Im besten Fall sind sie wirkungslos, im schlimmsten tödlich:
Gefälschte Medikamente sind für Patienten hochgefährlich. Verbrecher aus
Italien sollen sie massenhaft verkaufen – auch in Deutschland.
Eine hoch organisierte, mafiöse Verbrecherbande schleust nach
Erkenntnissen italienischer Fahnder im großen Stil gestohlene und gefälschte
Krebsmedikamente aus Italien nach Westeuropa.
Diese neue Erkenntnis
versetzt Apotheker und andere Pharmaexperten in Alarmbereitschaft. Gefälschte
oder manipulierte Medikamente schmälern die Umsätze von Arzneimittelherstellern
und sind häufig wirkungslos oder sogar tödlich.
Die Europäische
Arzneimittel-Agentur warnte Mitte April, dass in Italien gestohlene Fläschchen
mit dem Krebsmedikament Herceptin des Schweizer Roche Konzerns in ganz Europa aufgetaucht sind.
Zudem seien auch einige Chargen der Medikamente Alimta und
Remicade des Produzenten Eli Lilly gestohlen
worden, teilte die Agentur später mit. Diese beiden Arzneimittel werden von Johnson & Johnson sowie Merck vermarktet.
Camorra und Banden aus
Osteuropa aktiv
Roche, J&J und Lilly teilten diese
Woche mit, dass sie mit den Gesundheitsbehörden und den Strafverfolgern
zusammenarbeiteten, um die Quelle der gefälschten oder abgezweigten
Arzneimittel zu bestimmen. J&J kooperiert nach eigenen Angaben in der Sache
auch mit Merck.
Wie der Top-Ermittler der
italienischen Pharmaaufsicht Agenzia Italiana del Farmaco, Domenico Di Giorgio,
nun offenbarte, sind die jüngsten Funde keine Einzelfälle. Vielmehr hätte eine
Untersuchung ergeben, dass sie das Werk hochgradig organisierter
Verbrechernetzwerke sind.
Zu dem Verbrecherring scheinen auch die Camorra – eine mafiöse
italienische Verbrecherbande, die von Neapel aus agiert – sowie Banden aus
Osteuropa zu gehören, darunter russische Staatsangehörige in Zypern. Das
berichten Personen, die sich mit den Ermittlungen auskennen. Wie ein Vertreter eines
Pharmakonzerns berichtet, verschwänden jeden Monat durchschnittlich fünf
Ladungen mit Produkten des Unternehmens in Italien. Die Fahrer der Lieferwagen
brächten dafür undurchsichtige Erklärungen vor, sagt er.
"Organisiertes
Verbrechen ist auf jeden Fall beteiligt. Es gibt eine zentrale Struktur, die
offensichtlich in Italien sitzt und die Arzneimitteldiebstähle aus
Krankenhäusern in Auftrag gibt", sagte Di Giorgio auf Anfrage des
"Wall Street Journals". Seine Behörde koordiniert die Ermittlungen,
an denen auch Betrugsbekämpfer von der italienischen Polizeieinheit Nuclei
Antisofisticazioni e Sanità Carabinieri beteiligt sind.
Nach Angaben einer mit
der Untersuchung vertrauten Person wurden die Medikamente in Italien aus
Krankenhäusern oder Lieferantenlastwagen gestohlen und an einen registrierten
italienischen Großhändler überführt.
Dieser Großhändler habe Quittungen für
die Medikamente von falschen Großhändlern erhalten, die ihren Sitz in Ungarn,
Rumänien und Lettland hätten, sagt die informierte Person. Von Italien aus
seien die Medikamente dann in andere europäische Länder verkauft worden.
Jeden Monat
verschwinden fünf Ladungen
Wie ein Vertreter eines Pharmakonzerns
berichtet, verschwinden in Italien jeden Monat durchschnittlich fünf Ladungen
mit Produkten des Unternehmens. Die Fahrer der Lieferwagen brächten dafür
undurchsichtige Erklärungen hervor, sagt er.
Der Diebstahl von Krebsmedikamenten kann
ein lukratives Geschäft sein. In Großbritannien kostet ein Fläschchen Herceptin
in der Größe der gestohlenen Ampullen rund 400 britische Pfund (rund 487 Euro).
Wird der Flascheninhalt verdünnt oder sein Wirkstoff entfernt und durch ein
billigeres Antibiotikum ersetzt, lässt sich die so gewonnene Originalarznei
teuer weiterverkaufen.
Roche fand tatsächlich ein Fläschchen
des gestohlenen Medikaments Herceptin, in dem der eigentliche Wirkstoff durch
ein Antibiotikum ersetzt worden war.
Nach Angaben der britischen
Aufsichtsbehörde Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency gibt es
noch keine Anhaltspunkte dafür, dass gefälschtes Herceptin in Krankenhäuser
oder in die Hände von Patienten gelangt sei. Krankenhäuser in Großbritannien
würden nur direkt von Roche beliefert. Jegliches gefälschtes Herceptin, das in
Großbritannien aufgetaucht sei, sei insofern vermutlich für den Weiterverkauf
in Europa bestimmt, sagt eine mit der Lage vertraute Person.
Während der illegale Handel mit
gefälschten und abgezweigten Krebsmedikamenten in Afrika und im nahen Osten
schon lange blüht, ist er im Westen erst seit zwei Jahren öffentlich bekannt.
Damals fanden Ärzte in den USA gefälschte Ampullen des
Roche-Blockbuster-Medikaments Avastin. Das gleiche gilt übrigens auch für das Potenzmuttel Viagra.
Parallelvertrieb gerät
ins Zwielicht
Regierungsvertretern gelang es nach
eigenen Angaben, den Großteil der Arzneimittelfälschungen einem türkischen
Unternehmen zuzuordnen. Diesem Unternehmen werfen sie auch vor, abgezweigte
Medikamente zu verkaufen. Das türkische Unternehmen streitet jegliches
Fehlverhalten ab.
Mit dem Fund gefälschter und
abgezweigter Krebsmedikamente in den USA und nun auch in Europa geraten
Großhändler ins Zwielicht, die dem sogenannten Parallelvertrieb zugerechnet
werden.
Solche Vertriebsfirmen kaufen
Medikamente von den Originalherstellern in einem Land, in dem sie billig zu
haben sind, und verkaufen sie mit neuem Etikett in Ländern weiter, in denen
diese Medikamente teurer wären. Auf diese Art sparen Regierungen und
Krankenkassen Geld, die Vertriebsfirmen hingegen machen Gewinn.
Der Parallelvertrieb macht auf dem Gesamtmarkt für
Krebsmedikamente zwar nur einen relativ geringen Anteil aus. Nach Angaben von
Branchenvertretern und Ermittlern stammen jedoch die meisten gefälschten oder
minderwertigen Arzneimittel auf der westlichen Erdhalbkugel aus diesen
Vertriebskanälen.
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