Dienstag, 15. Oktober 2013

Die Mafia gewinnt immer.... Ein bedrückender Bericht über das Wesen der Cosa Nostra

Morde an Politikern, Bombenanschläge auf Polizeistationen - im italienischen Wahlkampf demonstriert die Mafia mit archaischer Brutalität ihre Macht. Abgeordnete und Bürgermeister sind ihr zu Diensten, im Süden kontrolliert die Verbrecherorganisation rund ein Drittel der Wählerstimmen.

Paolo Arena war tot, und der Gemeinderat von Misterbianco gedachte des ermordeten Vorsitzenden der Democrazia Cristiana mit schwülstigen Lobreden.

Ein "Wohltäter der Stadt" sei der Mann gewesen, der vor seinem eigenen Amt gemeuchelt worden war, sagte einer der Ratsherren. Als "Märtyrer im Kampf gegen die Mafia" pries Nino Drago, christdemokratischer Potentat aus der benachbarten Großstadt Catania, den Toten.

Doch dann erhob sich langsam Antonino Di Guardo, Linksdemokrat und Ex-Bürgermeister der sizilianischen Kleinstadt am Fuß des Ätna. "Heuchler", sprach er in die unbehagliche Stille, "ihr wisst genauso gut wie ich, wer Paolo Arena war. Er hat in den vergangenen zehn Jahren die Kultur der Mafia in Misterbianco ausgesät. Er war eng mit dem Boß Pulvirenti aus Catania befreundet. Er hat den Mafiosi Tür und Tor bei uns geöffnet."


Paolo Arena

Niemand widersprach. "Es war fast unheimlich", erinnert sich Di Guardo heute an die Reaktion auf seinen pietätlosen Nachruf. "Am schlimmsten aber war, dass auch hinterher niemand zu mir kam, um zu sagen, recht hast du. So stark ist die Angst bei uns." Seit jener Gemeinderatssitzung im vergangenen Oktober wird Di Guardo täglich von einer bewaffneten Polizeieskorte in sein Büro begleitet.

Als Vorsitzender der Democrazia Cristiana (DC) war Arena der mächtigste Mann in Misterbianco gewesen; er hatte die Ämter verteilt, auf die es ankommt. Der Bürgermeister war sein Vasall, desgleichen der Schuldezernent und der Polizeichef. Das Amt für Wirtschaftsentwicklung hatte sich Arena selbst genehmigt. Dort kontrollierte er die Geldströme aus Rom. In wenigen Jahren hatte Arena den Ort, ein gesichtsloses Konglomerat meist illegal gebauter Wohnhäuser an der Peripherie von Catania, mit Milliardenprojekten aus öffentlichen Mitteln beglückt. Eine Mülldeponie für 13 umliegende Gemeinden wurde eingerichtet, dazu ein Methangaswerk gebaut, das für eine Großstadt gereicht hätte. Dummerweise wurde nur irgendwie das Zuleitungsnetz nicht fertig, so dass die Bewohner nach wie vor frieren müssen und das Gaswerk inzwischen vergammelt.

Die meisten dieser Großaufträge gingen ohne Ausschreibungen an völlig unbekannte Unternehmen, hinter denen, wie Di Guardo schnell herausfand, die bekanntesten Baulöwen Catanias steckten, deren Kumpanei mit der Mafia gerichtsnotorisch ist.

Die neue Mittelschule dagegen, gebaut in der kurzen Amtszeit Di Guardos von Februar bis März , wurde kurz nach ihrer Eröffnung eines Nachts in Brand gesteckt. Der Schuldezernent, ein Günstling Arenas, heuerte daraufhin einen Wachdienst an. Auch eine Reinigungsfirma wurde beauftragt, beides Unternehmen der "Ehrenwerten Gesellschaft". Deshalb kamen auch keine Putzfrauen, sondern kräftige Kerle, die nach und nach elektrische Schreibmaschinen, Computer, Fotokopiermaschinen aus der Schule wegschleppten. Der Dezernent ließ Ersatz anschaffen - zum Dreifachen des üblichen Preises, wiederum bei "Freunden von Freunden", der Mafia.

Weil die Justiz untätig blieb, alarmierte Di Guardo die Tageszeitung La Repubblica. Zwei Monate später, im Dezember 1991, löste ein Dekret aus Rom den Gemeinderat von Misterbianco auf: wegen "Infiltration durch die Mafia".

Dass Italiens Innenminister Vincenzo Scotti seit September vergangenen Jahres über dieses machtvolle Rechtsmittel verfügt, wird von den Regierungsparteien gern als Beweis dafür angeführt, wie ernst es dem Staat nunmehr damit sei, die Wurzeln der Mafia in den Kommunen des Südens auszureißen. Aber in knapp sechs Monaten hat Christdemokrat Scotti nur 26 Gemeinderäte aufgelöst, in kleinen, unbedeutenden Orten. Hunderte, wenn nicht Tausende müssten es sein, meinen Fachleute.
"Zu lange haben wir geglaubt, dass die Mafia ein Übel sei, das von außen bekämpft werden könnte. Jetzt wissen wir: Die Mafia steckt im Staat selbst drin", sagt Gerardo Chiaromonte, Präsident der parlamentarischen Anti-Mafia-Kommission.


Vincenzo Scotti

Der Eifer des Innenministers, der selbst aus Neapel stammt, hat jetzt, kurz vor den Parlamentswahlen am 5. April, merklich nachgelassen. Vor allem müsste Scotti, wie Chiaromonte meint, "höher zielen" - auf die großen Städte wie Catania, Neapel, Tarent oder Reggio di Calabria. Dessen Bürgermeister zum Beispiel hat öffentlich zugegeben, dass mindestens 15 Prozent der Mitglieder seines Stadtrates Mafiosi sind.

In den Schattenzonen, in denen Politiker und Mafiosi zu Komplizen werden, geschehen Untaten, die sich eindeutiger Interpretation entziehen - zum Beispiel der Mord an Salvo Lima vorletzte Woche, eine unerhörte Machtdemonstration der Mafia mitten im Wahlkampf. Lima, 64, Europaabgeordneter und Ex-Bürgermeister von Palermo, galt als wichtigster Verbündeter der Cosa Nostra in Sizilien.
Dutzende Male war sein Name in Untersuchungsdossiers aufgetaucht. Schon 1976 wurde er in einem parlamentarischen Bericht als einer der Männer angeführt, die "verantwortlich für die Verseuchung des politischen Systems durch die Mächte der Mafia" seien.

In seiner Amtszeit als Bürgermeister hatte Lima die Altstadt der sizilianischen Hauptstadt systematisch Bodenspekulanten und Bauunternehmern ausgeliefert. Sein enger Freund Vito Ciancimino, Dezernent für öffentliche Arbeiten, wurde Anfang dieses Jahres zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt; er gehörte, wie das Gericht nachwies, dem berüchtigten Clan der Corleonesi an.
Lima dagegen, dem "Unberührbaren der Unberührbaren", Prokonsul des DC-Ministerpräsidenten Giulio Andreotti auf Sizilien, konnte nie etwas nachgewiesen werden. "Nur sehr wenige wissen, was hinter dem Mord an Lima steckt", sagte ein sizilianischer Sozialist. "Alle anderen können nur raten."
Gleichwohl verweigerten wichtige Politiker, darunter Staatspräsident Cossiga, Innenminister Scotti und der Präsident der Christdemokraten, Ciriaco De Mita, dem Ermordeten die Ehre des letzten Geleits.


Salvo (Savatore) Lima


In der verschlungenen Redeweise, in die er seine Wahrheiten zu verpacken pflegt, hat Cossiga inzwischen klargestellt, dass er den Mord an Lima nicht für einen terroristischen "Anschlag gegen den Staat" halte. Das Verbrechen zeige vielmehr "die Fingerabdrücke der Mafia" und spiele in jenem Milieu, in dem es um die "Verlagerung großer Mengen von Wählerstimmen" gehe.

Damit umschrieb der Präsident euphemistisch den An- und Verkauf von Stimmen, einen Handel, der Politiker und Mafiosi in Süditalien seit Jahrzehnten miteinander verbindet. Die Mafia in all ihren Erscheinungsformen - Camorra in und um Neapel, Cosa Nostra auf Sizilien, 'Ndrangheta in Kalabrien oder die Sacra Corona Apuliens - ist, so schrieb das Wirtschaftsmagazin Il Mondo, im Süden Italiens zur "vierten Partei" geworden.

Nach Berechnungen von Experten, die Il Mondo befragte, kontrolliert die Mafia dort etwa vier Millionen Stimmen, das entspricht 35 Prozent des Wählerpotentials. Lokale Politiker, aber auch Abgeordnete im römischen Parlament sichern sich mit ihrer Hilfe den Fortbestand ihrer Macht; die Gegenleistung besteht meist darin, dem organisierten Verbrechen öffentliche Aufträge zuzuschanzen und die Mafia bei ihren schmutzigen Geschäften mit Drogen und Waffen zu decken.

So ermittelt der Staatsanwalt von Palmi in Kalabrien, der Ende vergangenen Jahres 60 Verdächtige wegen Drogen- und Waffenhandels verhaftete, auch gegen den sozialistischen Parlamentsabgeordneten Sandro Principe. Im Rahmen desselben Ermittlungsverfahrens muss sich der Sozialist Sisinio Zito, Mitglied des Senats in Rom, ebenfalls peinliche Fragen stellen lassen.
Trotz dieser amtlich bescheinigten Zweifel an ihrer Ehrbarkeit sind die beiden für die Wahlen am 5. April wieder aufgestellt worden - ein grober Verstoß gegen die von allen Parteien im vergangenen Frühjahr getroffene Vereinbarung, keine Kandidaten zuzulassen, die im Verdacht der Mafia-Kumpanei stehen.
 
 
Sandro Principe


In manchen Regionen und Gemeinden braucht die Mafia die Politiker gar nicht zu kaufen, sie entsendet ihre eigenen Leute direkt in die politischen Gremien. Bei den Regionalwahlen von 1990 gelangten in der Provinz Reggio di Calabria 8 von 13 gerichtsbekannten Mafiosi ins Provinzparlament; 53 Camorristi wurden Abgeordnete in der Provinz Neapel und sind es heute noch.

Zwar hat ein Volksentscheid im vergangenen Juni das komplizierte System der sogenannten Vorzugsstimmen abgeschafft, das für die Mafia ein ideales Instrument zur Manipulation war. Doch gezinkte Computerprogramme ermöglichen heute die gleiche, wenn nicht noch bessere Kontrolle über die Wählerstimmen. Zugleich wird dreist nach altmodischer Art geschummelt, weil die Mafia ihre Kollaborateure auch unter den Wahlaufsehern hat.

Der Einfluss der Mafia auf die Kommunalpolitik ist schon im vorigen Jahrhundert beklagt worden. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Organisation zu einem gleichsam offiziellen Verbündeten konservativer italienischer Politik.

Den Erhalt ihrer Dauerherrschaft seit 1948 mit wechselnden Bündnispartnern konnte die Democrazia Cristiana immer mit der Notwendigkeit des Abwehrkampfes gegen den Kommunismus begründen - nach außen gegen den Ostblock, nach innen gegen die bedrohlich wachsende Macht der KPI. Da brauchten potentielle Helfer kein polizeiliches Führungszeugnis vorzulegen. Den lokalen Vertretern der Regierungsparteien im Süden wuchs zudem ein ungeahntes, verlockendes Machtpotential zu, als in Rom die Entscheidung fiel, Armut und Unterentwicklung im Mezzogiorno mit viel Geld und gigantischen Programmen zu bekämpfen.

Auf diese Weise entstand, so beschrieb es die Soziologin Gabriella Gribaudi, eine Schicht von "parasitären Mittelsmännern", die davon lebten, das staatliche Geld aus Rom zum Nutzen der Parteipolitik unter die Leute zu bringen. So konnte sich das symbiotische Verhältnis zwischen Kommunalpolitikern und der Mafia bestens entwickeln. Diese trieb mit den ihr eigenen Methoden - Einschüchterung und Gewalt - die Wähler weg von den "falschen" Parteien, also den Kommunisten, hin zu den "richtigen", den Christdemokraten und deren Verbündeten.

Das erprobte Verfahren wird im Süden auch am 5. April wieder funktionieren. Zu wichtig sind die Gelder des Staates inzwischen für das organisierte Verbrechen geworden. Eine Untersuchung des Forschungsinstituts Censis kam kürzlich zu dem alarmierenden Schluss, dass die Mafia inzwischen fast genauso viel an öffentlichen Aufträgen verdient wie am Rauschgifthandel. Drogen bringen gut 20 Prozent aller Einnahmen; kaum weniger holt sich die Mafia aus staatlichen Mitteln, so die Schätzung von Censis.

Das Institut glaubt, dass sich die Mafia jährlich 5 Milliarden Euro vom Staat verschafft. Fachleute aus der parlamentarischen Anti-Mafia-Kommission halten Zahlen zwischen 25 und 30 Milliarden Euro für wesentlich realistischer. So elementare Einrichtungen wie Kanalisation, Müllabfuhr oder Trinkwasserversorgung sind in vielen Städten in der Hand der Mafia. Einen nicht minder großen Teil ihrer Einnahmen treibt die Mafia direkt vom Bürger ein: 80 Prozent aller Geschäfte, Bars und Restaurants im Süden und an die 40 Prozent im Norden zahlen Schutzgelder. Auf umgerechnet 15 Milliarden Euro werden die Einkünfte der Verbrecher aus dieser Branche geschätzt: 3 Milliarden alleine in Deutschland. Europäischer Rekord.

Wer sich weigert zu zahlen, wird bedroht - mit nächtlichen Anrufen etwa, die den Kindern des Widerspenstigen ein Leben im Rollstuhl verheißen, oder einer toten Ratte im Schulranzen des Sohnes als Warnung. Geschäftsleute müssen damit rechnen, dass ihnen der Laden in Brand gesteckt wird. Die Mafia setzt nach Schätzung des Mailänder Fabrikanten Piero Bassetti inzwischen etwa 144 Milliarden Euro im Jahr um, das entspricht zwölf Prozent des italienischen Bruttosozialprodukts.
Die Zahl der Morde hat sich, entgegen dem westeuropäischen Trend, in Italien seit 1996 fast verdoppelt. Mehr als die Hälfte der fast 3.600 Morde in den letzten zwei Jahren (2011) werden Killern der Mafia angelastet.

Der Staat streckt die Waffen. Justizminister Claudio Martelli bekundete im Fernsehen Verständnis für eine Frau, die zur Verteidigung gegen Schutzgelderpresser eine Waffe gekauft hatte: "Besser Wilder Westen als die Herrschaft der Mafia." Regelmäßig, als wollte sie demonstrieren, wer in Italien wirklich das Sagen hat, setzt die Mafia blutige Zeichen ihrer archaischen Brutalität. Aus der Chronik der jüngsten Vergangenheit:

Ein vierjähriger Junge wird abgeknallt, weil er das Gesicht des Mannes gesehen hat, der seinen Vater ermordete. Einem verräterischen Mafioso wird mit einem Schlachtermesser der Kopf abgetrennt. Dann werfen die Killer das blutige Haupt mitten auf dem Rathausplatz in die Luft und halten wie beim Tontaubenschießen mit ihren Gewehren drauf.

Im August 1991 wird Libero Grassi ermordet, ein Unternehmer aus Palermo. Er hatte die Gangster, die ihn erpreßten, angezeigt und leichtsinnigerweise auf Polizeischutz verzichtet. Rosario Livatino, ein junger Ermittlungsrichter, der gegen die Clans der sizilianischen Küstenstadt Trapani ermittelte, stirbt durch Schüsse unter einer Autobahnbrücke. Antonio Scopelliti, Staatsanwalt, wird von Killern der 'Ndrangheta in Kalabrien ermordet.
 
 
Libero Grassi

Anfang Januar dieses Jahres exekutierte die 'Ndrangheta im kalabrischen Lamezia Terme den Kommissar Salvatore Aversa und seine Frau. Aversa hatte den Waffen- und Drogenhandel untersucht, der offensichtlich von einigen Dunkelmännern im Rathaus gedeckt wurde. Einen Tag bevor in Palermo der dubiose Salvo Lima starb, ermordete die Camorra in der Nähe von Neapel den integren Sebastiano Corrado, Gemeinderat der Linksdemokraten, der seit 1987 die Infiltration der Mafia in den Apparat des öffentlichen Gesundheitsdienstes angeprangert hatte. Vor dem Friseurladen, vor dem Corrado verblutete, legten Bürger Blumen nieder. Kommandos der Camorra räumten sie ab.

Dass die Komplizenschaft zwischen staatlichen Autoritäten und der Mafia die Macht des Kraken erhält, ist gut dokumentiert. "Mafia als Methode" heißt ein im vergangenen Jahr erschienenes Buch von Nicola Tranfaglia, das die stille Kollaboration zwischen den Mächten der Öffentlichkeit und denen der Unterwelt darlegt.

In der italienischen Politik, so meint Tranfaglia, sei das Erbe des absolutistischen Staates aus der Zeit der spanischen Herrschaft über Süditalien noch heute lebendig. Gesetze würden willkürlich und eigennützig angewandt, um Freunde zu belohnen und Feinde zu strafen. Dieses System kennt keine Bürger, die Rechte haben, sondern nur Untertanen, die Beziehungen pflegen müssen, um zum Zug zu kommen. Macht ist ein Regelkreis, in dem die Vergabe von Vergünstigungen mit Unterstützung bezahlt wird, die wiederum die Macht erhält.

Nur selten werden diese engen Verbindungen aktenkundig. Standesamtlich belegt ist zum Beispiel, dass Calogero Mannino, heute DC-Minister für die Entwicklung des Mezzogiorno, Trauzeuge des Gerardo Caruano war - dessen Vater ein Boss des berüchtigten Caruano-Clans ist.
 
 
Calogero Mannino

"Politik in unseren Breiten hat zwei Voraussetzungen", sagt der Kommunalpolitiker Nino Di Guardo, "die Macht zu versprechen und die Macht zu bedrohen."

Reihenweise wurden aufrechte Staatsvertreter, die sich dem Willen der Mafia nicht beugen mochten, umgebracht: Piersanti Mattarella zum Beispiel, Präsident der Region Sizilien, ein Christdemokrat, dem Sympathie für den historischen Kompromiß zwischen DC und KPI nachgesagt wurde; Michele Reina, DC-Vorsitzender der Provinz Palermo, der ähnlich dachte wie Mattarella; oder 1982 Carabinieri-General Carlo Alberto Dalla Chiesa, der die allzu einvernehmlichen Beziehungen zwischen Gangstern und Catanias größten Bauunternehmern störte.

Alle diese Delikte blieben ungeahndet. Unter den Politikern Siziliens gab es sicher etliche, denen der Tod dieser Männer nicht unwillkommen war. Die Justiz hat nie mehr als Scheinsiege im Kampf gegen das organisierte Verbrechen erringen können. Einer davon war der spektakuläre Mammutprozess von Palermo: Ein Trupp von jungen, engagierten Juristen hatte 1985 mit Hilfe von Überläufern, den "pentiti", nach jahrelangen Recherchen Anklage gegen 474 Mitglieder der sizilianischen Mafia erhoben.

1987 wurden 19 Bosse zu lebenslanger Haft, andere Angeklagte zu insgesamt 2665 Jahren verurteilt. Aber in den folgenden Jahren hob das Revisionsgericht unter dem erzkonservativen Richter Corrado Carnevale die meisten Urteile wieder auf. Das Team der kämpferischen Ermittlungsrichter wurde aufgelöst, die Verbrecher wurden in die Freiheit entlassen. Diejenigen, die in Haft bleiben mussten, verschönerten sich durch ärztliche Atteste ihren Aufenthalt in öffentlichen Krankenhäusern oder Sanatorien, aus denen sie ihre Geschäfte ungestört weitertreiben konnten.

Ein sensationelles Urteil des Obersten Kassationsgerichts hat freilich im Januar die seltsamen Entscheidungen des Richters Carnevale wieder aufgehoben - jetzt muss der Mammutprozess noch einmal von vorn geführt werden. Die Aussicht auf einen Sieg des Rechts ist gering. Die hoffnungslos unterbesetzte Justiz kann vermutlich nicht einmal die von der Strafprozessordnung festgelegten Fristen einhalten.

In einem Land, dessen größtes inneres Problem das organisierte Verbrechen geworden ist, muss sich die Justiz mit 0,7 Prozent des Etats zufriedengeben. Staatsanwälte tippen zuweilen eigenhändig ihre Anklageschriften auf altertümlichen Schreibmaschinen, weil Schreibkräfte fehlen. Da die Justiz ihre Aufgaben nicht bewältigen kann, muss sie Tausende Mafiosi freilassen, die bereits in erster oder zweiter Instanz verurteilt worden sind.

Während die Mafia ihre Verbrechen vervielfacht und hohe Wachstumsraten erzielt, wird immer weniger gegen sie ermittelt. 1986 wurden 2586 Verfahren eingeleitet, 1989 waren es nur noch 619. "Ihr Herren an der Macht", schrieb kürzlich der Kolumnist Giorgio Bocca, "vielleicht habt ihr es nicht gemerkt, aber die Zahlen sind eindeutig: Die Mafia gewinnt immer."

Die wirtschaftliche Not, die Arbeitslosigkeit im Süden, die über 20 Prozent beträgt, fünfmal soviel wie im Norden - dies alles schafft der Mafia eine Reservearmee, die mit jedem Jungen, der ohne Aussicht auf einen Job die Schule verlässt, weiter wächst. Firmen der Camorra errichteten die skandalös unzulänglichen Baracken, in denen Obdachlose nach dem Erdbeben von 1980 in den Regionen Kampanien und Basilikata jahrelang hausen mussten. Die Camorra, so ermittelte eine parlamentarische Untersuchungskommission, beherrschte auch den Tiefbau, die Zementproduktion, den Straßen- und den Wohnungsbau in den Erdbebenregionen.

Was dabei entstand, war überwiegend unbrauchbarer Schrott zu horrenden Preisen. Zugleich aber schuf die Mafia auf diese Weise Tausende von Arbeitsplätzen. Kein Wunder also, dass 1996 Bauarbeiter in Palermo auf die Straße gingen: "Wir wollen die Mafia, mit ihr haben wir Arbeit, ohne sie nicht", hieß es auf einem der Transparente.

Längst ist freilich das düstere italienische Drama nicht mehr auf die unterentwickelten Regionen des Südens beschränkt. Seit langem hat sich das organisierte Verbrechen auch im wohlhabenden Norden Italiens etabliert. Ein 1965 erlassenes Gesetz ermöglichte die Verbannung von Mafia-Bossen aus ihren südlichen Heimatgefilden - und verteilte sie derart wie Krebszellen über ganz Italien.
In allen großen Städten des Nordens, von Turin über Genua bis nach Mailand, sind heute die Verbrecherfamilien des Mezzogiorno vertreten. Wie im Süden haben sie ihre Territorien abgesteckt, Verbindungen zu den Mächtigen in Industrie und Handel geknüpft.

Zum Symbol für die Verflechtungen von Politik und Mafia im Norden ist der Prozeß über die "Duomo-Connection" geworden, der derzeit in Mailand läuft. Hohe Beamte der Stadt, so der wegen des Skandals bereits zurückgetretene Dezernent für Städtebau, der Sozialist Attilio Schemmari, müssen den Richtern erklären, welche Rolle sie bei der Erteilung von Baugenehmigungen an Mafia-Firmen gespielt haben.
 
 
Attilio Schemmari zusammen mit Silvio Berlusconi
 
 
Antonio Carollo, ein junger Mann aus altem Cosa-Nostra-Geschlecht, hatte sich ein ehrgeiziges Projekt ausgedacht: Wohnhäuser, Läden, Büros und Tennisplätze, eine schöne teure Anlage am Rand von Mailand, die viele heiße Dollar aus dem Drogenhandel verschlingen und somit waschen sollte. Die Carollos gelten als die Mailänder Vertreter des sizilianischen Corleone-Clans, der die Herstellung und die Verteilung von Heroin weltweit kontrolliert.

Auf welche Weise Carollo sich um die Baugenehmigung bemühte, ist Telefongesprächen zu entnehmen, die von der Polizei abgehört wurden. Städtebaudezernent "Schemmari hat 200 Millionen bekommen, ich habe sie ihm persönlich gegeben", versichert Carollo etwa einem Gesprächspartner. In einem anderen Telefongespräch erzählt er: "Jetzt habe ich Kontakt mit Pillitteri (dem Bürgermeister von Mailand), wir telefonieren täglich, um die Sache zu beschleunigen . . . Sie müssten jeden Tag unterschreiben."
 
 
 
Antonio Carollo
 

In der Tat wurde das Projekt 14 Tage nach den abgelauschten Gesprächen in einer nächtlichen Mammutsitzung vom Stadtrat bewilligt. Pillitteri schwört, niemals mit Carollo gesprochen zu haben; er ist inzwischen - aus anderen Gründen - zurückgetreten.

"Die Bereitschaft zur Korruption hat sich überall an der Basis der Kommunalverwaltung ausgebreitet", klagt Piero Bassetti, Präsident der Mailänder Handelskammer. "Damit entstehen die Mechanismen, durch die die Mafia eindringen kann. Wir müssen endlich reagieren, wir brauchen eine Revolte der Bürger, mit diesem Kainsmal können wir uns nicht in Europa sehen lassen."
Inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass die Bürger sich tatsächlich auflehnen, dass ein zäher Widerstandskampf von unten gegen die Mafia beginnt.

Leoluca Orlando, 45, Ex-Bürgermeister von Palermo, hat die Bewegung La Rete (das Netz) gegründet, die inzwischen ganz Italien überzieht. Die Abwehr der Mafia ist einer der wichtigsten Programmpunkte. Bei den Regionalwahlen in Sizilien im vergangenen Juni gewann La Rete aus dem Stand sieben Prozent der Stimmen. Für die Parlamentswahlen am 5. April wird damit gerechnet, dass Orlandos Bewegung zur stärksten politischen Kraft in Palermo wird.
 
 
Leoluca Orlando

Zugleich haben Geschäftsleute angefangen, sich gegen den Terror der Schutzgeldeintreiber zu wehren. In Capo d'Orlando, einer Gemeinde an der Nordküste Siziliens, gründete ein Priester eine Vereinigung, unter deren Schutz sechs Geschäftsleute ihre Erpresser anzeigten.

Was bisher unter dem Gesetz der "omerta", des Schweigens aus Angst, fast undenkbar war: Öffentlich sagten sie vor Gericht gegen die Mafiosi aus. Weil auch die Justiz auf ihrer Seite war - nicht überall in Italien ist das selbstverständlich -, wurden die Gangster zu insgesamt 108 Jahren Gefängnis verurteilt. Dafür steckte die Mafia aus Rache Ende Februar das Polizeikommissariat im Nachbarort Tortorici in Brand.

Seit Dezember führt eine junge Bürgermeisterin, Rosa Stanisci, 31, Linksdemokratin, den Widerstand der Bürger in San Vito dei Normanni, einem kleinen apulischen Ort in der Nähe von Brindisi an. Mehr als 50 Bombenanschläge gegen Geschäfte waren verübt worden, Lastwagen mit Obst für den Markt wurden entführt und nur gegen hohes Lösegeld zurückgegeben. Nächtliche Anrufer drohten Zahlungsunwilligen, ihren Kindern Drogen in die Venen zu spritzen, die Mütter zu Krüppeln zu schießen.

Die Bürgermeisterin reiste nach Rom und forderte einen glaubwürdigen Einsatz des Staates, und sie erreichte tatsächlich, daß die Polizeikräfte des Ortes verstärkt wurden. Auch in San Vito entstand eine Schutzvereinigung der Geschäftsleute, die sich bemüht, Erpresser zu identifizieren - etwa indem sie nach telefonischen Drohungen die Stimmen vergleicht.

Die Verbrecher schlugen zurück: Nach einer großen Anti-Mafia-Versammlung in der Volksschule im Januar ging nachts eine Bombe in dem Gebäude hoch. Noch in der Nacht reparierten die Dorfbewohner die Schule und schickten ihre Kinder am nächsten Morgen wieder zum Unterricht. Bürgermeisterin Rosa Stanisci weiß: "Wir sind erst ganz am Anfang."

Selbst in Misterbianco regt sich Auflehnung, wenn auch noch ein alter Priester am 6. Januar, dem Dreikönigstag, während des Gottesdienstes den von Nino Di Guardo inspirierten Artikel der Repubblica über die Kungelei von Mafiosi und Politikern in seinem Weihrauchkessel verbrannte. Die ehrsame Stadt sei mit Dreck beworfen worden, ereiferte sich der Priester unter beifälligem Murmeln der Gemeinde.

Inzwischen hat es wieder zwei Tote gegeben, Opfer von Fehden innerhalb der Mafia. Vorigen Monat entführte ein Kommando der Cosa Nostra den jungen Arbeiter Giuseppe Torre. Und da strömten zum ersten mal in der Geschichte des geplagten Ortes spontan an die 4000 Bewohner zu einer Protestdemonstration zusammen.

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