Clans in Secondigliano
Das
Schweigen ist ein mit der Geburt erworbenes neapolitanisches Grundrecht. Die
Stadt hat eine solche Kultur des Schweigens entwickelt, dass vor einigen
Jahren, als ein unschuldiges Mädchen im Kreuzfeuer einer Camorra-Aktion ums
Leben kam, viele der Zeugen, die zunächst die Schützen identifiziert hatten, im
Prozeß ihre Aussagen zurückzogen. Der frustrierte Staatsanwalt verlor die
Beherrschung und begann, die Zeugen zu beschimpfen, als stünde er im
Gerichtssaal Auge in Auge mit der Camorra. Das tat er nicht. Er stand
gewöhnlichen neapolitanischen Bürgern gegenüber. Die Camorra kann man nicht
beschimpfen. Tut man es, begegnet man leeren Blicken.
Die
Camorra ist keine Organisation wie die Mafia, die man von der Gesellschaft
trennen, im Gerichtssaal disziplinieren oder auch nur klar definieren könnte.
Sie ist eine amorphe Gruppierung in Neapel und Umgebung, die mehr als hundert
autonome Clans und vielleicht zehntausend direkte Geschäftspartner umfaßt, dazu
ein sehr viel größeres Netzwerk von Nutznießern, Klienten und Freunden. Sie ist
eine Übereinkunft, eine Form der Gerechtigkeit, eine Methode, Wohlstand zu
erlangen und zu verteilen. Sie ist seit Jahrhunderten Teil des neapolitanischen
Lebens – es gibt sie schon viel länger als das fragile Konstrukt namens
Italien.
Auf
dem Höhepunkt ihrer Stärke ist sie in den letzten Jahren zu einer vollständigen
Parallelwelt geworden und stellt für viele Menschen eine reale Alternative zur
italienischen Regierung dar (was immer man wiederum unter dieser verstehen
mag). Die Neapolitaner nennen sie resigniert oder stolz das „System“. Die
Camorra gibt ihnen Arbeit, leiht ihnen Geld, schützt sie vor der Regierung und
hält sogar die Kriminalität auf den Straßen kurz. Das Problem ist jedoch, dass
die Camorra außerdem in regelmäßigen Abständen versucht, sich selbst zu
zerreißen, und dann müssen die gewöhnlichen Neapolitaner die Köpfe einziehen.
Secondigliano
hat hierin Übung. Es hat zur Zeit eine der höchsten Mordraten in Westeuropa.
Wahrscheinlich führt es auch bei den Schießereien die Statistik an. Ich habe
eine Freundin von dort, eine Architektin. Ihr Vater war früher, vor der Rente,
Busfahrer bei der Stadt. Er hat jetzt einen Kleinbus, mit dem er seine andere
Tochter herumfährt, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist.
Vor
nicht allzu langer Zeit stahlen ihm zwei Männer den Wagen und riefen dann in
der Wohnung der Familie an – sie verlangten 2 000 Euro in bar für die
Rückgabe. Die Diebe waren kleine Arschlöcher und gehörten zur allerniedrigsten
Kategorie in der Klientel eines Camorra-Klans. Meine Freundin war wütend, aber
ihr Vater zahlte, soviel er von der geforderten Summe zahlen konnte. Er tat das
auf der Straße, das Geld wurde in einem Umschlag überreicht, und die Tochter
umkreiste die Szene und versuchte, Photos mit ihrem Handy zu machen. Keines
wurde etwas. Meine Freundin warf ihrem Vater vor, sich zum Komplizen des
Systems zu machen. Er erwiderte, er könne es sich einfach nicht leisten, einen
neuen Wagen zu kaufen.
Ja,
es hatte eine Zeit gegeben, da hätte es kein kleiner Wichser aus Secondigliano
gewagt, einem Einheimischen mit einer gelähmten Tochter den Wagen zu
klauen – die Camorra selbst hätte interveniert. Aber er empfand deswegen
kein Selbstmitleid. Er ist Realist. 2004 begannen die Kämpfe zwischen den Clans
im Bezirk, und sie haben sich sporadisch bis heute fortgesetzt; die Clans sind
mittlerweile so geschwächt, dass sie ihre eigenen Leute nicht mehr unter
Kontrolle haben. Die am Niedrigsten gestellten sind reine Idioten, die nichts
können als Herumschießen.
Die Lektionen des Lebens
Die
Camorra mordet vor allem dann, wenn sie schwach ist. Das Töten in Scampia und
Secondigliano dauert nun schon derart lange, dass manche Staatsanwälte fast
ihre einstigen Triumphe bereuen. Die Erinnerung malt eine goldene Zeit, als die
Camorra noch stark war. Damals war der Chef ein einsiedlerischer Mann namens
Paolo di Lauro, den man nur selten zu Gesicht bekam; er sitzt jetzt im
Gefängnis, das er nie mehr verlassen wird, und gilt als einer der größten
Camorristi aller Zeiten. Von seinen frühen Jahren weiß man wenig – nur,
dass er 1953 in Secondigliano geboren wurde, früh verwaiste und von einer
bescheiden existierenden Familie mit einem Haus in der Mitte des Bezirks
adoptiert wurde. Die Mutter war Hausfrau, der Vater Arbeiter. Sie waren
zutiefst Neapolitaner und sprachen einen Dialekt, der anderswo in Italien
nahezu unverständlich ist.
Di
Lauro ging nur ein paar Jahre zur Schule und suchte sich dann Arbeit, zuerst
als Gehilfe eines Ladenbesitzers am Ort. Mit 17, 18 zog er in die
Industriegebiete des fernen Norditalien, wo er als Vertreter arbeitete und
Unterwäsche und Bettzeug an Fabrikarbeiter verkaufte, die aus dem Süden
hergezogen waren. Lokal nennt man solche Händler „magliari“ – ein Wort,
das auch „Schwindler“ bedeuten kann. Es gibt keinen Beweis, dass Di Lauro
damals irgendjemanden beschwindelt hätte, doch seine spätere Laufbahn deutet
darauf hin, dass er im Falle einer Gelegenheit nicht gezögert hätte. Er war
still und ungewöhnlich ehrgeizig. Im Norden machte er ein wenig Geld und fand
Geschmack an den Karten und am Glücksspiel. Es stellte sich heraus, dass er
einen Hang zur Mathematik hatte.
Camorrista Di Lauro |
Nach
Secondigliano zurückgekehrt, heiratete er eine junge Frau aus der Gegend, die
ihm 1973 das erste von elf Kindern gebar, allesamt Söhne. Seine Frau war sehr
katholisch, er war es auch. Sie liebten einander.
Ein
Kämpfer war er nicht. Es war seine Kaltblütigkeit beim Spiel, die den Clan, der
damals Secondigliano regierte, auf ihn aufmerksam werden ließ. An dessen Spitze
stand ein extravaganter Camorrista namens Aniello La Monica, der ein
Bekleidungsgeschäft führte, das den Namen „Python“ trug – nach seiner
Lieblingswaffe, einem schweren .357 Magnum Revolver. La Monica war ein
aggressiver Killer, verantwortlich für viele Tode – darunter einen Mord
durch eigenhändige Enthauptung. Doch war er seltsam schüchtern, was den
Drogenhandel anging, und zog es vor, sich auf die traditionellen Sparten zu
konzentrieren: Schwarzmarkthandel mit Zigaretten, Abgreifen von Mitteln bei den
öffentlichen Bauvorhaben, Schutzgelderhebung bei den Ladeninhabern in der
Nachbarschaft, die es vorgeblich vor kriminellen Übergriffen zu bewahren galt.
Der Serienkiller Cesare Pagano |
Um
1975 engagierte er Di Lauro für die Buchführung des Clans. Diese Position gab
Di Lauro einen privilegierten Einblick in die gesamten Geschäfte und führte bei
ihm nach einigen Jahren – trotz des fortdauernden Zögerns La Monicas –
zu der Überzeugung, dass man in dem noch kaum erschlossenen Handel mit Heroin
und Kokain ungleich größere Profite machen könnte. Dies wurde 1980 noch
deutlicher, nach dem großen Erdbeben in der Region, das Tausende von Menschen
aus den eingestürzten Slumvierteln in den Zentren vertrieb und die Wohnblocks
von Scampia mit den Armen und Entrechteten füllte.
In
den folgenden Jahren bereicherte man sich in Neapel auf allen Ebenen an den
Milliarden von Geld zum Wiederaufbau. Di Lauro blieb im Schatten und sprach
wenig. Er lauschte und beobachtete. Er glaubte, dass vernünftige Menschen ihre
beruflichen Auseinandersetzungen durch Kompromisse und Verhandlungen regeln
könnten und nur im äußersten Falle töten sollten. Er war jedoch eher
diszipliniert als nachsichtig. La Monica, der als guter Menschenkenner galt,
begann Di Lauro als den Skrupellosesten von allen zu fürchten. Di Lauro
wiederum kam zu dem Schluss, dass La Monica zu einer Behinderung für das
Geschäft geworden war, und versuchte 1982, ihn von der Macht zu vertreiben,
indem er in seiner Eigenschaft als Buchhalter hochrangigen Clanmitgliedern
gegenüber behauptete, La Monica habe sich über seinen Anteil hinaus an den
Profiten bereichert. Als La Monica von diesem Verrat erfuhr, beauftragte er
zwei Killer aus einer Nachbarstadt, die Di Lauro erledigen sollten. Sie kamen
mit dem Motorroller an, fanden Di Lauro auf einem Straßenmarkt, schossen,
verfehlten ihn und jagten ihn umher, bis er entkam.
Der Killer Edoardo La Monica |
Nun gab es keinen Kompromiss mehr, und die Clanmitglieder sahen sich gezwungen,
zwischen den beiden Männern zu wählen. Die Unsicherheit, wie man sich
entscheiden sollte, dauerte nicht lange. Di Lauro bezahlte einen Bekannten
dafür, La Monica mit einem Angebot gestohlener Diamanten aus dem Haus
herauszulocken. La Monica witterte den Hinterhalt, wollte aber nicht als
Feigling dastehen, der sich nicht mehr aus der Tür traut, und marschierte in
die Falle.
Di
Lauro ließ niemanden entführen oder berauben. Er verkaufte den Leuten einfach
das, was sie von ihm haben wollten. Doch scheint er dabei selber unzufrieden
geblieben zu sein. Er zog sich immer mehr zurück und hielt sich um die Mitte
der neunziger Jahre fast nur noch in seinem Haus auf, wo er hinter verschlossenen
Stahlfensterläden und versperrten Toren lebte und mit niemandem mehr Kontakt
hatte außer mit seiner Familie und einigen wenigen Adjutanten, die sein
Vertrauen besaßen. Er war blass, weil er nie an die Sonne kam. Seine Frau blieb
mit ihm drinnen und gebar alle paar Jahre ein weiteres Kind. Die Kinder wuchsen
heran und gingen zur Schule.
Die
Familie hatte einen riesigen neapolitanischen Bullenbeißer namens „Primo
Carnera“ (nach dem italienischen Schwergewichtsboxer). Der Hund schlief in
einem eigenen Raum. Das Haus war dasselbe, in dem Di Lauro als Kind gewohnt
hatte, wenn auch erweitert, befestigt und bewacht. Es hatte eine Kellerbar, gut
mit französischen Weinen und Spirituosen ausgestattet, einen Schlafraum für die
Jungs und ein großes, spärlich eingerichtetes Wohnzimmer, wo Di Lauro seine
Entscheidungen traf. Hier hingen religiöse Bilder an den Wänden. Zur Kirche zu
gehen wagte er nur noch selten. Er traute sich kaum mehr, zu telefonieren. Das
Haus hatte einen Hinterausgang zur Flucht. Er behielt die Leute scharf im Auge,
wenn er mit ihnen sprach, und drückte sich so knapp aus, dass seine Worte für
Außenstehende schwer zu verstehen gewesen wären. Tatsächlich belauschte ihn
niemand. Aber es war klar, dass Di Lauro fürchtete, unbesonnenes Reden könne
ihn vernichten. Er war nicht länger einfach von Natur aus schweigsam. Die
Vorsicht war es, die ihn verstummen ließ.
Und
wenn Gerede ihn vernichten konnte, wie stand es dann mit einer Sprache, die der
Staat wirklich verstand – wie stand es mit Mord? Die Polizei hatte den
Sinn von La Monicas Tod nicht begriffen, aber die Frage muss Di Lauro später
oft durch den Kopf gegangen sein. Er blieb zunächst unsichtbar und in
Sicherheit, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er die Neigung der Camorra zu
anarchischer Gewalt unterdrücken konnte.
Staat
und Antistaat
Man
mag die Hände ringen, wie entsetzlich das alles ist, aber dies ist Neapel, eine
der großen Alternativen zum modernen Leben. Möglicherweise sollte die Welt
ebenso wenig versuchen, die Camorra auszurotten, wie sie die Neapolitaner dazu
zwingen sollte, pünktlich zu sein. Und dann gibt es den rein praktischen
Aspekt. Ein Antimafiarichter erzählte mir, manche Polizisten – selbst
unter denen, die nicht korrupt sind – würden es vorziehen, wenn die Regierung
sich hier nicht durchsetzte, denn sie fürchteten eine noch größere Unordnung.
Ein anderer Richter wies darauf hin, dass die Regierung die Camorra zur
sozialen Kontrolle brauche.
Er
sagte: „Für einen politischen Führer ist es leichter, mit einem
Camorra-Chef zu reden als zu hunderttausend Leuten, wenn er eine Botschaft
verkünden will.“ Mehr noch, sagte er: Die Camorra setze Maßstäbe,
erzwinge Regeln, dränge die Macht der Polizei zurück, halte aggressive
Steuerbeamte ab, gebe einem großen Prozentsatz der Bevölkerung Arbeit, schaffe
und verteile Wohlstand auf effektivere Weise als irgendein anderer
gesellschaftlicher Sektor und garantiere, dass die Dinge weitergingen, vor
allem in Zeiten wie heute, wenn die Volkswirtschaft versagt habe und der
Bestand der Währung selbst auf dem Spiel stehe.
Nicht
gerade ein Modell, wie man es in Gemeinschaftskunde erarbeiten würde. Trotzdem
nützt die Camorra der Gesellschaft dann am meisten, wenn sie stark ist. Die
Richter, mit denen ich gesprochen habe, erkannten alle diese Wahrheit an, und
doch waren eben dies die Leute, die Di Lauro gestürzt hatten. Ich fragte sie,
ob sie an die Überlegenheit des italienischen Staates glaubten – mit einer
Ausnahme verneinten sie es.
Dieser
eine sagte etwa: „Wir haben keine Wahl. Die Camorra hat einen Antistaat errichtet,
dessen bloße Existenz die Legitimität des italienischen Staates bedroht. Wenn
die Gerichte nicht handeln würden, wären sie nicht mehr wirklich da. Wenn die
Gerichte nicht mehr wirklich existieren, kann Italien nicht bestehen. Unsere
Aufgabe ist nicht, die Camorra zu besiegen, sondern, so zu tun, als würden wir
es versuchen.“
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