Bürgermeister Antonio Nugnes zum Tode, weil es bei der Verteilung der Quoten und der Einflussbereiche zu Streit gekommen war. 13 Jahre später zeigten Augusto und seine Getreuen den Carabinieri einen aufgeschütteten Brunnen, in dem die Überreste des Bürgermeisters lagen. Daneben die Leiche von Vincenzo Boccolato. Sein Verbrechen: In einem Brief aus dem Gefängnis an einen Freund hatte er Augusto beleidigt. Der Boss hatte im Wohnzimmer eines Clanangehörigen Unterlagen durchgeblättert und war dabei zufällig auf seinen eigenen Namen gestoßen. Er las Boccolatos Kritik. Wenig später wurde der Verfasser zu besagtem Brunnen gebracht und aufgefordert: »Geh mit Nugnes Karten spielen!«
Je unbedeutender das Motiv für ein Todesurteil, desto nachdrücklicher demonstriert ein Boss seine Macht, die Willkür seiner Entscheidung. Es ist kaum nachzuvollziehen, dass jemand wegen eines Blicks, eines Gerüchts, einer Unterstellung, einer Vollbremsung, eines schlecht oder falsch geparkten Autos eine lebenslange Haftstrafe riskiert. Es ist kaum zu erklären, dass eine Organisation Hunderttausende Euro für den Rechtsbeistand in überflüssigen Prozessen ausgibt. Und doch manifestiert sich die Macht der Clans in ebendiesen willkürlichen Motiven. Man tötet wegen einer Kleinigkeit und spricht damit eine furchtbare Warnung aus: Euer Leben liegt in unseren Händen.
Auch große Fehden gehen auf geringfügige Anlässe zurück. So etwa die besonders brutalen Morde von San Luca, die mit einem Faschingsscherz, dem Werfen von Mehl und Eiern, begannen. San Luca ist winzig, Freund und Feind leben Seite an Seite. Jugendliche des einen Clans stehen 1991 vor einem Freizeitclub, den ein Angehöriger eines anderen Clans leitet. Sie werfen Eier und Mehl, die Angegriffenen reagieren nur mit Worten. Am nächsten Tag wiederholt sich das Ganze, aber diesmal besteht die Antwort aus Ohrfeigen und Fußtritten. Nun ist es an den Erwachsenen der Familie, sich einzuschalten und Rechenschaft zu verlangen. Auf dem Weg zum Club stoßen sie auf einen Angehörigen des Clans des Clubbesitzers. Er eröffnet das Feuer und tötet zwei Männer. Es beginnt eine Fehde, die 2007 im Blutbad von Duisburg kulminiert. Alles wegen Eiern und Mehl.
Ein ähnlicher Konflikt beginnt 1997 im Land der Camorra, als Gennaro Romano, ein Mitglied der Prestieri, ein dem Clan Licciardi nahestehendes Mädchen umwirbt. Er wird verprügelt, kann aber Verstärkung holen, die einem Neffen des Bosses – genannt ’o principino (junger Prinz) – Angst einjagt. Der junge Prinz will die Schmach rächen; mit seinem Leibwächter schießt er vom Motorrad aus auf die Villa des Bosses. Prestieris Männer erkennen den Jungen unter seinem Motorradhelm nicht. Sie erwidern das Feuer und töten den Principino. Nun geschieht etwas im Reich der Camorra zuvor nie Dagewesenes. Offizielle Untersuchungen bestätigen es zwar nicht, sondern verweisen es ins Reich der Legenden – Zeugen beschwören jedoch: An der Tür der Auferstehungskirche in Secondigliano hätten die Licciardi eine »Liste der Auferstehung« angebracht, eine Empfehlung an die Prestieri und die Familien von Secondigliano: Übergebt uns diese Leute, andernfalls müssen die Blutsverwandten dran glauben. Ob Wahrheit oder Legende – um ein Massaker zu vermeiden, wurden viele Menschen ausgeliefert. Es gab Dutzende Tote. Die Fehde zog sich neun Jahre hin.
Und das sind die Verhaltensregeln in den von kriminellen Organisationen beherrschten Gebieten: Niemals dürfen die Namen der Bosse leichtfertig genannt werden, man könnte sie nervös machen. Man muss die Bosse unbedingt grüßen oder ihnen aus dem Weg gehen, denn es hat etwas zu bedeuten, ob man grüßt oder nicht. In einem Restaurant oder einem Geschäft darf man sie niemals die Rechnung begleichen lassen. Geld darf man erst dann annehmen, wenn die Bosse – und nur die Bosse – zweimal ganz deutlich gemacht haben, dass sie wirklich zahlen wollen. Dieser Terror führt dazu, dass man niemals Nein sagt. Im Land der Clans sind die Bürger Untertanen, und der Boss ist ein absoluter Herrscher. Man stirbt wegen einer Bagatelle: Das ist ein Grundpfeiler der mafiösen Herrschaft.
CMM
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