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Brescello ist ein 5000-Seelendorf am Po, dem großen Strom in
Norditalien. Kein Mensch würde den Ort kennen, wenn ihn nicht Don Camillo und
Peppone vor mehr als einem halben Jahrhundert auf die Kinoleinwand gebracht
hätten. Der schrullige Dorfpfarrer und der kommunistische Bürgermeister
stritten um Streiks und Strafen für Hühnerdiebe, um Marx und den lieben Gott.
Ihr Nachkriegsitalien war bäuerlich und bettelarm, aber moralisch lupenrein –
und es gab immer ein Happy End.
Heute stehen Don Camillo
und Peppone friedlich in Bronze gegossen an der Piazza im Ortskern von
Brescello. Eintracht herrscht auch bei ihren Nachfolgern, Bürgermeister
Marcello Coffrini und Pfarrer Don Evando Gherardi, doch ein gutes Ende ist
nicht in Sicht. Vor allem seit neulich der junge Reporter Elia Minari in den
Ort kam, der eine sehr unbequeme Frage stellte: Ist in Brescello heute die
Mafia zuhause?
Ach wo, das sei nichts
als eine Erfindung der Medien, sagte der "rote" Bürgermeister.
"In Brescello gibt es die Mafia nicht!" Auch Pfarrer Don Evando
Gherardi rief das von der Kanzel. Die Absolution ging an die Adresse des
"anständigen Mitbürgers" Francesco Grande Aracri, 59, den
Bürgermeister Coffrini als Mann mit "guten Manieren und bescheidener
Lebensart" lobte.
Italiens Justiz sieht das anders. Francesco Grande Aracri hat
eine mehrjährige Haftstrafe für Mafiaverbrechen abgesessen und lebt nach wie
vor unter polizeilicher Aufsicht, weil er als "Statthalter" des Clans
Grande Aracri aus Kalabrien gilt. Sein Bruder ist Clanchef Nicolo, der seit
Jahren hinter Gittern sitzt.
Als Minari das Interview
in seiner Reportage "Die 'Ndrangheta vor unserer Tür" im Internet
veröffentlichte, ging der Fall Brescello landesweit durch die Schlagzeilen: Man
konnte sehen, wie Wachposten das Reporterteam kontrollierten, wie der
Bürgermeister mit seinem Mitbürger Francesco Grande Aracri vor der laufenden
Kamera spazierte – Szenen, die man bisher nur aus dem tiefen Süden kannte.
Als die Partei daraufhin
Coffrinis Rücktritt forderte, gingen hunderte Bürger spontan auf die Straße,
aber aus Solidarität mit ihrem Bürgermeister. Unter ihnen waren auch der Sohn
von Francesco Grande Aracri, Salvatore, und andere Verwandte. Männer in der Bar
"Peppone" protestierten: "In Brescello gibt es die Mafia
nicht!" Dabei ist die Mafia in Brescello schon lange sichtbar: Im Jahr
2007 bestätigte die nationale Antimafia-Staatsanwaltschaft DNA, eine
"verbreitete Ansiedlung von Zugehörigen des Clans Grande Aracri" in
der Gegend. Einen ersten Mafia-Mord gab es bereits 1992 – ausgerechnet in
Brescello.
Grande Aracri ist einer der vier großen 'Ndrangheta-Familien aus
Kalabrien, der Region ganz unten in der italienischen Stiefelspitze. Die
'Ndrangheta hat die sizilianische Cosa Nostra und die Camorra aus Neapel
überrundet und gehört mittlerweile zu den mächtigsten Mafia-Gruppen weltweit.
In den Norden kamen Angehörige des Clans, darunter auch Francesco, vor 30
Jahren als Gastarbeiter. Der Clan habe in der Emilia-Romagna das "Kommando
übernommen" und verseuche die Wirtschaft unaufhaltsam, warnte jetzt der
Vize-Chef der DNA, Roberto Pennisi – nur guckten die Leute eben "leider
oft weg".
Dank Bürgermeister
Coffrini wurde das kleine Brescello, Sinnbild harmloser Komödien, in diesen
Tagen zum tragischen Fallbeispiel für den schleichenden Vormarsch der Mafia in
den Norden. Das ist zwar nicht neu, sorgt aber ausgerechnet hier in der
Emilia-Romagna, der Vorzeigeregion ganz Italiens, für Wirbel: Wo
Wirtschaftswunder und Wohlstand im Gleichschritt mit sozialen Errungenschaften
gewachsen waren und man sich Bayern und Baden-Württemberg näher fühlte als
Sizilien oder Apulien.
Erschreckende Daten lieferte auch ein Bericht der
parlamentarischen Antimafia-Kommission. Das Ergebnis: Die Mafia der
sizilianischen Cosa Nostra, der Camorra aus Neapel und der 'Ndrangheta herrscht
mittlerweile fast flächendeckend in der Lombardei, Venetien, Ligurien, im
Piemont, in Südtirol und dem kleinen Aosta-Tal am Alpenrand. Mailand gilt
inzwischen als vierte "Provinz" der 'Ndrangheta.
In den
Industriemetropolen werden Einkünfte aus dem klassischen Mafia-Business –
Drogen-und Waffenhandel, illegale Giftmüllverklappung und Erpressung – an der
Börse reingewaschen, etwa 50.000 Finanztransaktionen gelten als suspekt.
Hunderte von der Mafia geleitete oder infiltrierte Unternehmen wurden
konfisziert. Die Wirtschaftskrise, aber auch eine verbreitete
Korruptionsbereitschaft in der Politik, machten es der Mafia leicht, sagte der
Vize-Präsident der Antimafia-Kommission, Claudio Fava, der "Welt".
"Die Clans kommen ja nicht in den Norden, um Geld zu verdienen. Sie
bringen es mit, wollen es ausgeben und investieren."
'Ndrangheta setzt
jährlich mehr als 50 Milliarden Euro um
Und die 'Ndrangheta hat genug davon: Sie
setzt nach Schätzungen jährlich mehr als 50 Milliarden Euro um. Damit kann sie
nicht nur Konkurse abwenden, sondern auch ehrgeizige Politiker kaufen: Im
vergangenen Jahr wurde die Gemeindeverwaltung von Sedriano bei Mailand wegen
Mafiainfiltration aufgelöst. Es seien "gerade die kleinen Gemeinden
betroffen, wo die geografische Kontrolle einfacher ist", heißt es in dem
Bericht der Antimafia-Kommission. "Dort wo die Verwaltung leichter
beeinflusst werden kann, wenn es um die Vergabe von Aufträgen, etwa im
Bausektor, geht."
Die Mafia konnte, dank Familienbanden und der typischen Treue
der Menschen aus dem Süden zur eigenen Heimat, "ein solides Netz
schaffen".
Das gilt auch für Einwohner aus Cutro, einem ärmlichen Flecken
in Kalabrien 1000 Kilometer weiter südlich am Ionischen Meer. Tausende kamen in
die Gegend um Parma, Modena und Reggio Emilia, berühmt für Schinken und
Parmesankäse. In Brescello sind es so viele, dass ein Ortsteil des Dorfes sogar
Cutrello heißt. Viele waren Maurer; mit ehrlicher und harter Arbeit bauten sie
am Wirtschaftswunder mit.
Manch einer der
Zuwanderer aus dem Süden des Landes brachte es zu einem eigenen Bauunternehmen,
so wie Francesco Grande Aracri. Das Gewerbe boomte, und es wurde auch gebaut.
Heute stehen in der Kleinstadt Reggio Emilia mehr als 10.000 Wohnungen leer.
Die Brüder Sarconi aus
Kalabrien schafften es, in Reggio Emilio zu einem der größten Bauunternehmen
Italiens heranzuwachsen. Sie errichteten Autobahnen, Brücken und
Hochgeschwindigkeits-Strecken im ganzen Land. Doch jetzt wurden die Reichtümer
der vier Brüder beschlagnahmt, denn sie stehen im Verdacht, einer
Mafia-Organisation aus ihrer Heimat im Süden anzugehören: der mächtigen Familie
Grande Aracri aus Cutro, die auch im kleinen Brescello, der Heimat von Don
Camillo und Peppone, jeder kennt.
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