Gastbeitrag von Mario Fortunato
Die Mafia in Italien ist nicht mehr die dunkle Seite der Politik
und des Geschäfts, sie ist nun Teil der Politik und des Geschäfts. Nicht durch
Zufall verdient sie am Turbokapitalismus in Süditalien prächtig mit.
Blick auf das Reich der Camorra: Neapel mit dem Vesuv im Hintergrund |
Es ist nicht gesagt, dass man einen Ort besser versteht, nur
weil man dort geboren ist; vermutlich trifft eher das Gegenteil zu. In
bestimmten Fällen muss man erst richtigen Abstand finden, um zu verstehen. In
Bezug auf meine Heimat, Kalabrien, habe ich dafür vierzig Jahre gebraucht - was
zumindest eine gewisse Langsamkeit verrät.
Als ich in Kalabrien lebte, war ich noch ein Junge und neigte zu
Realitätsferne. Ich hatte nicht das geringste Interesse an dem Thema, an das
man nun in Verbindung mit meiner Heimat als Erstes denkt: an die Mafia -
hier in ihrer speziellen Variante, der 'Ndrangheta. Was ich wahrnahm, war die
bei Jung und Alt verbreitete Arbeitslosigkeit und ihre unvermeidliche
Konsequenz, die Armut. Doch wer realitätsfern ist, tendiert dazu, die Dinge
zu vereinfachen.
Zur Person
Der Schriftsteller Mario Fortunato, 56, wurde in Ciro in der Region Kalabrien geboren. Heute lebt er in Rom und in London, wo er 2002 bis 2004 das italienische Kulturinstitut leitete.
Landwirtschaft verkommt, Industrieanlagen abgerissen
So nahm ich an, die Mafia in Kalabrien
und Süditalien generell wäre, zumindest hinsichtlich ihres Ausmaßes, nichts
anderes als eine Antwort auf den Mangel an Arbeitsplätzen. Ich irrte mich. Oder
besser, ich war zu optimistisch. Und es dauerte einen guten Teil meines Lebens,
bis ich das begriff.
Aktuell liegt die Gesamtarbeitslosigkeit im Mezzogiorno Italiens
bei 27 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt
knapp 61 Prozent. Es ist unübersehbar, dass die
Landwirtschaft verkommt. Die wenigen Industrieanlagen sind abgerissen, die
Bauwirtschaft siecht vor sich hin. Der Tourismus der Region war im
Dienstleistungsbereich seit jeher unzulänglich, scheint nun auf das Minimum
reduziert zu sein - wenn es dem Süden stets an effizienter Organisation fehlte,
so war er früher wenigstens wirklich billig.
Zum Ausgleich, heißt es, könnte das kulturelle Erbe für die
örtliche Wirtschaft zu einer Art Erdöl werden. Dem würde man gerne zustimmen.
Doch inzwischen verfällt selbst Pompeji vor aller Augen, die Museen
verwahrlosen, und die historischen Zentren kleiner und mittlerer Städte
versinken unter Bergen von Müll. Hinzu kommt noch die humanitäre Katastrophe,
die verharmlosend Einwanderung genannt wird. Hunderte arme Teufel machen sich
jeden Tag auf den Weg an die Küsten Kalabriens und Siziliens.
Sie stehen vor der Wahl, sich entweder in eines der
Aufnahmelager einsperren zu lassen, oder lieber gleich im azurblauen Meer
unterzugehen, um sich so vielleicht einen Mitleids-Blumenkranz zu sichern
Ich neige dazu, die Politik als
Nebenprodukt der Geschichte zu betrachten. Es liegt an meinem Alter und an
meinem Beruf, dass ich mich mehr mit der Vergangenheit als mit Gegenwart oder
Zukunft befasse, schon deshalb, weil die Vergangenheit viel reicher erscheint.
Heute scheint es, als habe man die Geschichte im Süden Italiens abgeschafft,
als seien die letzten Spuren der Zivilisation dabei, endgültig zu verschwinden,
und das liegt auch an der Art, wie dort Politik betrieben wird.
Noch bis vor einigen Jahrzehnten stellte
die Mafia in ihren
Varianten von Camorra, 'Ndrangheta und Sacra Corona eine Form sozialer
Stabilität in Italiens Süden dar. Der Zentralstaat funktionierte schlecht und
auf widersprüchliche Weise, während die Mafia den Bedürftigen Schutz und
Hilfe bot.
Nie wurde gegen Politiker Italiens so
umfassend ermittelt
Das setzte voraus, dass der Staat - wie
schwach, unaufmerksam oder feindselig auch immer - als Gegenüber gesehen wurde.
So konnten die kriminellen Organisationen ein zu diesem Staat paralleles Netz
von Beziehungen knüpfen, das auf soliden kapitalistischen Prinzipien beruhte.
Der Mafia war es erlaubt, Profite zu erwirtschaften, solange sie als
Gegenleistung für den sozialen Frieden in der Region sorgte.
Dieses Schema, das in den
Nachkriegsjahrzehnten in einem Politiker wie Giulio Andreotti von der
Democrazia Cristiana seinen weitsichtigsten Vertreter fand, scheint heute
ausgedient zu haben. Noch nie wurde gegen die politische Klasse Süditaliens so
umfassend ermittelt wie in unseren Tagen.
Vor zwei Jahren erst hat die Regierung
in Rom den Stadtrat von Reggio Calabria aufgelöst, der größten Stadt Kalabriens
- zu schwer wog der Verdacht, dass zahlreiche Parlamentarier eng mit der Mafia
verbunden waren. Selbst im Norden, in der Lombardei, hat die 'Ndrangheta ihre Agenten
in der Politik. Noch nie standen Teile der italienischen Politik der
organisierten Kriminalität so nahe.
Ich sage "nahestehen" - obwohl
der Begriff ein ungenauer Ausdruck ist. Der Begriff des Nahestehens kommt nicht
ohne Unterscheidung aus. Man mag sich - wenn man "nahestehen" als
räumliche Nachbarschaft versteht, den Gouverneur einer süditalienischen Region
vorstellen, der mit einem Mafioso dieselbe Zelle teilt. Oder eben den Mafioso
und den Gouverneur, die auf verschiedenen Wegen gleiche Ziele verfolgen.
In Wirklichkeit aber, das zeigen die abscheulichen
Schlagzeilen der vergangenen zehn Jahre, sind der Mafioso und der Politiker in
Kalabrien inzwischen miteinander identisch. Die Mafia kann mittlerweile auf
eine institutionelle Repräsentation verzichten. Sie ist ja jetzt selber die
Institution. Sie ist die einzige Institution auf dem Markt, die von allen
gleichermaßen anerkannt wird, sei es im Inhalt, sei es in der Form.
Derart anerkannt, dass sogar die Kirche
gezwungen war, ihr - wenn es um die Mafia geht - über Jahrzehnte dauerndes
Schweigen zu brechen: Papst Franziskus hat die Mafiosi für exkommuniziert
erklärt. Doch noch immer führt manche Marienprozession am Haus des örtlichen
Mafiabosses vorbei, um ihm die Ehre zu erweisen.
Die Politik hat ihren Ruf verspielt
Und so ist auch die Politik nicht mehr
die alte. Sie ist darin gescheitert, Kalabrien gut zu regieren, die Region zu
entwickeln, die Korruption zu bekämpfen. Sie hat nun ihren Ruf gänzlich
verspielt, indem sie Städte und Regionen unmittelbar in Namen und Interesse der
einzigen verbliebenen Macht, nämlich der Mafia, regiert. Nur so lassen sich die
beständigen Skandale verstehen, die Italien heimsuchen.
Die Mafia ist nicht mehr die andere,
dunkle Seite der Politik und des Geschäfts, sie ist Teil der Politik und des
Geschäfts. Die zwanzig Jahre unter Berlusconi mit ihrer Vermischung von
Staatsangelegenheiten und privaten Geschäften dürften dabei eine tragende Rolle
gespielt haben. Und nicht aus Zufall ist die Mafia auch Teil des
Turbokapitalismus, der die Region heimsucht.
Die 'Ndrangheta ist führend im
weltweiten Drogengeschäft - der Hafen von Gioia Tauro ist ihr wichtigster
Umschlagplatz. Sie handelt mit Waffen und Menschen, betreibt illegale
Müllhalden und wäscht Geld. Sie ist in der Bauwirtschaft und im
Gesundheitswesen angekommen. Sie ist ein großes Unternehmen, mit angeblich 53
Milliarden Euro Umsatz im Jahr.
Hafen von Gioia Tauro |
Nur so versteht man den
Turbokapitalismus, der im Mezzogiorno triumphiert. Denn was sonst ist die
Schattenwirtschaft der Mafia, wenn nicht eine okkulte Form dieses
überdrehten Kapitalismus...
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