Montag, 24. Februar 2014

Der Mafia-Mythos Guzmán ist tot

Die Flucht des mächtigsten Drogenbosses der Welt ging am Samstagmorgen in einem unauffälligen elfstöckigen Wohnblock in der Stadt Mazatlán an der Pazifikküste zu Ende. 




Ohne einen Schuss abzufeuern, verhaftete die Polizei Joaquín Guzmán Loera alias «Chapo Guzmán», den von Legenden umgebenen Chef des Sinaloa-Kartells. Dreizehn Jahre zuvor war ihm die Flucht aus einem Hochsicherheitsgefängnis geglückt, angeblich versteckt in einem Wäschewagen.




Seither umgab Chapo Guzmán (der kleine Guzmán) der Mythos der Unfassbarkeit und Allgegenwart. Unzählige Male war es ihm gelungen, den Ermittlern im letzten Moment zu entkommen. Kaum ein Tag verging, ohne dass jemand behauptete, den Großverbrecher irgendwo gesehen zu haben, in den zerklüfteten Gebirgszügen seines Heimatstaates Sinaloa, in einem verlassenen Dorf in Guatemala, in Argentinien.


Resigniert und gedemütigt

Als er wenige Stunden nach seiner Verhaftung den Medien präsentiert wurde, kollidierte der Mythos mit der Realität: der Drogenboss, wie er in Handschellen zu einem Helikopter geführt wird, den Blick gesenkt, weil ihm ein Soldat den Nacken umklammert und den Kopf nach unten drückt. Jeans und helles Streifenhemd, Schnurrbart und Bauchansatz verleihen ihm das Aussehen eines Herrn Jedermann. Während andere Großverbrecher, etwa Guzmáns einstiger Untergebener und späterer Todfeind Edgar Valdez Villarreal alias La Barbie, nach ihrer Verhaftung aufrecht und arrogant in die Kameras lächeln durften, ist der Chef des Sinaloa-Kartells zu einem Auftritt als Besiegter verurteilt. Er wirkt resigniert, verschreckt, gedemütigt.


Joaquín Guzmán Loera alias «Chapo Guzmán»


Der Versuch der Staatsgewalt, ihn binnen Sekunden zu entzaubern, ist offensichtlich.
Laut dem mexikanischen Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam haben die Ermittler am 12. Februar erfahren, daß sich Chapo Guzmán in einem Haus in Culiacán aufhielt, der Hauptstadt des Bundesstaates Sinaloa. Ihn zu verhaften, schätzten sie in jenem Moment noch als zu riskant ein. Stattdessen nahmen sie mehrere seiner engsten Vertrauten fest, was den Drogenboss zur Flucht ins 220 Kilometer entfernt gelegene Mazatlán trieb. Der Zugriff der Ordnungskräfte, bei dem 13 weitere Personen verhaftet und zahlreiche Maschinengewehre, Pistolen, Granaten und Fahrzeuge beschlagnahmt wurden, erfolgte mithilfe amerikanischer Geheimdienste. Zuvor festgenommene Mitglieder des Sinaloa-Kartells hatten berichtet, Guzmán flüchte schon seit Monaten wie ein gehetztes Tier von einem Versteck ins andere.

beschlagnahmte Waffen des Kartells


Globalisierte Holding des Verbrechens

Das Kartell von Sinaloa ist die mächtigste Verbrecherorganisation auf dem amerikanischen Kontinent, und nach dem Tode Osama Bin Ladens war ihr 56-jähriger Anführer der meistgesuchte Mann der Welt. Laut Samuel González, ehemaliger Chef einer mexikanischen Sondereinheit, ist Guzmáns Verhaftung einzig mit dem Sieg über den Kolumbianer Pablo Escobar vergleichbar. Aber während sich der Chef des Medellín-Kartells auf den Schmuggel von Kokain in die USA beschränkte, handelte Guzmán auch mit Marihuana, Heroin und synthetischen Drogen. Er exportierte nicht bloß in die USA, sondern auch nach Asien, Europa und nach Australien. Seine Organisation ist eine globalisierte Holding des Verbrechens.




Um seine Gelder reinzuwaschen, betreibt das Sinaloa-Kartell laut dem Kriminalitätsexperten und UNO-Berater Edgardo Buscaglia weltweit mindestens 3500 scheinlegale Unternehmen. Es kontrolliert 25 Prozent des amerikanischen Drogenmarktes, produziert und transportiert 45 Prozent der aus Mexiko stammenden Drogen und erzielt Schätzungen zufolge jährlich 18 Milliarden Dollar Umsatz – fast gleich viel wie alle anderen mexikanischen Kartelle zusammen.


Foltervideos fürs Internet

Chapo Guzmán hat zwei Stellvertreter, Ismael «El Mayo» Zambada und Juan José Esparragoza Moreno alias «El Azul» (der Blaue). Letzterer ist derart unauffällig und vorsichtig, daß man trotz seiner vierzigjährigen Tätigkeit als Drogendealer kaum etwas über ihn weiß und es keine halbwegs aktuelle Aufnahme von ihm gibt. Welche Auswirkungen Guzmáns Festnehme auf das Sinaloa-Kartell und den Gang des mexikanischen Drogenkriegs hat, hängt davon ab, ob sich einer der beiden als neuer Capo zu installieren vermag. Falls nicht, drohen Nachfolgekämpfe, vielleicht sogar ein Zerfall der Verbrecherorganisation in rivalisierende Untergruppen.

Die schrecklichen Folgen einer solchen Entwicklung zeigten sich, als die mexikanische Marine im Dezember 2009 Arturo Beltrán-Leyva erschoss, den Anführer des Kartells der Gebrüder Beltrán-Leyva: Seine ehemaligen Untergebenen bekämpften sich gegenseitig mit aller Brutalität, mordeten und metzelten, ließen enthauptete Leichen von Autobahnbrücken hängen und stellten Foltervideos ins Internet. Experten gehen davon aus, dass Guzmáns Verhaftung die Rivalen des Sinaloa-Kartells stärken dürfte, allen voran die Tempelritter und die für ihre Grausamkeit berüchtigten Zetas.






Chapo hinter Gittern – ein Unglück für Mexikos Bevölkerung?

Chapo Guzmán gilt als Drogenboss der alten Schule. Er sah seine Hauptaufgabe im Schmuggel und in der Eroberung und Verteidigung der dafür notwendigen Territorien. Die Expansion des Sinaloa-Kartells ging mit blutigen Schlachten einher, etwa um die Vorherrschaft über Ciudad Juárez. Guzmáns erfolgreicher Angriff auf das alteingesessene Juárez-Kartell machte die Grenzstadt zwischen 2009 und 2011 zum tödlichsten Ort des Planeten. Sinnlose Brutalität gegen die Zivilbevölkerung, die Entführung von Unbeteiligten, die Erpressung kleiner Geschäftsleute, Prostitution und Menschenhandel gehörten hingegen nicht zu den Tätigkeiten des Sinaloa-Kartells. Sein Zerfall droht die Entstehung von Gruppierungen zu fördern, die mangels organisatorischer und logistischer Kapazität zum Drogenschmuggel in die USA unfähig sind und deshalb genau solche Verbrechen zu ihrem Hauptgeschäft machen.

 
Arturo Beltrán-Leyva


Zumindest kurzfristig könnte sich Guzmáns Verhaftung für die mexikanische Bevölkerung als Unglück erweisen. Und selbst wenn sie es dem Staat erlauben sollte, das organisierte Verbrechen in den vom Sinaloa-Kartell beherrschten Territorien in die Defensive zu drängen, sind sich Experten einig: Die Ausschaltung eines großen Capos ist ein eher symbolisches Ereignis, solange die finanziellen Strukturen seiner Organisation unangetastet bleiben, solange Scheinfirmen weiter Geld waschen und mit Politik und Wirtschaft vernetzte Hintermänner in aller Unbescholtenheit weiter agieren. Von durchschlagenden Erfolgen in diesem Bereich ist Mexiko weit entfernt.


Mexikos Präsident hat bei der Verbrechensbekämpfung versagt

Für den mexikanischen Präsidenten Enrique Peña Nieto ist die Festnahme dennoch ein großer, dringend benötigter propagandistischer Erfolg. Denn während ausländische Medien den 47-jährigen Regierungschef als großen Reformer feiern und ihn das Magazin «Time» in seiner letzten Nummer zum «Retter Mexikos» hochstilisierte, ist seine Beliebtheit im eigenen Land laut einer im Dezember publizierten Umfrage auf 44 Prozent gesunken.

48 Prozent der Befragten sind mit seiner Arbeit unzufrieden, wozu sie allen Grund haben: Die Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um ein kümmerliches Prozent gewachsen, die Steuerreform untergräbt die Kaufkraft der Mittelschicht. Was die anderen im Ausland bejubelten Neuerungen in den Bereichen Bildung, Telekommunikation und Energie betrifft, weiß die mexikanische Bevölkerung aus leidvoller Erfahrung, wie leicht hochtrabende Reformen bei der konkreten juristischen Umsetzung verwässert werden. Deshalb ist sie nicht begeistert, sondern wartet mit der gebotenen Skepsis ab.


150 Millionen in bar - Drogengelder in Tijuana



Vor allem aber hat Peña Nietos Regierung bei der Kriminalitätsbekämpfung versagt. Es ist ihr zwar gelungen, die Mordrate um rund 15 Prozent zu senken, doch haben Entführungen laut offizieller Statistik allein 2013 um 20 Prozent zugenommen. Die Dunkelziffer, die laut Experten bei über 90 Prozent liegt, ist dabei nicht erfasst. Paradoxerweise besteht die Gefahr, daß nun auch Guzmáns von Polizei und Rivalen bedrängte Nachfolger die Entführungsindustrie als profitable Alternative zum Drogenhandel wählen.
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