Die Mafia von innen - ein Gespräch mit dem Psychologieprofessor Girolamo
Lo Verso
Girolamo Lo Verso ist Ordinarius für Psychotherapie an der Universität
Palermo und stand uns netterweise während unserer Exkursion einige Stunden lang
Frage und Antwort. Nach einer freundlichen Begrüßung, führte uns Signore Lo
Verso in einen Konferenzraum der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät, wo wir
uns alle an einem ovalen Tisch versammelten. Professor Lo Verso gab uns eine
Einführung in seine Arbeit mit Mafiaangehörigen und sogenannter „pentiti“,
immer wieder unterbrochen von Fragen unsererseits.
Lo Verso begann sich vor etwa 15 Jahren – konkret nach den großen
Richterattentaten im Jahre 1992 auf Giovanni Falcone und Paolo Borsellino – mit
der Frage nach der mafiosen Psyche zu beschäftigen. Der Anlass war mehr oder
weniger ein Zufall: Viele seiner ehemaligen Studenten und Studentinnen
arbeiteten in Einrichtungen des Gesundheitsdienstes, etwa in der Psychiatrie,
und wurden nun erstmals mit außergewöhnlichen Patienten konfrontiert: Immer
häufiger kamen Ehefrauen und Kinder von im Gefängnis einsitzenden oder
ermordeten Mafiosi in Behandlung und suchten aufgrund schwerwiegender
psychischer Probleme professionelle Hilfe nach.
Die zahlreichen Verhaftungen in Folge der Attentate von 1992 hatten
innerhalb der Mafia zu einem enormen Druck geführt. Gerade die
Familienangehörigen litten unter dem Verlust ihres Familienoberhauptes, aber
auch der negativen Resonanz in der Bevölkerung auf die Attentate. Auf diese Weise
setzte dann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Mafia
auch seitens der Psychologie ein.
Auf die Frage nach dem methodischen Vorgehen erklärte der
Psychologieprofessor, Informationen direkt aus der Welt der Mafia seien
aufgrund des in der Organisation geltenden omerta-Gesetzes (=Schweigegesetz)
nicht zu erhalten. Man habe mit Familienangehörigen gearbeitet, aber auch mit
im Gefängnis einsitzenden Mafiaaussteigern – zumindest bis die Regierung
Berlusconi den Psychologen die Erlaubnis zu Gesprächen mit pentiti
(=Reumütigen) entzog. Außerdem arbeite man auch mit Geschäftsleuten und
Unternehmern, welche kein Schutzgeld (mehr) bezahlen wollten; weiter mit
Polizisten, Staatsanwälten und Richtern.
Ferner werden an seinem Lehrstuhl Diplomarbeiten zu verschiedenen Aspekten
des Phänomens der Mafia angefertigt. Viele Studenten und Studentinnen kennen
aus ihrem persönlichen Umkreis insofern der Mafia nahe stehende Personen, als
sie mit ihnen zusammen aufgewachsen sind. Dies erleichtert in jedem Fall den
Vertrauenserwerb und damit den methodischen Zugang zum Feld. Auf diese Weise
gelang also die Erforschung der Mafia „von innen heraus“, aus klinischer
Perspektive betrachtet. Die harte Reaktion des Staates nach den
Richterattentaten von 1992 löste, so Lo Verso, eine Art „psychologischer
Revolution“ aus: Viele ehemalige Mafiosi und deren Angehörigen begannen
erstmals zu reden, und zwar ohne dass sie daraufhin sofort umgebracht worden
wären. Dies wäre früher unvorstellbar gewesen, da die Mafia als absolut
omnipotent galt. Lo Verso verglich die Mafia mit einem „Staat im Staat“, da sie
über Eigenschaften verfüge, welche eigentlich einen Staat auszeichneten, so
etwa ein eigenes Heer, eine eigene Steuererhebung und schließlich eigene
Gesetze. Dieser Meinung war auch Falcone, welcher sagte, der Kampf sei erst
dann gewonnen, wenn die Mafia zu einer normalen Kriminellenorganisation
herabsinken würde – vergleichbar mit der Camorra in Neapel.
Lo Verso verglich die großen
süditalienischen Mafiagruppierungen in bezug auf ihre aktuelle Macht: Danach
agiert seiner Meinung nach heute die in Kalabrien vorfindbare ’Ndrangheta nach
wie vor relativ unangefochten als „Staat im Staate“, die sizilianische Cosa
Nostra hat Machtverluste hinnehmen müssen und die kampanische Camorra gleicht
fast einer normalen Kriminellenorganisation.
Sehr großen Raum innerhalb unseres Gesprächs mit Professor Lo Verso nahm
die Frage nach der Herausbildung der mafiosen Psyche, und damit der mafiosen
Sozialisation, ein. Am Anfang der Debatte stand zunächst die Definition eines
„Mafioso“. Lo Verso erklärte, er beziehe sich auf die sog. pungiuti (=
Gestochene), also auf diejenigen Personen, welche mittels des althergebrachten
Initiationsrituals in eine der zahlreichen mafiosen Banden aufgenommen worden
sind. Damit schließt er die zahlreichen Hintermänner der Mafia in der „besseren
Gesellschaft“ aus. Die Zahl dieser pungiuti wird gegenwärtig auf ca. 5000
geschätzt. Dabei sei allerdings zu beachten, dass die Zahl der Helfershelfer
und der Unterstützer der Mafia ungefähr zehnmal so hoch sei.
Die überwältigende Mehrheit der Mafiosi nehme das mafiose Erbe nicht erst
mit der Muttermilch auf, sondern werde bereits 100 Jahre vor der Geburt zum
Mafioso gemacht. Damit wollte Lo Verso ausdrücken, dass Mafiosi üblicherweise
Familien entstammen, in denen bereits der Vater, Großvater, Urgroßvater usw.
Mafiosi waren. Von Geburt an werden die zukünftigen Kriminellen dann bereits
wie zukünftige Mafiosi behandelt – auch und gerade seitens der Mütter. Den
Kindern werden traditionelle sizilianische Werte wie Verschwiegenheit,
Familientreue, Ehrbewusstsein und noch viele weitere – zumindest im
sizilianischen Sinn als positiv einzuschätzende -Werte anerzogen, welche die
Mafia zum Schutze ihrer eigenen Subkultur instrumentalisiert hat.
Entwickelt sich der Junge wunschgemäß, d. h. er ist schweigsam, lässt sich
nichts von anderen gefallen, verhält er sich kaltblütig und hat nie Angst,
weist keine homosexuellen Tendenzen auf (Homosexuelle gelten in der Cosa Nostra
als nicht vertrauenswürdig) usw., dann wird er – häufig von einem Onkel –
allmählich an die Organisation herangeführt. Dies geschieht bereits in einem
Alter von etwa neun bis zehn Jahren. Der Onkel führt dann regelmäßig Gespräche
mit dem Jungen, erklärt ihm allmählich einige der wichtigsten Verhaltensregeln
der Mafia.
Lo Verso betonte, dass sehr häufig die Onkel eine sehr wichtige Rolle bei
der Erziehung der zukünftigen Mafiosi spielen.
Dieser stelle die Jungen mit Anweisungen wie etwa: „Nimm diesen Stock und
schlag das Kind damit!“ auf die Probe. Die Gewaltbereitschaft der angehenden
„Ehrenmänner“ werde mit zunehmendem Alter gesteigert, etwa in dem man dem
Jungen eine Waffe gebe und ihn einen Hund oder ein Pferd erschießen lasse.
Später nehme man den Jugendlichen dann zu einem Mord mit, lasse ihn zunächst
nur zusehen, später dann selbst auch auf die Leiche schießen und schließlich
dann selbst den ersten eigenen Mord begehen. Irgendwann wird der junge Mann
dann rituell in die Cosa Nostra aufgenommen und hat fortan die Möglichkeit,
innerhalb der hierarchisch und patriarchalisch strukturierten Organisation
aufzusteigen.
Gute Chancen haben dabei solche Mafiosi, welche über den Ruf eines „guten
Killers“ verfügen. Zu guten Killern entwickeln sie sich fast zwangsläufig dank
ihrer besonderen Sozialisation. Sie werden zu einer Art „Gefühlsroboter“
erzogen, welchen ihre Gewalttaten weder ein schlechtes Gewissen noch Albträume
verursachen. Die mafiose Sozialisation schaltet, so Lo Verso, jegliche
Individualität vollkommen aus. Stattdessen entwickeln die Mafiosi im Verlaufe
ihrer Erziehung eine kollektive Identität, eine Wir-Identität. Sie
identifizieren sich vollständig mit dem mafiosen Universum und sind als
Persönlichkeiten nicht mehr existent.
Lo Verso bezeichnet die Mafia als eine Art „Fundamentalismus“, vergleichbar
mit dem Faschismus oder islamischen Fundamentalismus, in dem es ebenfalls
keinen Platz für Individualität gebe. Da das Kollektiv im Mittelpunkt stehe,
sehe sich der Mafioso keinesfalls als Verbrecher, sondern als Beschützer seiner
(mafiosen) „Familie“, mit dem Recht und der Pflicht, diese zu beschützen und
ihre Rechte durchzusetzen. Diese unbedingte Überzeugung lässt den Mafioso
tatsächlich zu einem „Roboter“ werden, einem kleinen „Rädchen im Kollektiv“,
welches unhinterfragt und ohne schlechtes Gewissen alle ihm aufgetragenen
Befehle ausführt. Die pathologische „Mafiafamilie“ lässt keinerlei Autonomie
ihrer Mitglieder zu.
Ein Mafioso hat tatsächlich keine Angst, außer vor anderen Mafiosi. Diese
Angst, das berechtigte Misstrauen gegenüber den „Kollegen“ und die darin sich
widerspiegelnde Paranoia veranschaulicht folgendes Sprichwort: „Der Tod steht
immer hinter der Tür“. Gegenüber der nicht-mafiosen Außenwelt aber gibt es
keine Angst: Sogar noch bei der Verhaftung bewahrt ein Mafioso die Ruhe und
zittert auch nicht. Erst wenn er längere Zeit von seiner gewohnten Umgebung –
von der Herkunftsfamilie und von seinen Mafiafreunden – getrennt ist bzw. wenn
er sich im Stich gelassen fühlt, kann seine mafiose Identität zu wanken beginnen.
Dies umso mehr, falls allmählich ein anderes moralisches System an Relevanz zu
gewinnen beginnt. In diesem Fall kann es vorkommen, dass der Mafioso in eine
schwere Identitätskrise gerät, dass seine bisherige Mafiaidentität „zerplatzt“
und somit ein Vakuum entsteht, in dem sich dann auch häufig Schuldgefühle
einnisten können.
Jedoch sei die Faszination, welche von dem Mythos der Mafia ausgehe,
teilweise immer noch ungebrochen. Die Existenz dieses Mythos schreibt Lo Verso
dem „unternehmereigenen Pressebüro“ der Cosa Nostra zu, welche besagte Mythen
perfekt verkaufe. Zu diesen Mythen gehört die Vorstellung, es habe einst eine
„gute Mafia“, also mit ehrenhaften Absichten, gegeben. Von dieser Vorstellung
hält der Psychologe wenig. Die Mafia sei nie gut gewesen und habe immer – mit
allen Mitteln – nach Macht gestrebt. Macht ist für die Mafia ein zentrales
Handlungsmotiv, was bis hin zur Aufgabe von Sexualität führe. Dabei nennt er
das alte sizilianische Sprichwort: „Kommandieren ist besser als ficken“.
Gemäß Lo Versos Untersuchungen leben Mafiosi – und auch deren Frauen – ihre
Sexualität nicht wirklich aus, da in der mafiosen Welt für Gefühle kein Platz
ist. Nicht selten dauert dementsprechend der Geschlechtsakt bei Mafiosi nicht
länger als fünfzehn Sekunden. Aus einer auf diese Weise praktizierten
Sexualität können natürlich vor allem Frauen keine Befriedigung ziehen. Sie
beklagen sich aber nicht, schließlich verleiht ihnen die Tatsache, Frau eines
Mafioso zu sein, Respekt und eine hohe gesellschaftliche Stellung in ihrer
Umgebung. Auch die Männlichkeit des Mafioso leidet nicht, da sich diese
schließlich in erster Linie durch den Umgang mit der Pistole begründet.
Professor Lo Verso wurde dann von unserer Seite gefragt, ob und wie man
einen Mafioso erkennen könne. Er erklärte, dies sei durchaus möglich und gab
auch eine kleine pantomimische Demonstration. Laut Lo Verso existiert ein
typisch mafioses Auftreten, welches sich in einer bestimmten Sprache, Mimik und
Gestik äußert. Selbstverständlich können auch Nicht-Mafiosi mafios auftreten,
während manche ranghohen Mafiosi von einem derartigen Verhalten aber bewusst
Abstand nehmen. Üblicherweise sind es die „Kleinmafiosi“, also die Killer und
Handlanger, welche ein solches Auftreten an den Tag legen.
Der Psychologieprofessor erzählte, dass nicht selten in
Hochsicherheitsgefängnissen einsitzende Mafiosi keinerlei Probleme hätten,
Botschaften mit Hilfe von Gesten oder sprachlichen Codes an ihre Besucher so
weiterzugeben, ohne dass das Gefängnispersonal dies merken würde. Wenn
beispielsweise eine Häftling seiner Frau während der Besuchsstunde sagen würde:
„Mein Cousin Pippo macht sich immer viel zu viel Arbeit. Wie ärgerlich“ , dann
könne dies – verbunden mit den richtigen Gesten – Pippos Todesurteil sein.
Auf unsere nächste Frage, ob er wegen seiner Arbeit seitens der Mafia schon
einmal bedroht wurde, antwortete er mit „nein“ und begründete dies damit, dass
der Mafia die wissenschaftliche Arbeit egal sei. Angst habe er nur einmal
gehabt, und zwar als er öffentlich sagte, dass Mafiosi keine „echten Männer“
seien, sondern Roboter.
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