Paten bedrohen ihn, aus der Kirche kommt
Widerstand – Don Ciotti lässt sich nicht beirren: Er gibt den Bürgern zurück,
was die Mafia genommen hat. Eine Begegnung mit Italiens mutigstem Geistlichen.
Luigi Ciotti ist an diesem Morgen aus Turin
gekommen. Nach Rom, in die italienische Hauptstadt, die in der Hitze brütet.
Viele Bewohner sind Mitte August auf dem Land oder am Meer. Urlaubszeit. Ciotti
hat keine Ferien. Der 69-Jährige steigt durch das schmale Treppenhaus in den
sechsten Stock, immer drei Stufen auf einmal. Haartolle in der Stirn, blaues
Polohemd, Jeans. Er hat etwas Jungenhaftes.
Einen Priester stellt man sich anders vor.
Und das gilt auch für ein Haus wie dieses.
Niemand würde ahnen, dass das unscheinbare Gebäude an der Via IV
Novembre mitten in der Altstadt gegenüber der Vertretung der Europäischen Union
"früher ein Haus für Verabredungen war", wie Don Ciotti das einstige
Luxusbordell diskret umschreibt, und dessen "Eigentümer der Camorra-Boss
Michele Zaza". Stolz klingt da mit.
Zazas' Haus ist jetzt seins oder besser: Es ist die
Zentrale von Libera,
einem Netzwerk aus 1600 Bürgerinitiativen, das sich dem Kampf gegen Mafia und
Korruption verschrieben hat. Don Ciotti hat es 1995 gegründet. Dass der jetzige
Hausherr einer der erbittertsten Gegner der Mafia ist, daran lassen die
Bodyguards, die ihn ständig begleiten, keinen Zweifel. Denn "Libera"
hat ein sehr konkretes Ziel: der Mafia sprichwörtlich den Boden unter den Füßen
wegziehen.
Die Paten fürchten Ciotti inzwischen so
wie der Sheriff von Nottingham einst Robin Hood. Ciotti ist Missionar im
eigenen Land, "mit der Bibel in der einen und der Verfassung der Republik
in der anderen Hand", wie er sich selbst beschreibt. Dafür braucht er vor
allem viel Mut und seine Energie, weniger den Talar.
Mafiagüter im Wert von 14 Milliarden Euro
Don Ciotti leistet seit 50 Jahren
kirchliche Basisarbeit. Landesweit bekannt wurde er mit der Gruppo Abele, einer
Gemeinschaft für Drogenabhängige, die er in den 70er-Jahren gegründet hat.
Mit dem "Libera"-Netzwerk will
er den Bürgern zurückgeben, was die Kriminellen ihnen genommen haben: Werte –
in Italien wurden in 20 Jahren 14 Milliarden Euro in Form von Mafiagütern
dingfest gemacht – "aber auch Menschen- und Grundrechte".
"Italien war 1992 nach einer
Terrorwelle der Mafia in eine tiefe Krise gestürzt", sagt Ciotti. Mafiakriege
forderten Hunderte Opfer in wenigen Jahren, auch Richter, Politiker,
Polizisten, Journalisten, Geistliche. Viele Paten konnten gefasst werden, aber
ihre Macht blieb wegen ihres ungeheuren Reichtums ungebrochen.
Blühende Landschaften statt verbrannter Erde
Ciotto brachte es fertig, in wenigen
Monaten genügend Unterschriften für eine Petition zu sammeln, mit der er 1996
eine Gesetzesänderung erwirken konnte: Seitdem müssen enteignete Mafiagüter
sozialen Zwecken und Einrichtungen zu Gute kommen.
Blühende Landschaften statt von der Mafia
verbrannte Erde, das hat "Libera" seitdem bereits realisiert. Viele
haben hohen Symbolwert, liegen in Orten, die weltweites Synonym für die Paten
waren: Corleone, San Giuseppe Jato, Piana degli Albanesi im Herzen Siziliens.
Aber auch in Casal del Principe bei Neapel, bekannt aus Roberto Savianos
Bestseller "Gomorrha", und im reichen Norden, insgesamt an mehr 30
Orten.
Aus einstigen Mafia-Ländereien wurde
"Libera Terra", Freies Land. Kooperativen produzieren Wein, Pasta und
Konserven, die in Supermärkten im ganzen Land angeboten werden. "Wir haben
schon 1000 Arbeitsplätze geschaffen", sagt Ciotti.
Eine Abtrünnige wird aus Rache verbrannt
Szenenwechsel nach Kalabrien: Marilena
Teri, 23, und ihre Schwester Paola, 19, aus Mailand haben gerade im
kalabrischen Cutro auf Ländereien, die früher einem Mafiaclan gehörten, eine
Gemüseplantage angelegt. Sie sind nur zwei von Tausenden Jugendlichen aus ganz
Italien und Europa, die jeden Sommer auf den "Libera"-Ländereien helfen.
Am Nachmittag kommen die Freiwilligen zu
Workshops, wo Themen wie Umweltpolitik und Erziehung zur Legalität theoretisch
beackert werden. Paola Teri sagt über Don Ciotti: "Ihm ist es zu
verdanken, dass der Kampf gegen die Mafia in Italien heute konkret ist."
Die Schwestern engagieren sich auch zu
Hause in Mailand, führen eine Solidaritätsaktion für ihr Altersgenossin Denise
Garofalo. Sie ist die Tochter von Lea Garofalo, Ehefrau eines Bandenchefs aus
Mailand, die auspackte und aus Rache verbrannt wurde. Jetzt ist Leas Leben
bedroht.
Die Macht des Clans Grande Aracri
Papa Giuseppe Teri ist Sizilianer, heute
zu Besuch in Cutro. "Ich engagiere mich seit 1984, als der Journalist
Giuseppe Fava in meiner Heimatstadt Catania erschossen wurde", erklärt er.
Heute koordiniert Gymnasiallehrer Teri Aufklärungsarbeit von "Libera"
in Schulen und für Unternehmer in Norditalien.
Der Arcari-Clan richtet ein Massaker an |
Cutro ist Mafiahochburg, liegt nicht weit
vom türkisblauen Meer an der Südküste Kalabriens: unverputzte Häuser,
Schlaglöcher in den Straßen, typische Einöde aus Zement im Süden. Marilena
staunt, dass auch junge Leute sich hier "mit der Präsenz der Mafia einfach
abgefunden haben. Sie leugnen nicht mal deren Existenz, empfinden das alles als
ganz normal."
Der gefürchtete Clan Grande Aracri ist
hier zu Hause. Er gehört zur kalabrischen 'Ndrangheta, heute eine der weltweit
mächtigsten Mafia-Organisationen. Mit Gastarbeitern aus Cutro gelangte die
Mafia auch in den Norden. Die stärkste Kolonie gibt es um die Kleinstadt Reggio
Emilia.
Mafia in weißen Handschuhen
Erst kürzlich warnte der Vizechef der
Nationalen Antimafia-Fahndung, Roberto Pennisi vor dem römischen Parlament: Der
Clan Grande Aracri habe dort "das Kommando", verseuche unaufhaltsam
die lokale Wirtschaft. Firmen, die wegen der Krise vor der Pleite stehen, rette
sie mit satten Investitionen, und "die Unternehmer gucken weg".
Zurück nach Rom, ins Büro von Don Ciotti.
Er erzählt von der "Libera"-Studie über den Einfluss der Familie
Grande Aracri in dieser Gegend. Er warnt vor der "Mafia in weißen
Handschuhen", die nicht mehr mordet – aber zu "wandelnden
Leiche" mache, wer sich in ihren Maschen verfängt. "Heute ist der
Mafioso ein Unternehmer", sagt Don Ciotti, "er weiß zu
diversifizieren, bewegt sich gewandt in der Finanzwelt. "
Die Mafia kaufe sich auch da ein, wo die
Wirtschaft noch boomt, etwa in der Lebensmittelindustrie. Das zerstöre die
gesunde Wirtschaft und Arbeitsplätze, oft genährt vom "Appetit korrupter
Politiker", und "so haben wir sie bald auch auf unseren
Tellern", warnt er. In Rom seien über 50 Lokale beschlagnahmt, in Italien
rund 5000.
Ehemalige Mafiabetriebe werden Start-ups
Don Ciotti hat Klarsichthüllen vor sich
ausgebreitet, kleine Stapel handgeschriebener Notizen. Zahlen statt Worte. Hier
in Rom verwaltet "Libera" ein gigantisches Archiv. "Heute warten
weitere 55.000 solcher Güter, Immobilien, Ländereien und mehrere Tausend
Unternehmen auf neue Nutzer. "
"Ein Potenzial für die Wirtschaft in
Sizilien", sagt Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo, der Stadt, in
der die meisten Mafiagüter beschlagnahmt wurden. Gerade hat er mit
"Libera" ein Abkommen unterzeichnet: Ehemalige Mafiabetriebe sollen
Start-ups werden.
Orlando empfängt im Rathaus. Die
Atmosphäre ist geladen. Vor dem Eingang stehen Bodyguards neben Orlandos
gepanzertem Auto. Wenige Tage ist es erst her, dass er erneut eine Morddrohung
erhielt.
Papst Franziskus exkommuniziert alle Mafiosi
"Ich bin für viele unbequem",
sagt er. Seit zwei Jahren schuftet Orlando, um die Pleite der Stadt abzuwenden,
für die sein Vorgänger, der Berlusconi-Politiker Diego Cammarata,
verantwortlich sein soll. Trotz Haftstrafe wegen Amtsmissbrauchs ist der heute
Herr über den lokalen Ableger der Behörde für Mafiagüter. Orlando hat bei
Premier Renzi protestiert. "Praktiken werden verschleppt, das Gesetz wird
ausgehöhlt", schimpft er.
Auch Don Ciotti bekommt oft Widerstand zu
spüren. Als Staatspräsident Giorgio Napolitano ein Büfett im Quirinalspalast
nur mit "Libera"-Spezialitäten ausrichten ließ, brannten am Tag
darauf in ganz Italien die Betriebe der Organisation. Und längst nicht alle
Priester stehen hinter ihm. "Es gibt noch Grauzonen, wo Zwiesprache und
heimliche Pakte vorherrschen", sagt Ciotti.
Doch Ciotti hat einen neuen Verbündeten:
Papst Franziskus. Bei einer Messe im Juli in Kalabrien hat der kurzerhand alle
Mafiosi exkommuniziert. Als Franziskus im März zum "Libera"-Tag der
Erinnerung für Mafiaopfer gekommen war, nahm Don Ciotti ihn ohne Scheu an die
Hand, hängte dem Papst zur Messe die Stola des 1994 von der Mafia ermordeten
Priesters Don Beppino Diana um.
"Warum nicht", sagt Don Ciotti
mit der für ihn typischen Schlichtheit. "Wir müssen uns doch die Hand
reichen, nur so können wir helfen!"
http://www.morgenpost.de/vermischtes/article131344881/Vor-diesem-Priester-zittern-die-Mafia-Bosse.html?mobile=no
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