Sonntag, 2. November 2014

Organisiertes verbrechen lohnt sich

Von Roberto Saviano

In der Vorstellung bedeutet organisiertes Verbrechen, in wunderschönen Villen zu leben, wunderschöne Autos zu haben und von schönen Frauen umgeben zu sein. Die Wahrheit sieht ganz anders aus. Das Leben eines Mafioso ist entsetzlich, trist und fast schon klösterlich. Die meisten Leute verstehen nicht, dass Mafiosi, selbst die Bosse, wie Ratten in einem Abwasserkanal leben. Sie sind gezwungen, den erlangten Reichtum zu verstecken, weil sie sonst ihr Leben und das ihrer Angehörigen riskieren. Von dem Moment an, wo sie diesen Weg einschlagen, wissen sie, dass es nur zwei Arten geben kann, wie er enden wird: Entweder landen sie im Gefängnis oder sie werden von ihren Feinden getötet.




Ich spreche hier insbesondere von den heutigen Mafiosi, der derzeitigen Generation mächtiger, reicher und einflussreicher italienischer Krimineller, die nur ein Lebensziel haben: Macht und Geld. Wenn man der Mafia beitritt, beginnt man mit einem niedrigen Einstiegsgehalt. In der kalabrischen 'Ndrangheta bekommt man den Titel picciotto d'onore („Ehrenbursche"), in der neapolitanischen Camorra den Titel guaglione („Junge")-in jedem Fall verdient man nicht sehr viel, wenn auch mehr, als sich in diesen Teilen Süditaliens mit einer legalen Tätigkeit verdienen ließe. Anfangs bekommt man möglicherweise 2.000 bis 3.000 Euro.

Sobald man dann mehr Verantwortung übernimmt (und es schafft, zu überleben), steigt das Gehalt auf 6.000 bis 12.000 im Monat. Wenn man es noch weiter nach oben schafft und einer der Handlanger des Bosses wird, kann der Monatssold auf 30.000 bis 35.000 steigen. Als vicecapo und zweiter in der Befehlskette nach dem Boss kommt man auf etwa 100.000 Euro im Monat. Und was die Bosse angeht-was diese verdienen können, entzieht sich jeder Vorstellungskraft.

Im Allgemeinen haben kriminelle Organisationen viele Mitglieder, von denen die meisten nicht wirklich viel Geld verdienen, auch wenn ihre Arbeit teilweise sehr gefährlich ist. Gebietsbosse und capos können allerdings beträchtliche Summen verdienen. Die Mitglieder von La Santa, einer Geheimgesellschaft aus den ranghöchsten Mitgliedern der 'Ndrangheta, verdienen angeblich 100.000 Euro monatlich. Die Monatsgehälter der Gebietsbosse in Scampia (dem Drehkreuz des neapolitanischen Drogenhandels) reichen von 50.000 bis 100.000 Euro. Zu diesem Geld kommen noch verschiedene andere Vergütungen in Form von Autos, Immobilien oder Anteilen an den rechtmäßigen Unternehmen.




Darüber hinaus bietet jeder Clan eine eigene Form von Versicherung an. Wenn man ein behindertes Kind hat, steigt das Grundgehalt. Falls (bzw. wenn) man getötet wird, erhält die Familie Geld für das Begräbnis sowie eine „Todesbeihilfe". Wird das Mitglied eines mächtigen Clans getötet, kann die Familie wählen, ob sie eine Pauschale von 100.000 bis 240.000 Euro oder eine monatliche Zahlung vorzieht, die dann an die Witwe, Mutter oder Freundin des Toten (vorausgesetzt, diese ist die Mutter seiner Kinder) ausgezahlt wird. Außerdem gibt es Gefängnisbeihilfen.

Nie werde ich eine Szene vergessen, deren Zeuge ich vor einigen Jahren in einem Gerichtssaal in Neapel wurde. Vor Gericht standen Mitglieder einer Camorra-Familie, und ich war wie so häufig da, um den Prozess zu verfolgen.

Bei der Urteilsverkündung sah ich, wie einer der Angeklagten, erst 24 oder 25 Jahre alt, das Gesicht in den Händen vergrub, als er hörte, dass er zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Er befand sich im Käfig, der Zelle, in der Häftlinge während des Prozesses untergebracht sind. Einer meiner Personenschützer, der gesehen hatte, wie jung der Angeklagte war, versuchte, ihn zu trösten: „Wenn du dich gut benimmst, wird deine Strafe reduziert, du wirst sehen", sagte er. „Außerdem ist dies erst die erste Instanz." (In Italien gibt es drei Gerichtsinstanzen, von denen die ersten beiden das Einlegen einer Berufung ermöglichen.)

Der Angeklagte hob den Kopf und entgegnete: „Ja und? Wer sagt jetzt meiner Frau, dass ich nur acht Jahre bekommen habe?" Wie sich herausstellte, war er wütend, weil seine Familie nach den Regeln seiner Organisation bei einer Strafe von zehn Jahren fast 3.000 Euro im Monat erhalten hätte, während es bei acht Jahren nur höchstens die Hälfte war.




Ich bin auf Camorra-Gebiet aufgewachsen und habe früh mitbekommen, dass sich selbst Mord nicht wirklich auszahlt. Hinrichtungen sind Sonderaufträge, die getrennt vom Tagesgeschäft des organisierten Verbrechens abgewickelt werden und den Auftragsmördern einen Bonus-im Allgemeinen von etwa 2.500 bis 3.000 Euro-einbringen. Nach der Tat wird der Killer sofort an einen sichereren Ort gebracht, fern von der Gegend, in der er normalerweise arbeitet. Vor Jahren hat ein bezahlter Killer einmal für 2.200 Euro eine junge Frau in Neapel umgebracht. Ihn schickte man in die Slowakei, wo die Polizei ihn nicht finden konnte.

In vielerlei Hinsicht ähnelt der Beitritt zu einer kriminellen Organisation dem Antritt eines neuen Jobs in einer Anwaltskanzlei oder einem anderen großen Unternehmen: Man verdient kaum genug zum Leben, weiß aber, dass man sich alles hart erarbeiten kann. Zu Anfang ist die Arbeit reine Routine und manchmal auch erniedrigend, aber mit der Zeit werden die Aufgaben prestigeträchtiger und man selbst wohlhabender und wichtiger. Die 2.000 Euro, die ein picciotto heute verdient, könnten zu Millionen werden, wenn er Boss wird. Auch die Tätigkeit als Mafiakiller hat ihre Vorteile-jemanden zu töten, ist der Karriere mit großer Wahrscheinlichkeit förderlich. Als einfacher Soldat oder Angestellter kann man kein Boss werden.

Gelegentlich geht einem Clan das Geld aus, zum Beispiel, weil er zu sehr im Blickfeld der Medien und der Polizei steht. Dann beschafft er sich Kapital, indem er Schutzgeld von Unternehmen erpresst. So kann es vorkommen, dass ein Clan in der Weihnachtszeit Geschäfte zwingt, den Preis für Panettone zu verdoppeln, um die Jahresabschlussprämien für ihre inhaftierten Mitglieder zahlen zu können. 

In Extremfällen, dann, wenn sich der Clan in einer echten Zwangslage befindet, genehmigt er vielleicht sogar Raubüberfälle. Raubüberfälle sind bei der italienischen Mafia allerdings äußerst selten-genau wie Prostitution gelten sie als „schmutzig". (Andererseits hat die Mafia kein Problem damit, einen bestimmten Prozentsatz von dem Gewinn aus derartigen Aktivitäten einzustreichen.)

Das Wichtigste, was kriminelle Organisationen wie die Mafia ihren Mitgliedern bieten können, ist Sicherheit. Wenn du dich gut machst, wirst du belohnt. Wenn du einen Fehler machst, stirbst du oder gehst für lange Zeit ins Gefängnis. Doch selbst dann kümmert sich jemand um deine Familie und bezahlt deine Anwälte. Ein derartiges Übereinkommen ist in unserer Zeit ziemlich selten geworden-wie viele Arbeiter haben noch die Gewähr einer Lohnfortzahlung, wenn sie sich bei der Arbeit verletzen? Und wie viele Leute leisten jahrzehntelang anständige Arbeit im gleichen Job, ohne je eine anständige Lohnerhöhung zu bekommen? Darin liegt die wahre Macht und die Anziehungskraft der Mafia.


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