Montag, 3. November 2014

Der mutigste Bürgermeister Italiens


http://www.welt.de/politik/ausland/article133891442/Das-ist-der-mutigste-Buergermeister-Italiens.html

Allein gegen das Böse in Kalabrien: Der 31-jährige Giuseppe Falcomatà hat der Mafia den Kampf angesagt. Wie schon sein Vater, versucht er, die 'Ndrangheta zu vertreiben - unter Lebensgefahr.


Riskante Mission: Giuseppe Falcomatà will in Reggio Calabria der Mafia ein Ende setzen – mit einer "Revolution der Normalität"


Giuseppe Falcomatà ist jung, schön und sehr elegant – wie man sich einen attraktiven Italiener eben vorstellt. Er hat ein strahlendes Lächeln, einen federnden Gang. Höflich begrüßt er seine Besucher. Doch dann ist er schlagartig anders, sehr ernst, die Augen gehen auf Distanz, sezieren, als müsste er blitzschnell Daten verarbeiten. Das hat er früh gelernt.

Seit Mittwoch ist der erst 31-jährige Politiker neuer Bürgermeister seiner Heimatstadt Reggio Calabria, die tief im Süden Italiens in der Region Kalabrien liegt. Aber Falcomatà ist hier nicht angetreten, um es mit irgendeiner Oppositionspartei aufzunehmen.

Sein politischer Gegner ist ein lebensgefährlicher Feind: die 'Ndrangheta, heute eine der mächtigsten Mafia-Organisationen der Welt. Sie regiert in Kalabrien und hat an vielen Orten der Region die staatliche Gewalt untergraben oder ersetzt. Sie kontrolliert von hier auch ein Verbrecher-Imperium in fünf Kontinenten, macht mit Drogen- und Waffenhandel, Erpressung und Geldwäsche Umsätze, die geschätzt ein Zehntel von Italiens Bruttosozialprodukt ausmachen.




Giuseppe Falcomatà weiß, dass er dieser 'Ndrangheta den Kopf nicht abschlagen kann. Aber er möchte wenigstens seine Stadt aus ihren Klauen befreien, die sie zu ersticken drohen. "Meine Vorgänger haben die Politik und öffentliche Gelder als Privatsache angesehen", sagt er. Sie hätten sich selbst bedient und nicht die Stadt und dafür in Kauf genommen, "dass die 'Ndrangheta sie bei den Wahlen unterstützte", oder, noch schlimmer: direkt Einzug in die Stadtregierung hielt.


Die Mafia nahm in städtischen Betrieben Platz

Vor zwei Jahren war dieser bis dahin unvorstellbare Höhepunkt politischer Korruption und mafiöser Arroganz in Reggio Calabria erreicht: Zum ersten Mal war die Mafia, vor den Augen der Öffentlichkeit, in die Regierung einer italienischen Provinzhauptstadt eingedrungen. 'Ndrangheta-Leute hatten in der Geschäftsführung städtischer Betriebe Platz genommen. Die Regierung in Rom setzte einen Zwangsverwalter auf den Stuhl des letzten Bürgermeisters von Reggio Calabria.
Dass der junge Falcomatà nun endgültig mit diesem System Schluss machen will, könnte lebensbedrohlich sein. Aber er hat keine Angst, erklärt schlicht: "Die Stadt würde total veröden, wenn wir alle nur weglaufen."

Statt heroischer Ziele verfolgt er ein simples Rezept, das er die "Revolution der Normalität" nennt. Auch er selbst will ganz normal weiterleben, in der Freizeit Fußball spielen, wenn er sie hat. Wie genau seine Revolution aussehen soll, will er auf den Straßen der Kleinstadt mit seinen knapp 200.000 Einwohnern erklären.




Auf der Strandpromenade hat eine Gruppe Demonstranten den Verkehr lahmlegt. Langzeitarbeitslose, die seit Monaten keine Sozialhilfe mehr bekommen. In Reggio Calabria sind über 50 Prozent der Menschen ohne Arbeit, es gibt keine Industrie und die früher florierende Klientelwirtschaft wirft kaum mehr etwas ab, seit die italienische Regierung spart. Die Leute rufen Falcomatà "Viva Beppe!" entgegen, applaudieren, umarmen ihn, obwohl sie wissen, dass er nichts mehr zu verteilen hat und es auch nicht tun würde. Was wollen sie dann?


Den Leuten "eine normale Existenz zurückgeben"

"Die Bürger brauchen Licht, fließendes Wasser, Straßen, Verkehrsmittel, Kindergärten", erklärt der Bürgermeister. Dinge wie Umweltsanierung und Aufwertung von Kunstschätzen, um den Tourismus anzukurbeln, wirken wie Fernziele. In Reggio Calabria gibt es einen der weltweit besten Strände für Kitesurfer. Aber erst einmal "müssen wir den Leuten eine normale Existenz zurückgeben." Denn normal ist in Reggio Calabria so gut wie nichts.

Wie es aussieht, wenn Mafia und Korruption jahrzehntelang wüten? Das kann man in der Stadt sehen. Wo früher die Zitronen blühten, hat zügellose Bauwut Wunden aus Zement in die grünen Hügel geschlagen, die vom Meer hinauf ins Gebirge steigen.
Ein verlorenes Paradies am blauen Mittelmeer, wo Millionen römischer und europäischer Fördermittel in den Taschen von Kriminellen verschwunden sind. Aus den Wasserhähnen der Häuser fließt eine stinkend-salzige Brühe, aufbereitetes Meerwasser.

An der Strandpromenade herrscht wegen starker Verschmutzung durch Kloaken seit Jahren Badeverbot. Die meisten Straßen sind gesäumt von Müll und Dreck, gezeichnet von tiefen Schlaglöchern. Warum "Licht anmachen" für Falcomatà schon eine Revolution ist, wird hier deutlich. Nachts sind viele Straßen stockduster, dann gleicht die Stadt Beirut nach dem Krieg, nicht einer Stadt im Süden der Europäischen Union.

Noch schlimmer ist es an der nördlichen Peripherie von Reggio Calabria in der Trabantenstadt Argilla, wo die ganz Armen, viele Kriminelle, Roma leben, die der frühere Bürgermeister Giuseppe Scopelliti aus der Altstadt hierher deportierte. Der Berlusconi-Freund wurde mittlerweile für Mafia-Kollusion verurteilt. Hohes Gestrüpp wuchert hier, nackte Zementruinen stechen hervor. Alte Frauen, Schwangere und Kinder laufen in der Mittagshitze am Straßenrand, denn es gibt nur einmal am Tag einen Bus in die Stadt. Ein Amphitheater dient tagsüber Dealern als Marktplatz, nachts den Prostituierten als Straßenstrich.

Müll türmt sich an der Straße. "Ratten mit Glatze", wie Kinder riesige nackte Viecher nennen, tummeln sich dazwischen. Sie haben Milben, deswegen keine Haare mehr. Die Kinder hatten in diesem Sommer die Krätze. In die Schule geht hier keiner. "Die sanitären Bedingungen sind verheerend, lebensgefährlich", sagt die Journalistin Katia Colica, die ein Buch über dieses Getto geschrieben hat. In den Häusern sind Asbest und Giftmüll verbaut. Colica ist eine der wenigen, die Zugang zu Argilla haben. "Aber nur bis abends um neun. Danach ist das hier die Bronx." Die Leute haben bemerkt, dass Fremde gucken, fotografieren. Innerhalb weniger Minuten tauchen "Streifenwagen" auf, junge Männer in getunten Autos. Wenn sie zum dritten Mal kommen, muss man raus.

Südlich von Argilla liegt das Justizgebäude, ein postmoderner Bau. Im sechsten Stock sitzt Staatsanwalt Nicola Gratteri, man muss zu Fuß hinauf, der Fahrstuhl klemmt. Die Wände sind dreckig, Karren mit brisanten Akten stehen zur Selbstbedienung herum. Unglaublich, dass so eine Schaltzentrale im Kampf gegen die internationale Mafia aussieht, wo einer der erfahrensten Ermittler gegen das organisierte Verbrechen nicht mal von einer gepanzerten Tür geschützt wird. Gratteri sitzt vor Bildern der von der Mafia ermordeten Kollegen. Von seinem Büro blickt er auf die Abhänge des Aspromonte-Gebirges. In den 70er- und 80er-Jahren hielt die Mafia hier in Höhlen ihre Geiseln fest.


Die Killer von Duisburg kamen aus San Luca

Gratteris Feind sitzt dort oben, im kleinen San Luca, nur 30 Kilometer von Reggio Calabria entfernt. An den Straßen stehen "Streifen", die den Falkenhorst der 'Ndrangheta abschirmen. "In San Luca ist das Kommando", sagt er. Von dort leiten die Mafiabosse Hunderte 'Ndrangheta-Filialen und ihre Geschäfte weltweit, so wie es früher die Paten der Cosa Nostra in Corleone auf Sizilien taten. Aus San Luca kamen auch die Killer von Duisburg, wo 2007 sechs Menschen im Kugelhagel vor einer Pizzeria starben.




Dass die 'Ndrangheta so erfolgreich ist, verdanke sie ihrer rigorosen Organisation und eisernen Regeln, erklärt Gratteri. In dem patriarchischen System wird Verrat mit dem Tod bestraft. "Die 'Ndrangheta ist zuverlässig, es gibt keine Überläufer, das macht sie bei den kriminellen Partnern glaubwürdig in aller Welt." Auch ein Entkommen gibt es nicht. Deshalb experimentiert der Präsident im nahen Jugendgericht, Roberto Di Bella, mit einem selbst entwickelten Verfahren. Er spricht 'Ndrangheta-Familien das Erziehungsrecht ab und schickt die Jugendlichen in soziale Einrichtungen außerhalb Kalabriens.

Damit soll die Nabelschnur zur Familie gekappt werden. Di Bella ist stolz auf erste Erfolge – er konnte nicht länger ertragen, "Minderjährige zu verurteilen, deren Väter ich schon vor 20 Jahren verurteilt habe".

Im Namen der Väter betreiben heute auch die Söhne in "weißen Westen", die im Norden und im Ausland studieren und als unbescholtene Manager agieren, das neue Kerngeschäft der 'Ndrangheta: Geldwäsche und Investitionen in der legalen Wirtschaft Italiens und Europas. Dagegen hat Europa keine Antikörper, "keine Normen und Gesetze, und ist mit der Länge von Bananen beschäftigt, während die Mafia überall Fuß fasst", wie Gratteri kritisiert. Allein in Deutschland gebe es "einige Dutzend" 'Ndrangheta-Stützpunkte.


Die Familie lebte eskortiert von Sicherheitspersonal

In Reggio Calabria seien diese Leute längst "der harte Kern der öffentlichen Verwaltung, überall infiltriert", sagte er. Die wirtschaftliche Misere macht viele zu stummen Mitläufern. Promovierte Söhne der 'Ndrangheta säßen fest im Sattel, unbescholten. Gratteri ist deswegen froh über die Wahl von Falcomatà. Aber ob der junge Mann es allein mit dieser Mafia aufnehmen kann?

Falcomatà hat Antikörper. Er gilt als brillanter Jurist, hat mit einer Arbeit über die Konfiszierung von Mafia-Gütern im norditalienischen Bologna habilitiert. Vor allem kennt er seinen Feind seit der Kindheit. Schon Vater Italo war in den 90er-Jahren Bürgermeister von Reggio Calabria gewesen und hatte versucht, die Mafia zu bekämpfen. Eines Nachts stand Giuseppes Elternhaus in Flammen. Die Familie lebte fortan eskortiert von Sicherheitspersonal.

Vater Falcomatà starb 2001 an einem Tumor – und die Mafia kehrte für viele Jahre in die vorderste Reihe der Politik zurück. Als Falcomatà junior am Mittwoch sein Amt antrat, stand seine Schwester Valeria im Prunksaal des Rathauses und weinte. "Im Namen des Vaters", sagt Falcomatà, trete er jetzt an, "aber nicht, weil er mein Vater war, sondern ein wichtiges, das einzige Vorbild für alle."

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