Von Jan-Christoph Kitzler
In Herculaneum am
Vesuv, heute Ercolano, tobte vor wenigen Jahren noch einer der blutigsten
Mafia-Kriege Italiens. Heute gilt die Region als schutzgeldfreie Zone. Doch
dafür mussten sich die Einwohner in Gefahr begeben.
Die Via 4 Novembre geht mitten durch das
60.000-Einwohner-Städtchen. Und genau hier verlief bis vor kurzem noch die
Grenze: unsichtbar, aber abweisend wie die Berliner Mauer. Die Grenze zwischen
zwei mächtigen Clans. Auf der südlichen Seite kontrollierten die Leute des
Birra-Clans, im Norden die vom Clan Ascione.
Mit Angela Nocerino kann man heute
entspannt unterwegs sein. Die junge Frau mit den dunklen langen Haaren, erzählt
gern von den Erfolgen in Ercolano. Dabei ist sie selbst das beste Beispiel dafür,
dass es weiterhin gefährlich ist. Vor dem Haus ihrer Eltern, in dem wohnt,
stehen rund um die Uhr die Carabinieri. Ihr Vater ist Bauunternehmer und hat
sich als Kronzeuge gegen die Camorra zur Verfügung gestellt. Gleich in mehreren
Prozessen sagt er gegen die Clans aus, nicht nur in Ercolano. Seitdem muss die
Familie mit dem Zeugenschutzprogramm leben:
"Wir haben die
Militärs direkt vor dem Haus. Und das bedeutet, dass sich Dein Leben ändert.
Angefangen bei den kleinen Dingen. Du gehst nicht mehr in die Bar, um einen
Kaffee zu trinken, denn in Deiner Nähe sind immer noch zwei andere. Für die
Person, die geschützt wird, ist das ganz sicher eine verheerende Veränderung.
Also: Für meinen Vater, aber auch für die ganze Familie."
Aber Angela Nocerino hat keine Angst in
der Via 4 Novembre. Auch, weil hier ihre Mitstreiter leben. Sie organisiert den
Verein, der die Anti-Mafia-Aktionen koordiniert. Ercolano hat sich verändert:
"Es war
schrecklich, überall gab es Tote. Weil Ercolano zweigeteilt war, gab es fast jeden
Tag einen Toten, denn sie brachten sich untereinander um. Überall fand man
Tote, und dann gab es Leute, die ganz entspannt mit dem Maschinengewehr
herumliefen."
Heute merkt man nichts
von der Vergangenheit
Wenn man heute durch Ercolano läuft,
merkt man als Außenstehender nichts von dieser Vergangenheit. Aber schon kurz
nach dem Zweiten Weltkrieg war die Gegend im Fokus des organisierten
Verbrechens. Der berühmte Mafiaboss Lucky Luciano war aus New York nach Italien
zurückgekehrt und hatte Ercolano zu einem seiner Umschlagplätze erklärt. In
Stoffballen aus Altkleidern wurden in großem Stil Waffen, Drogen und Alkohol
geschmuggelt.
In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts
wurde Ercolano zu einem der wichtigsten Märkte für Heroin. Dann kamen
Schutzgeld, Erpressung, Wucher hinzu – die Camorra mischte auch kräftig mit bei
öffentlichen Bauaufträgen. Das übliche, einträgliche Geschäft.
Der Clankrieg hatte schon Ende der
80er-Jahre begonnen, mit dem Aufstieg der Birra, die dem Ascione-Clan ihre
Macht streitig machen wollten. Richtig heftig wurde es im neuen Jahrtausend,
erinnert sich Nino Daniele. Der stattliche Mann mit dem Schnurrbart und dunklen
Anzug verantwortet heute den Bereich Kultur in der Kommunalverwaltung von
Neapel – 2005 wurde er in Ercolano zum Bürgermeister gewählt.
"Als ich
Bürgermeister wurde, tobte schon seit einiger Zeit ein Krieg unter den
Hauptclans um die Herrschaft über das Gebiet. Und besonders heftig ist es 2006
geworden. Ein blutiger Krieg, eine der blutigsten Fehden in ganz Kampanien. Denn
von 2006 bis 2009 gab es allein im Gebiet von Ercolano um die 60 Menschen, die
ermordet wurden."
Keimzelle des
Widerstands
Ein Besuch bei Raffaela Ottaviano in
ihrem Laden. Hier ist die Keimzelle des Wiederstands gegen die Camorra.
Raffaela ist eine schon etwas ältere Dame, gerade ist sie nicht besonders gut
zu Fuß. Aber hinter der weißen Brille blitzen die Augen immer noch
angriffslustig. So muss es auch vor ein paar Jahren gewesen sein, als die
Schutzgelderpresser in ihren Laden kamen:
"Im ersten Moment
habe ich gar nicht kapiert, was die von mir wollten. Dann habe ich gesagt: Ah,
ich habe verstanden, aber ich bin die Falsche. Gehen Sie sofort, auf der
Stelle! Die wollten mir sogar die Summe nennen und haben gesagt: es sind drei
Läden, was sollen wir tun? Gar nichts, sagte ich, denn ich bin an Eurem Produkt
nicht interessiert, das habe ich ihnen gesagt. Und jetzt tun Sie mir den
Gefallen und gehen hier raus!"
Drei Boutiquen hat Signora Ottaviano in
Ercolano, sie wundert sich selbst, warum die Schutzgelderpresser erst so spät
zu ihr kamen. Hier im Laden stapeln sich die Kleider bis unter die Decke. Und
neben der Chefin steht ihr sichtlich stolzer Mann. Raffaella hatte es nicht
dabei belassen, die Schutzgelderpresser aus dem Laden zu werfen, sie war richtig
in Fahrt geraten und tat etwas Unerhörtes.
"Ich habe das
nicht akzeptiert, ich bin sehr wütend geworden und habe dann Anzeige erstattet.
Darum habe ich diesen Schritt getan. Ich bin aus dem Laden und zu den
Carabinieri in Ercolano gegangen und habe Anzeige erstattet, kurz nachdem die
Männer weggegangen sind."
So etwas hatte es noch nie gegeben: eine
Anzeige gegen die Clans.
Wieder auf der Straße mit Angela
Nocerino, der Tochter des Mafia-Kronzeugen und Aktivistin. Alle haben
damals "il Pizzo", das Schutzgeld gezahlt in Ercolano, sagt
sie. Die Camorra war hier eine Art Ersatz-Staat: mit den Oberhäuptern der
Clans, die regierten, mit ihren Soldaten, die Mafia-Recht durchsetzten und mit
dem "Pizzo", den man zahlte wie eine Steuer. Dabei ging es gar nicht
mal um große Summen: die dicken Geschäfte macht die Mafia längst woanders. Es
ging um Kontrolle, denn wer zahlt, erkennt die Macht der Clans an.
"Du zahlst als
wäre das etwas ganz Normales. Der entscheidende Schritt war, den Leuten
verstehen zu geben, dass das falsch war, nicht normal, dass nirgendwo
steht, wir müssen eine Steuer zahlen, die es nicht gibt. Denn das ist ja auch
keine Steuer, in Wirklichkeit ist das keine Pflicht und zum Glück bekämpfen wir
das."
Er wollte den Verräter
sterben sehen
Weiter geht’s zum Corso Resina, Nr. 62.
Früher war das Birra-Gebiet und hier, in diesem eher unscheinbaren
Mehrfamilienhaus wohnte der Clan-Chef Giovanni Birra.
2001 trat er eines Tages hinaus auf den
kleinen Balkon, um zuzusehen, wie vor seiner Haustür Raffaele Filosa mit drei
Pistolenschüssen regelrecht hingerichtet wurde. Für Giovanni Birra war er ein
Verräter – weil er sich in die Tochter von Mario Ascione verliebt hatte, die
Tochter vom Bruder des Bosses des anderen Clans. Birra hatte den Mord in
Auftrag gegeben, das hat der Killer inzwischen gestanden. Und: er wollte den
"Verräter" sterben sehen, zuschauen wie im Theater.
In der Wohnung des Bosses machen sie
jetzt Radio. Radio Siani genauer gesagt: benannt nach
Giancarlo Siani, einem jungen Journalisten, den die Camorra 1985 in Neapel
umgebracht hatte. Weil er zu viele Fragen gestellt hat. Auf der Website von
Radio Siani gibt es unter anderem ein Archiv der unschuldigen Opfer der Mafia –
fast 400 Namen und ihre Geschichten.
Unter den Radiomachern ist auch Giuseppe
Scognamiglio:
"Die Tatsache,
dass wir in dieser beschlagnahmten Wohnung diese Art von Radio machen, ist eine
Botschaft an die Leute, die die Angst vor der Camorra noch nicht überwunden
haben. Oder auch diese Art der Camorra, aktiv zu sein, was viel zu lange Zeit
in unserer Gegend sehr präsent war und in den Köpfen der Leute, das ist schwer
zu untergraben."
Radio Siani sendet nicht nur gegen
die Camorra: Sie machen hier ein Programm für junge Leute, mit viel Musik.
Aber, sie sind auch in eine krasse Lücke gestoßen: bis 2007 sendete hier auf
der UKW-Frequenz 90,1 Radio Nuova Ercolano, auch „Radio Camorra“ genannt. Bis
es von den Behörden geschlossen wurde:
"Es war ein
regelrechter Kommunikationskanal, den die Camorra nach Belieben nutzen konnte.
Da wurden Informationen durch Lieder, Widmungen oder geheime Botschaften
ausgetauscht. Sei es nun für die Camorristi im Gefängnis, oder für die, die in
der Gegend wohnten. Zum Beispiel: „Es sind Einsatzkommandos unterwegs“, „Es
gibt Straßensperren“, „Die Carabinieri kontrollieren“. Oder: „Die Drogen sind
angekommen“, „Der Mord wurde verübt“, und so weiter…
Diese Clans haben sich
um die Kontrolle über das Gebiet gestritten. Denn das ist sicher: Es gibt keine
Camorra ohne Herrschaftsgebiet. Das ist ein angeborener Aspekt jeder
Mafia-Organisation. Jede Mafia muss Kontrolle ausüben, muss die Kontrolle über
ein Gebiet haben, muss Wurzeln schlagen oder - in Anführungszeichen - einen
eigenen Staat besitzen."
Und Nino Daniele machte sich daran, dem
richtigen Staat wieder Geltung zu verschaffen. Ganz einfach schon durch
physische Präsenz: am Anfang ging Daniele mit der Schärpe des Bürgermeisters
und mit dem Chef der Carabinieri an der Seite oft durch die engen Gassen, zu
den Einzelhändlern – um eine Botschaft zu senden: der Staat ist da.
Händler, die Anzeige erstatteten,
bekamen Steuern erlassen. Und auf den Straßen sollte wieder das Gesetz des
Staates gelten, bei ganz banalen Dingen: in vielen Mafia-Gebieten fahren
Motorradfahrer ohne Helm. Die Clans wollen wissen, wer da unterwegs ist, die
Regel ist: mit Helm fahren nur die Killer. Nino Daniele sorgte dafür, dass es
viele Straßenkontrollen gab und jedem, der keinen Helm hatte, wurde das
Motorrad eingezogen:
Ich war des Öfteren
bei diesen Kontrollen dabei, zusammen mit den Carabinieri und der Polizei, und
erinnere mich noch an einen Passanten, der sagte: "Donnerwetter Herr
Bürgermeister! Dann kommandieren Sie hier ja tatsächlich!" Damit wollte er
sagen, jetzt hat der Staat wieder die Zügel in der Hand. Wenn also diese
Botschaft ausgesendet wird, dann finden die Bürger auch den Mut sich den Clans
zu widersetzen – und die Kaufleute fangen an, Anzeigen zu erstatten.
Den Bürgern Mut
gemacht gegen die Mafia
Nino Daniele hat die Bedingungen dafür
geschaffen, dass die Bürger, die sich gewehrt hatten, nicht mehr allein da
standen – und er hat vielen Mut gemacht. Die Mafia versucht, ihre Opfer zu
einsamen Menschen zu machen. Davon kann Sofia Ciriello berichten.
Ihr Laden in der Innenstadt läuft gut –
die Leute sagen: Sofia macht das beste Brot in Ercolano. Die junge Frau war
auch ein Opfer der Clans – als die Birra und Ascione hier noch das Kommando
hatten, war Angst ihr ständiger Begleiter. Aber bis zu dem Punkt, an dem Sofia
ihren ganzen Mut zusammengenommen hat, musste viel passieren. Auch zu ihr kamen
Ende 2009 die Schutzgelderpresser. Erst nur einer, dann mehrere. Sie verlangten
die "Steuer" für Ihren Boss, der hier das Kommando habe:
"Ich fragte
zurück: „Kommando, gibt es hier irgendwen, der das Kommando hat? Ich weiß davon
nichts, ich mache Brot, ich bin eine Bäckerin.“ Als ich auf ihre Forderungen
nicht eingegangen bin, haben sie angefangen, mit Waffen in die Backstube zu
kommen. Sie drohten mir mit einer Pistole, ich dürfe das Geschäft nicht öffnen,
wenn ich das Schutzgeld nicht zahlte. Es war schlimm! Und nach 20 Tagen haben
sie dann diese Bombe geworfen…"
Zum Glück ohne, dass es Verletzte gab.
Aber für Sofia war das der Punkt, an dem sie nicht mehr weiter konnte. Auch sie
ist dann zur Polizei gegangen und hat Anzeige erstattet.
"Am selben Abend
noch bin ich zu den Carabinieri gegangen, ich habe nicht einmal nachgesehen,
wie es um die Backstube stand. Ich habe Anzeige erstattet. und seitdem geht es
mir gut. Seit dem Moment, in dem ich alles erzählt, alles herausgelassen habe,
war alles vorbei. Von dem Moment an, als ich mich den Carabinieri anvertraut
habe, ging es mir gut. Und tatsächlich: Mittwochs, am 10. November, habe ich
Anzeige erstattet und bereits am Samstag, den 14., haben sie sie
verhaftet."
Wenn man sich heute in Ercolano
umschaut, dann sieht man nichts von den Kämpfen, von dem Mut einzelner, von den
Rückschlägen. Aber 2009 war das Jahr, in dem der Kampf gegen die Camorra so
richtig Fahrt aufgenommen hat. Sophia Ciriello war nicht die einzige, die damals
Anzeige erstattet hat, 40 weitere Händler taten es ihr gleich. Es gab hunderte
Festnahmen. Damals wurde Radio Siani gegründet und auch der
Verein gegen das Schutzgeld, der den Antimafia-Kampf koordiniert.
1000 Jahre Haftstrafe
für die Clans
Seitdem gab es gleich mehrere große
Prozesse: Beim vorerst letzten haben vor kurzem rund 100 Angehörige der Clans
zusammen etwa 1000 Jahre Haftstrafen bekommen. Bei den Gerichtsterminen
versuchen die Kämpfer gegen die Camorra zusammen aufzutreten und den Clans in
die Augen zu schauen. Auch Nino Daniele versucht dann zu kommen, obwohl er
nicht mehr Bürgermeister ist:
"Wir gehen alle
zum Prozess, denn die Situation hat sich umgedreht, deshalb gibt es nicht mehr
den armen isolierten Händler, das Opfer. In vielen Vierteln herrscht der Mythos
vom Boss, das sind eigentlich Feiglinge, das mussten wir den Leuten erstmal
erklären. Wer dafür sorgt, dass du hinterrücks überfallen wirst, der ist alles
andere als ein Mythos."
Und so hat Ercolano zwar mit Dutzenden
Toten bezahlt. Aber hunderte Camorristi sitzen hinter Gitter. Auch Giovanni
Birra, der Boss, der vom Balkon seiner Wohnung dem Morden zusah, wird
wohl den Rest seines Lebens im Gefängnis sitzen. Es laufen noch weitere
Prozesse gegen ihn.
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