Die Flucht des mächtigsten Drogenbosses
der Welt ging am Samstagmorgen in einem unauffälligen elfstöckigen Wohnblock in
der Stadt Mazatlán an der Pazifikküste zu Ende.
Ohne einen Schuss abzufeuern,
verhaftete die Polizei Joaquín Guzmán Loera alias «Chapo Guzmán», den von
Legenden umgebenen Chef des Sinaloa-Kartells. Dreizehn Jahre zuvor war ihm die
Flucht aus einem Hochsicherheitsgefängnis geglückt, angeblich versteckt in
einem Wäschewagen.
Seither umgab Chapo Guzmán (der kleine Guzmán)
der Mythos der Unfassbarkeit und Allgegenwart. Unzählige Male war es ihm
gelungen, den Ermittlern im letzten Moment zu entkommen. Kaum ein Tag verging,
ohne dass jemand behauptete, den Großverbrecher irgendwo gesehen zu haben, in
den zerklüfteten Gebirgszügen seines Heimatstaates Sinaloa, in einem
verlassenen Dorf in Guatemala, in Argentinien.
Resigniert und gedemütigt
Als er wenige Stunden nach seiner Verhaftung
den Medien präsentiert wurde, kollidierte der Mythos mit der Realität: der
Drogenboss, wie er in Handschellen zu einem Helikopter geführt wird, den Blick
gesenkt, weil ihm ein Soldat den Nacken umklammert und den Kopf nach unten
drückt. Jeans und helles Streifenhemd, Schnurrbart und Bauchansatz verleihen
ihm das Aussehen eines Herrn Jedermann. Während andere Großverbrecher, etwa
Guzmáns einstiger Untergebener und späterer Todfeind Edgar Valdez Villarreal
alias La Barbie, nach ihrer Verhaftung aufrecht und arrogant in die Kameras
lächeln durften, ist der Chef des Sinaloa-Kartells zu einem Auftritt als
Besiegter verurteilt. Er wirkt resigniert, verschreckt, gedemütigt.
Joaquín Guzmán Loera alias «Chapo Guzmán» |
Der Versuch der Staatsgewalt, ihn binnen
Sekunden zu entzaubern, ist offensichtlich.
Laut dem mexikanischen Generalstaatsanwalt
Jesús Murillo Karam haben die Ermittler am 12. Februar erfahren, daß sich Chapo
Guzmán in einem Haus in Culiacán aufhielt, der Hauptstadt des Bundesstaates
Sinaloa. Ihn zu verhaften, schätzten sie in jenem Moment noch als zu riskant
ein. Stattdessen nahmen sie mehrere seiner engsten Vertrauten fest, was den
Drogenboss zur Flucht ins 220 Kilometer entfernt gelegene Mazatlán trieb. Der
Zugriff der Ordnungskräfte, bei dem 13 weitere Personen verhaftet und
zahlreiche Maschinengewehre, Pistolen, Granaten und Fahrzeuge beschlagnahmt
wurden, erfolgte mithilfe amerikanischer Geheimdienste. Zuvor festgenommene
Mitglieder des Sinaloa-Kartells hatten berichtet, Guzmán flüchte schon seit
Monaten wie ein gehetztes Tier von einem Versteck ins andere.
beschlagnahmte Waffen des Kartells |
Globalisierte Holding des Verbrechens
Das Kartell von Sinaloa ist die mächtigste
Verbrecherorganisation auf dem amerikanischen Kontinent, und nach dem Tode
Osama Bin Ladens war ihr 56-jähriger Anführer der meistgesuchte Mann der Welt.
Laut Samuel González, ehemaliger Chef einer mexikanischen Sondereinheit, ist
Guzmáns Verhaftung einzig mit dem Sieg über den Kolumbianer Pablo Escobar
vergleichbar. Aber während sich der Chef des Medellín-Kartells auf den
Schmuggel von Kokain in die USA beschränkte, handelte Guzmán auch mit
Marihuana, Heroin und synthetischen Drogen. Er exportierte nicht bloß in die
USA, sondern auch nach Asien, Europa und nach Australien. Seine Organisation
ist eine globalisierte Holding des Verbrechens.
Um seine Gelder reinzuwaschen, betreibt das
Sinaloa-Kartell laut dem Kriminalitätsexperten und UNO-Berater Edgardo
Buscaglia weltweit mindestens 3500 scheinlegale Unternehmen. Es kontrolliert 25
Prozent des amerikanischen Drogenmarktes, produziert und transportiert 45
Prozent der aus Mexiko stammenden Drogen und erzielt Schätzungen zufolge
jährlich 18 Milliarden Dollar Umsatz – fast gleich viel wie alle anderen
mexikanischen Kartelle zusammen.
Foltervideos fürs Internet
Chapo Guzmán hat zwei Stellvertreter, Ismael
«El Mayo» Zambada und Juan José Esparragoza Moreno alias «El Azul» (der Blaue).
Letzterer ist derart unauffällig und vorsichtig, daß man trotz seiner
vierzigjährigen Tätigkeit als Drogendealer kaum etwas über ihn weiß und es
keine halbwegs aktuelle Aufnahme von ihm gibt. Welche Auswirkungen Guzmáns
Festnehme auf das Sinaloa-Kartell und den Gang des mexikanischen Drogenkriegs
hat, hängt davon ab, ob sich einer der beiden als neuer Capo zu installieren
vermag. Falls nicht, drohen Nachfolgekämpfe, vielleicht sogar ein Zerfall der
Verbrecherorganisation in rivalisierende Untergruppen.
Die schrecklichen Folgen einer solchen
Entwicklung zeigten sich, als die mexikanische Marine im Dezember 2009 Arturo
Beltrán-Leyva erschoss, den Anführer des Kartells der Gebrüder Beltrán-Leyva:
Seine ehemaligen Untergebenen bekämpften sich gegenseitig mit aller Brutalität,
mordeten und metzelten, ließen enthauptete Leichen von Autobahnbrücken hängen
und stellten Foltervideos ins Internet. Experten gehen davon aus, dass Guzmáns
Verhaftung die Rivalen des Sinaloa-Kartells stärken dürfte, allen voran die
Tempelritter und die für ihre Grausamkeit berüchtigten Zetas.
Chapo hinter Gittern – ein Unglück für
Mexikos Bevölkerung?
Chapo Guzmán gilt als Drogenboss der alten
Schule. Er sah seine Hauptaufgabe im Schmuggel und in der Eroberung und
Verteidigung der dafür notwendigen Territorien. Die Expansion des Sinaloa-Kartells
ging mit blutigen Schlachten einher, etwa um die Vorherrschaft über Ciudad
Juárez. Guzmáns erfolgreicher Angriff auf das alteingesessene Juárez-Kartell
machte die Grenzstadt zwischen 2009 und 2011 zum tödlichsten Ort des Planeten.
Sinnlose Brutalität gegen die Zivilbevölkerung, die Entführung von
Unbeteiligten, die Erpressung kleiner Geschäftsleute, Prostitution und
Menschenhandel gehörten hingegen nicht zu den Tätigkeiten des Sinaloa-Kartells.
Sein Zerfall droht die Entstehung von Gruppierungen zu fördern, die mangels
organisatorischer und logistischer Kapazität zum Drogenschmuggel in die USA
unfähig sind und deshalb genau solche Verbrechen zu ihrem Hauptgeschäft machen.
Zumindest kurzfristig könnte sich Guzmáns
Verhaftung für die mexikanische Bevölkerung als Unglück erweisen. Und selbst
wenn sie es dem Staat erlauben sollte, das organisierte Verbrechen in den vom
Sinaloa-Kartell beherrschten Territorien in die Defensive zu drängen, sind sich
Experten einig: Die Ausschaltung eines großen Capos ist ein eher symbolisches
Ereignis, solange die finanziellen Strukturen seiner Organisation unangetastet
bleiben, solange Scheinfirmen weiter Geld waschen und mit Politik und
Wirtschaft vernetzte Hintermänner in aller Unbescholtenheit weiter agieren. Von
durchschlagenden Erfolgen in diesem Bereich ist Mexiko weit entfernt.
Mexikos Präsident hat bei der
Verbrechensbekämpfung versagt
Für den mexikanischen Präsidenten Enrique Peña
Nieto ist die Festnahme dennoch ein großer, dringend benötigter
propagandistischer Erfolg. Denn während ausländische Medien den 47-jährigen
Regierungschef als großen Reformer feiern und ihn das Magazin «Time» in seiner
letzten Nummer zum «Retter Mexikos» hochstilisierte, ist seine Beliebtheit im
eigenen Land laut einer im Dezember publizierten Umfrage auf 44 Prozent
gesunken.
48 Prozent der Befragten sind mit seiner
Arbeit unzufrieden, wozu sie allen Grund haben: Die Wirtschaft ist im
vergangenen Jahr um ein kümmerliches Prozent gewachsen, die Steuerreform
untergräbt die Kaufkraft der Mittelschicht. Was die anderen im Ausland
bejubelten Neuerungen in den Bereichen Bildung, Telekommunikation und Energie
betrifft, weiß die mexikanische Bevölkerung aus leidvoller Erfahrung, wie
leicht hochtrabende Reformen bei der konkreten juristischen Umsetzung
verwässert werden. Deshalb ist sie nicht begeistert, sondern wartet mit der
gebotenen Skepsis ab.
150 Millionen in bar - Drogengelder in Tijuana |
Vor allem aber hat Peña Nietos Regierung bei
der Kriminalitätsbekämpfung versagt. Es ist ihr zwar gelungen, die Mordrate um
rund 15 Prozent zu senken, doch haben Entführungen laut offizieller Statistik
allein 2013 um 20 Prozent zugenommen. Die Dunkelziffer, die laut Experten bei
über 90 Prozent liegt, ist dabei nicht erfasst. Paradoxerweise besteht die
Gefahr, daß nun auch Guzmáns von Polizei und Rivalen bedrängte Nachfolger die
Entführungsindustrie als profitable Alternative zum Drogenhandel wählen.
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