Montag, 3. Februar 2014

Mafia, Dior und die Zitronen

Auch das ist Europa: Über den frappierenden Unterschied der italienisch-französischen Grenzstädte Ventimiglia und Menton.






»Gucci? Lacoste? Versace?«, fragt der Händler und nestelt unterm Tisch in Bartsstoppeln Kartons herum. Auf dem Markt im italienischen Ventimiglia ist das alles zu haben: unechte Designertäschchen, täuschend echte Dior-Gürtel, falsche Hermès-Tücher. 20.000 Besucher strömen jeden Freitag in die ligurische Stadt, unter ihnen auch viele Touristen von der französischen Côte d’Azur, die nur 15 Kilometer weiter an der Grenzstadt Menton beginnt. Wild wird auf Bordsteinen und unter Brücken geparkt, denn die italienische Gendarmerie, so heißt es in französischen Lokalzeitungen, treibe Strafmandate ohnehin nicht ein. Zwischen den Ständen mit der gefälschten Markenware patrouillieren uniformierte Polizisten. Sie verziehen keine Miene.

In Ventimiglia haben Gauner leichtes Spiel. In Menton sieht das anders aus. Französische Grenzbeamte halten regelmäßig Fälscher auf. In Menton gibt es keinen Markt mit verbotenen Waren.

Die beiden Grenzstädte haben je knapp 30.000 Einwohner; duftende Zitrusfruchtplantagen ziehen sich an den Alpenausläufern im Hinterland hoch, und man genießt doppelt so viele Sonnenstunden wie in vielen deutschen Regionen. Aber die beiden Orte liegen in verschiedenen Welten.

Ventimiglia, Italien: Die Mafia hat die Stadt unterwandert, der Wohnungsmarkt ist schwarz, viele Bürger zahlen keine Steuern.

Menton, Frankreich: Man legt Wert darauf, eine »mafiafreie Zone« zu sein, man zahlt Steuern, einen Schwarzmarkt für Wohnungen gibt es nicht.


Die Ausplünderung der Stadt

Ventimiglia: Die Stadt steht ohne Bürgermeister da, seit der Amtsinhaber Gaetano Scullino im Februar in seinem Amtszimmer festgenommen wurde. Nun dirigieren drei Abgesandte des römischen Innenministeriums die Stadt. Es ist nicht die erste Stadt in Italien, deren Oberhaupt krimineller Machenschaften verdächtigt wird, aber die nördlichste.


Bürgermeister und Amtsinhaber Gaetano Scullino


Scullino und seine Stellvertreter sollen ein mafiöses System aufgebaut haben: Unter dem Vorwand, der Stadt Kosten ersparen zu wollen, gründete man eine private Gesellschaft mit dem Namen Civitas. Zum Generalsekretär wurde ein gewisser Marco Prestileo bestellt. Nach Angaben von Roberto Cavallone, Staatsanwalt im benachbarten San Remo, war Prestileo in eine Schießerei zwischen rivalisierenden Mafiabanden verwickelt. Ob er geschossen habe, kann Cavallone nicht sagen, aber Prestileo sei am Tatort gewesen und von der Polizei vernommen worden. Andere Angestellte sind der Polizei seit Jahren als Mitglieder der famiglia bekannt, ohne dass man sie hätte festnehmen können.


Staatsanwalt Roberto Cavallone


Civitas bekam alle öffentlichen Aufträge der Stadt – von der Abfallbeseitigung bis zu Bauarbeiten. Weil das europäische Recht verlangt, Projekte über 500.000 Euro öffentlich auszuschreiben, zerlegte man alle Aufträge, um sie unter diese Grenze zu drücken. Die Stadt soll regelrecht ausgeplündert worden sein.


Warum die Menschen in Ventimiglia schweigen

»Jeder wusste das«, sagt Roberto Blandino aus Ventimiglia, der in Wahrheit anders heißt, aber wie alle, die wir in Ventimiglia fragten, anonym bleiben will. Der 80-jährige Rentner mit dem schütteren Haar und den kleinen, hellen Augen sitzt auf einem Klappstuhl in seinem Zitronengarten am steilen Rand der Altstadt. 1951 war er vom Südzipfel Italiens nach Ventimiglia gezogen. Hier oben, hieß es, brenne die Sonne nicht so stark, und das Land sei fruchtbar. Noch heute bedecken Gewächshäuser mit Nelken, Anemonen, Rosen, Mimosen und Zitrusfrüchten die Hänge. »Damals kam auch die ganze Mafiasippe her«, sagt er. Einer von denen sei der Bürgermeister gewesen. »Jeder wusste das«, wiederholt er leise und schüttelt den Kopf.


Woher er das wisse? »Ach, als Italiener wissen Sie das. Wie Scullino bestimmte Leute um sich scharte, wie er mit seinem Küchenmöbelhandel bankrott ging und doch nie pleite war, dass er schon einmal im Gefängnis saß – das liegt doch alles auf der Hand.« Aber sprechen würde darüber niemand, »sonst«, sagt Roberto B. und schlägt mit der Handkante auf seinen Gartentisch.
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