Samstag, 7. Dezember 2013

Mein Leben als Tochter des Mafiabosses

Blutende Männer in der Küche, Spaziergänge im Bademantel: Rita Gigante wuchs als Kind des mächtigen Mafia-Chefs "Vinnie das Kinn" in New York auf. Sie fürchtete ihren Vater aus einem privaten Grund.


Rita Gigante - Tochter des Mafia-Boss Vincento Gigante

 

Niemand kann sich die Familie aussuchen, in die er hineingeboren wird. Das gilt bekanntlich für den Enkel des Kriegsverbrechers wie für den Sohn des Holocaustüberlebenden; es gilt für die Tochter, die bei einer Vergewaltigung gezeugt wurde und für den Jungen, dessen Vater einem politischen Attentat zum Opfer fiel. Es gilt auch für Rita Gigante, die ihre Kindheit in New York beinahe immer als wunderbar erlebte.
 
Gewiss, ihr Vater Vincent Gigante musste viel arbeiten und kam abends oft erst spät nach Hause. Aber er liebte seine Kinder abgöttisch und brachte oft Geschenke mit nach Hause: riesige Schokoladenhasen zu Ostern und echte, gackernde Hühner zur Aufmunterung, als die Kinder an Windpocken erkrankt waren.
 
 
Mafia-Boss Vincento Gigante
 
Ihre "Nonna", ihre Großmutter, kochte Spaghetti mit Fleischklößen und andere Köstlichkeiten. Wenn sie fragte, was ihr Vater arbeitete, hieß es: "Er hat ein Hutgeschäft" oder "Ihm gehört ein Süßigkeitenladen".
 
Allerdings gab es da Zusammenkünfte mit Geschäftsfreunden bei ihnen zu Hause, die etwas merkwürdig verliefen. Der Fernseher – er zeigte Trickfilme für die Kinder – lief auf voller Lautstärke; und die Männer am Tisch flüsterten Gigantes Vater Geheimnisse ins Ohr.
 
Gigante war einer von fünf Söhnen des Uhrmachers Salvatore und der Näherin Yolanda Gigante, die von Neapel nach New York eingewandert waren. Der Sohn besuchte eine Hochschule für Textilien, fing an zu boxen und lernte den Mobster Vito Genovese kennen. So kam er in Kontakt mit der Cosa Nostra und stieg ins organisierte Verbrechen ein.
 
"Ich wusste endlich, was los ist"

Seine Tochter Rita Gigante bieten nun in einem Buch einen Einblick in die ungewöhnliche Geschichte ihrer Mafiafamilie (Rita Gigante: "Godfather's Daughter", Hay House Publishing). "Zuerst fühlte ich mich beschützt, ich dachte, dass niemand uns etwas tun kann; ich hatte auch Angst vor dem, was die Regierung uns antun könnte. Aber es gab auch ein Gefühl der Erleichterung, dass ich endlich wusste, was los war", schreibt sie darin.
 
Es war, als hätten die Teile eines Puzzles sich so ineinandergeschoben, dass das Bild endlich Sinn ergab. "Ich bin ihm nie damit gegenübergetreten. Ich habe nichts gesagt. Ich habe es hingenommen wie alles andere und fraß es einfach in mich hinein. Er wusste, dass ich wusste, aber wir haben nie darüber gesprochen."
 
Die erste echte Auseinandersetzung kam, als Rita Gigante 19 Jahre alt war. Ihr Vater besuchte sie in New Jersey, und sie sagte zu ihm: "Ich muss über etwas mit dir reden." Sie wusste schon seit Jahren, dass sie lesbisch war.
 
"Ich schwitze, mein Magen war ein einziger Knoten. Seine Reaktion verriet mir, dass er es nie akzeptieren würde. Es war nicht Wut, er sagte ganz ruhig: Es ist eine Phase, es wird vorbeigehen." Da wusste Rita Gigante, dass sie einen Rückzieher machen musste. Ihr Vater war ein gefährlicher Mann.
 
 
Der "Oddfather"

Die nächste Phase begann dann, als ihr Vater in einem alten, zerschlissenen Bademantel durch Greenwich Village spazierte und murmelnd Selbstgespräche führte. Diese Phase dauerte beinahe 30 Jahre lang: Vincent Gigante täuschte eine Geisteskrankheit vor, um der Strafverfolgung durch die Behörden zu entgehen.
 
Ein journalistischer Witzbold gab ihm damals – in Anlehnung an den Filmtitel "The Godfather", der Pate – den Spitznamen: "The Oddfather". Also: der wirre, der merkwürdige, der seltsame Vater. Aber Rita Gigante, die diesen Witz leben musste, empfand ihn nicht als amüsant. Sie besuchte ihren Vater in verschiedenen Geisteskrankheiten und sah sein Krankspielen als Verhöhnung der anderen, der wirklichen Patienten.
 
Nach vielen, vielen Jahren der Verstellung gab ihr Vater endlich vor Gericht zu, dass er sich verstellt hatte. Er starb 2005 im Gefängnis. Er war 77 Jahre alt.
 
Die Homoehe erst nach dem Tod des Vaters

Seine Tochter hat noch als Erwachsene unter ihm gelitten: Depressionen, Angstzustände, Zwangsstörungen. "Die Zwangsstörungen haben mich in Wahrheit gerettet, sie waren wie mein bester Freund", sagt sie im Rückblick. "Sie machten mir möglich, wenigstens irgendetwas in meinem Leben unter Kontrolle zu bringen."
 
46 Jahre ist Rita Gigante heute alt. Sie lebt mit ihrer Freundin in New Jersey, wo sie zahlenden Kunden ein breites Spektrum von New-Age-Therapien anbietet: Reiki, Heilmassagen, Energietherapien. Im Mai will sie ihre Freundin heiraten.
 
Sie ist tief überzeugt, dass der Geist ihres Vaters, mit dem sie in engem spirituellem Kontakt steht, zur Hochzeit kommen wird. Seit er tot ist, sagt Rita Gigante, gehen nur noch positive Schwingungen von ihm aus. Und er wird nicht in seinem zerschlissenen Bademantel erscheinen, sondern in seinem besten Anzug. Diese Vision kann man lächerlich finden. Oder ergreifend.
 
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