SPiegel/Online berichtet: Giovanni
Rossi ist Berufsmörder. Für die Mafia hat er viele Menschen getötet. Jetzt ist
er selbst auf der Flucht. Vor seinen ehemaligen Komplizen.
Nachdem er zum ersten Mal gemordet hat,
isst er Hühnchen mit Pommes. Er geht nach Hause, setzt sich vor den Fernseher
und schläft ein. Giovanni Rossi (Name geändert), ein schlaksiger,
kleiner Mann mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen, ist zufrieden mit sich,
stolz auf das, was er getan hat. Fünf Schüsse ins Herz, abgefeuert aus nächster
Nähe auf einen Wehrlosen, der am Boden liegt.
Schon
bald tötet Rossi wieder.
Er schießt mit Pistolen, Revolvern und
Schrotflinten, er mordet für die Mafia, die sizilianische Cosa Nostra. Er ist
ein Killer, einer der besten, er zögert nie, kennt keine Angst und leidet nicht
unter dem Leid, das er verbreitet.
Wie viele Menschen er umgebracht hat,
kann Rossi nicht sagen. Es können sechs oder sieben gewesen sein, vielleicht
auch zehn. "Ich habe nie gezählt", sagt er. So wie er auch nie
gefragt hat, weshalb diese Männer sterben müssen, wie sie heißen oder ob sie
Frauen haben, Kinder, Geschwister. Rossi drückt einfach ab. Er denkt, er sei
Soldat oder Jäger, er denkt, seine Taten gingen schon in Ordnung. Seine Opfer
sind Mafiosi wie er, kennen das Risiko, und: Der Boss hat es befohlen.
Aber aus dem Jäger ist
ein Gejagter geworden.
Seine früheren Freunde sind jetzt hinter
ihm her, seine Feinde sowieso, es gibt viele Menschen, die es nach Rache
dürstet. "Sie wollen mich töten", sagt er. In Sizilien konnte Giovanni Rossi nicht
bleiben, es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie ihn geschnappt und
liquidiert hätten. Also ist der 43-Jährige nach Deutschland geflogen, wo er ein
neues Leben beginnen und mit seinem alten endgültig brechen will. Dazu gehört
auch, dass er über die Dinge spricht, die er getan hat.
"Die
Mafia war für viele Jahre meine Familie", sagt Rossi, "mein Boss war
wie ein Vater für mich." Allgegenwärtig, übermächtig, die einzige Instanz,
die auch über Leben und Tod entscheidet. Rossi bewundert diesen Mann und
fürchtet ihn zugleich. Und er will teilhaben an der unsichtbaren Macht, die
seine Heimat beherrscht.
Giovanni Rossi wächst in einer
Kleinstadt als Sohn eines Handwerkers und einer Hausfrau auf, er hat Brüder und
eine Schwester und verlebt, so sagt er, eine glückliche Kindheit auf dem Land. Er
stammt aus keinem der großen Mafia-Clans, er hätte sich anders entscheiden
können, so wie seine Geschwister, die bürgerliche Berufe ergreifen. Doch er ist
wild, selbstbezogen und schon früh kriminell.
Mit elf oder zwölf klaut er in Kiosken
und Geschäften, mit 14 bricht er zum ersten Mal ein, mit 15 greifen er und sein
bester Freund zu Waffen. Sie setzen Motorradhelme auf, dringen in die Häuser
fremder Menschen ein, von denen sie glauben, sie seien reich.
Bei ihrem ersten Coup halten sie
stundenlang die Frau eines Unternehmers gefangen, bis deren Mann endlich nach
Hause kommt und ihnen 8000 Euro aushändigt. Sie fühlen sich wie Lottogewinner -
was sie ihrer Geisel angetan haben, interessiert sie nicht.
Rossis Heimatort ist Mitte der achtziger
Jahre eine Stadt mit zwei Gewalten. Vordergründig gelten die Gesetze des
italienischen Staates, es gibt eine Verwaltung, Polizei und Beamte. Doch
daneben existiert eine weitaus mächtigere Organisation: die Cosa Nostra.
"Das
ganze Dorf wusste, wer dazugehörte", erzählt Rossi. Die Alten tragen
Goldringe und schwarze Hüte, die Jungen Trainingsanzüge und teure Uhren. Diese
Männer haben das Sagen, man bittet sie um Hilfe, wenn man nicht weiter weiß. Die
Familie seines besten Kumpels gehört auch dazu.
Sie regeln die Dinge,
große und kleine.
Schon bald werden die "Ehrenwerten
Männer" auf den schmächtigen Jungen aufmerksam. Der Teenager ist
skrupellos, angstfrei, risikobereit, und er kann schweigen. Sie testen ihn,
geben ihm kleinere Aufträge, er soll ein Haus anzünden, Schafe eines
Konkurrenten töten, Menschen ausrauben. Giovanni Rossi gehorcht, macht seine
Sache gut.
Doch dann geht etwas schief. Bei einem
Überfall auf eine Ölmühle wehrt sich der Besitzer, Rossi und sein Kumpel werden
gefasst. Die Jugendrichterin schickt die Jungen für acht Jahre ins Gefängnis,
doch nach der Hälfte der Zeit sind sie wieder draußen. Die Justiz hat
geschlampt. "Von da an gehörte ich wirklich dazu", sagt Rossi. Dass
er dichtgehalten hat, zahlt sich aus. Er ist 20 Jahre alt und für die
Jugendlichen in seinem Heimatort eine Berühmtheit.
Sein Boss will ihn jetzt enger an sich
binden.
"Du musst jemanden
umbringen", sagt der Boss. "Okay", sagt Rossi.
Rossi und sein Freund sprechen ihr Opfer
in einer Bar an. "Wir wollen mit dir reden." Er solle mit auf die
Straße kommen. Der Mann folgt arglos. Draußen eröffnen die Killer das Feuer,
aber sie sind nervös. Zu nervös. Der Mann überlebt. Sie machen noch mehr
Fehler. Es gibt einen Zeugen. Und sie lassen ihn laufen. Der Boss tobt, verflucht sie, droht
ihnen: "Das nächste Mal, wenn ich sage, einer soll tot sein, dann muss er
tot sein. Sonst seid ihr tot!"
Das nächste Mal.
Ein kalter Abend im
Dezember, Giovanni Rossi und vier Komplizen sollen einen Mann erschießen, der
ohne Genehmigung Kokain im Gebiet des Bosses verkauft hat. Ein Frevel, der in
der Logik der Cosa Nostra mit dem Tod bestraft werden muss. Sie beschatten ihn,
sehen, wie der Mann aus einer Bar kommt, er hat sich dort mit zwei Typen
getroffen. Die Attentäter trennen sich und folgen auch denen.
Der
Wagen hält an einer Tankstelle, sie stürmen zu dem Auto, einem Citroën. Die
beiden Insassen sind schon ausgestiegen, Rossi und sein Kumpel schießen. Die
anderen rennen, einer in die Felder, einer in den Laden. Die Killer hinterher.
Sie drücken ab.
"Hilfe,
Hilfe!" Die ersten Kugeln reißen das Opfer zu Boden, er liegt hinter dem
Kassentresen, wimmernd. "Wir haben weiter auf ihn geschossen, bumm,
bumm", erinnert sich Rossi. "Sechs oder sieben Schüsse, Richtung
Herz." Die Leute im Raum schreien, werfen sich hin, rennen weg, bloß weg.
"Aber du hörst und siehst nichts in diesem Moment, nur das Ziel, sonst nichts",
sagt der Mörder.
Am
Abend, im Bett, denkt Rossi: Ein guter Tag, diesmal habe ich alles richtig
gemacht. Der Typ ist tot, der Boss wird zufrieden sein.
"Ich
habe mich wie Gott gefühlt, weil ich einem Menschen das Leben nehmen
konnte", erinnert er sich. "Diese Macht ist wie eine Droge, die einem
zu Kopf steigt. Wir waren als Kriminelle das Adrenalin gewöhnt, aber zu töten
war etwas Neues." Er lernt, den Rausch zu kontrollieren.
Gnadenlos
"Was ihn als Killer auszeichnete,
war seine absolute Kälte", sagt ein Polizist, der Rossi gejagt hat.
"Er ist vollkommen gefühllos und deswegen so gefährlich." Ein anderer
Ermittler sagt: "Er ist eine Bestie. Obwohl, das stimmt nicht, ein Tier
tötet niemals grundlos." In einem Urteil gegen Rossi heißt es, er sei "einer
der erbarmungslosesten Killer" der Gruppierung gewesen.
Seine Rücksichtslosigkeit macht Giovanni
Rossi zum perfekten Werkzeug in den Händen gefährlicher Männer in einer
gewalttätigen Zeit. Anfang der neunziger Jahre hat der Boss der Cosa Nostra,
der berüchtigte Totò Riina, dem Staat den Krieg erklärt. Seine Männer ermorden
Richter, Polizisten, Politiker, Staatsanwälte, Priester. Mit gewaltigen Bomben
töten sie die Mafia-Jäger Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Auch innerhalb
der Clans toben Machtkämpfe. Ihre Fehden kosten viele Menschen das Leben.
Rossi ist zu diesem
Zeitpunkt Teil der sogenannten Gefechtsgruppe, einer geheimen Einheit, die
Anschläge ausführt und für ihren Boss Leonardo Vitale die Drecksarbeit macht.
Sie jagen, töten die Männer eines anderen Clans, damit ihr Boss noch mächtiger
wird.
Jeder
kämpft gegen jeden. Niemand hat den Überblick, wer auf wessen Seite steht, wer
wem etwas schuldet, wer wen verraten hat und worum es eigentlich geht. "Es
war das totale Chaos", sagt Rossi.
Die Killertruppe, die er befehligt,
geht in den Untergrund. Sie schlafen in Ställen und Landhäusern, jede Nacht
woanders. Sie haben den Kontakt zu ihren Familien abgebrochen und rücken nur
aus, um Feinde zu töten.
Am 26. April 1991 schießen sie dem
Elektriker Vito Renda ein ganzes Magazin in den Bauch, anschließend feuern sie
mit einem Revolver auf sein Gesicht. Auf dem Rückweg entdecken sie an einer
Tankstelle einen Mann, der dort Zeitung liest: Nunzio Montalbano, er steht auch
auf ihrer Todesliste. Sie töten ihn mit einer Schrotflinte.
Einmal liefern sie sich eine Schießerei
auf offener Straße mit Polizisten. Oder sind es doch verfeindete Mafiosi, die
sich verkleidet haben? Oder echte Polizisten, die von ihren Feinden geschmiert
werden und sie umbringen sollen? Das Feuergefecht dauert Stunden, schließlich
entkommen Rossi und seine Komplizen.
Dann explodiert eine Bombe in ihrem
Unterschlupf, sie haben Glück, sie sind gerade nicht da. Als sie abends
zurückkehren, ist das Haus ein Trümmerhaufen. Der Einzige, der ihr Versteck
kannte, ist ihr Boss. "Er hat uns an Totò Riina verraten", sagt
Rossi, "und auch an die Polizei." An einem Tag im Mai 1991 ist Rossi
unterwegs mit seiner Suzuki DR 600. Plötzlich sind überall Polizisten,
Soldaten, sie wollen ihn stoppen, Rossi gibt Gas. Die Beamten verfolgen ihn,
schießen, treffen seinen Kumpel, der mit auf dem Motorrad hockt. Er rutscht
hinunter, Rossi verliert das Gleichgewicht, kracht in eine Mauer. Es ist
vorbei.
Zwei Jahre lang sitzt Giovanni Rossi
in Italien in Untersuchungshaft, dann kommt er frei. Der Richter hat die
Fristen zur Eröffnung eines Verfahrens nicht eingehalten. Rossi besorgt sich
einen falschen Ausweis, flieht nach Deutschland und taucht in Pforzheim unter.
Er jobbt in einer Pizzeria und auf dem
Bau, er geht in den Zoo und hat eine Freundin. Die italienische Gemeinschaft
bietet ihm Deckung, Deutsch lernt Rossi nicht. Nach zwei Jahren wird er von
einem Spezialeinsatzkommando festgenommen. Drei Stöße mit der Ramme, dann
fliegt die Haustür der Familie auf. Das Verfahren in Italien geht durch
vier Instanzen, am Ende muss Giovanni Rossi für 18 Jahre ins Gefängnis. Sechs
Morde und zwei versuchte Morde können die Ermittler ihm nachweisen. Das ist
nicht alles, aber genug, um ihn lange einzusperren.
Die Jahre vergehen
Es ist Sommer 2006, Fußball-Weltmeisterschaft
in Deutschland, Italien wird sie gewinnen. Rossi fährt mit dem Bus, er hat
Freigang bekommen. Ein schöner, sonniger Tag. Ein Mann belästigt eine Frau,
alle drehen sich weg, nur Rossi nicht. Er wirft den Störer hinaus, verpasst ihm
zwei Tritte in den Hintern und lädt die Frau auf ein Getränk ein. Einige Monate
später heiraten sie.
Die Frau stammt aus Norditalien und
kennt die Cosa Nostra nicht. Die Mafia ist für sie etwas, worüber sie in der
Zeitung liest. Sie ist wohlhabend, gebildet, ihr Vater ein bekannter Architekt.
Rossi macht eine Ausbildung zum Buchbinder. Es scheint, als könne sich sein
Leben ändern, das Glück ist greifbar.
Doch Rossi muss noch einmal für zwei
Jahre zurück ins Gefängnis, seine Reststrafe absitzen. Es gibt keine Bewährung
für den Killer. Seine Ehe scheitert. Er ist wieder allein, alles auf Anfang.
Als Giovanni Rossi schließlich in die
Freiheit entlassen wird, weiß er nicht mehr, wo er hingehört. Nach Sizilien
kann er nicht. Die Cosa Nostra will ihn töten, wohl mehr denn je. Er hat
inzwischen sein Schweigen gebrochen. Also fährt er wieder nach Deutschland und
schlägt sich durch. Wie soll es weitergehen? Rossi weiß es nicht.
Er sagt, er habe sein Leben verpfuscht,
aber er wisse nicht, warum und wofür. War es das Abenteuer? Das Gefühl der
Macht über Leben und Tod, die Chance auf das große Geld?
Geld
und Macht scheinen ihm heute nur noch wenig zu bedeuten. In seinem Versteck in
Deutschland träumt Rossi von einem ganz gewöhnlichen Leben: einem Job, einer
Familie, Ferien am Strand. Doch den Frieden wird es für ihn nicht geben. Die
Mafia vergisst nicht.
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