Es war noch hell hier oben in Neapels Stadtteil
Scampia, Menschen waren unterwegs oder starrten aus den Fenstern auf die
verblutende Gestalt. Keiner rief die Polizei: Luigi, genannt Gigino, kannten
hier alle. Er war der Camorra-Chef im Viertel, ein mächtiger, schwerreicher
Junge und eines der ersten Opfer im blutigsten Bandenkrieg der neapolitanischen
Mafia seit Jahren. Im wahnwitzigen Verteilungskampf um den Drogenmarkt vergeht
seit zwei Monaten kaum ein Tag, ohne dass Menschen eiskalt exekutiert und
Häuser wie Läden in Brand gesteckt werden. Knapp 30 Menschenleben forderte die
Fehde bisher, insgesamt gehen 120 Morde in diesem Jahr auf das Konto der
Camorra-Clans. So viele wie schon lange nicht.
Luigi
Aliberti starb am Nachmittag des 29. September, dem Tag des Heiligen Michael,
Schutzpatron der italienischen Polizei. Er hatte seinen Ferrari abgestellt und
gerade die Via Ghisleri überquert, als aus einem vorbeifahrenden Auto zwei
Schüsse auf ihn abgefeuert wurden. Sie trafen den 30-Jährigen mitten ins
markante Gesicht. Auch
Enrico kannte den Toten.
Es
gab Wochen, da ließ ihn Gigino jeden zweiten Tag in seine Wohnung ein Stockwerk
tiefer rufen. Er sollte neuen Stoff testen, bevor der verkauft wurde. Die
beiden waren Freunde seit Kindertagen, gemeinsam aufgewachsen im Elend des
heruntergekommenen Wohnblocks, den sie hier "Vela" nennen, weil er
von weitem einem Schiffssegel ähnelt. Drei dieser Betonburgen aus den 70er
Jahren gibt es in Scampia an Neapels nördlicher Peripherie. Sie stehen direkt
hintereinander und unterscheiden sich nur durch ihren abgeblätterten Anstrich:
Vela Rossa, die rote, Vela Gialla, die gelbe, Vela Celeste, die himmelblaue.
Etwa
tausend Menschen vegetieren in jedem dieser abbruchreifen Silos, von denen es
so viele gibt in Scampia mit seinen 30- bis 40 000 Einwohnern. Niemand kennt
ihre genaue Zahl, denn gemeldet ist hier fast keiner. Miete an die Stadt zahlen
die wenigsten. Die Frauen hier bekommen oft ein halbes Dutzend Kinder, das
Erste schon mit 15. Viele sind Analphabeten.
An
den wie Knäste vergitterten Schulen sind die Lehrer froh, wenn wenigstens 50
Prozent der Schulpflichtigen zum Unterricht erscheinen - und sie selbst noch
den letzten Bus um 14 Uhr kriegen, der sie raus aus dem Slum ins halbwegs
sichere Zentrum zurückbringt. Scampia ist No-go-Area. Ein einziger, riesiger
Supermarkt für Drogen aller Art, ein unheilbares Geschwür, das Italiens
drittgrößte Metropole zu einem Medellin Europas degradiert.
In Scampia hat nicht mal jeder vierte Jugendliche einen regulären Job. Der größte
Arbeitgeber ist die Camorra: Kaum ein Wohnsilo, in dem nicht 30 bis 40 Familien
für sie das Drogengeschäft betreiben. Väter, die den Stoff nach den Vorgaben
des Block-Capos verschneiden. Mütter und Töchter, die ihn portionieren und
abpacken. Söhne, die den Stoff im eigenen Haus vertreiben oder vor den mit
Stahltoren gesicherten Hauseingängen Wache stehen. Man kann ihre Warnschreie im
ganzen Viertel hören: "Maria!" ist der Code für "Achtung,
Bullen!", "Es regnet!" für das Auftauchen von Unbekannten, die
gefürchteter sind als die Polizei: Es könnten Killer eines Rivalen-Clans sein.
Auch
Enrico und Gigino dealten im Schichtdienst auf den versifften Korridoren im
untersten Stockwerk der Vela Gialla, Heroin in druckfertigen Portionstütchen zu
15 Euro oder zu erbsengroßen Kugeln gepresstes Heroinderivat zum Rauchen auf
Staniol, 10 Euro pro Stück für eine neapolitanische Spezialität, die Cobret
heißt, "weil das Zeug wie der Biss einer Kobra in dein Hirn fährt".
Enrico war sich selbst ein guter Kunde, mit 15 schon auf Droge, erst mit Soda
aufgekochte Kokainbase zum Schnüffeln, später die Spritze. "La roba",
der Stoff, "hier wächst du mit ihm auf. Er ist bei uns so reichlich zu
haben wie Elend und Angst."
Irgendwann Mitte der 90er Jahre hatte ihn Gigino abgehängt. Der muskelbepackte Junge,
1,85 Meter groß, kommandierte damals die Vela Gialla, wurde lokaler Statthalter
im Herrschaftssystem von Oberboss Paolo Di Lauro. Luigi und Enrico waren damals
20, der eine Aufsteiger, der andere schon am Abgrund. Anders als Enrico war aus
Gigino kein unzuverlässiger Junkie geworden, er hatte seinen Drogenkonsum im
Griff.
Guter
Koks in richtigen Dosen, das heizt den Ehrgeiz an und die Skrupellosigkeit, um
ein erfolgreicher "muschillo" zu werden, eine dieser kleinen Fliegen,
die jeden Boss umschwirren wie einen überreifen Apfel: Zu jeder Drecksarbeit
bereit, um in der "Familie" aufzusteigen. Auch zu einem Auftragsmord.
Karriere-Jungs
wie Gigino gelten als Helden im Block. Als Dealer und Portier kannst du 60 Euro
am Tag machen, als Kurier und Auslieferer der Ware oder als Bodyguard für die
Chefs gibt es ein festes Wochensalär ab 600 Euro aufwärts, so viel, wie du als
Pizzabäcker nicht mal im Monat verdienst. Damit kannst du dir gleich drei, vier
dieser geilen neuen Handys leisten und ein Motorino, später ist eins dieser
Zweiradgeschosse vom Typ Yamaha drin oder ein Mini Cooper in Silbermetallic,
der aktuelle Traumwagen jedes Aufsteigers.
Gigino besaß am Ende
einen feuerroten Ferrari und eine Wochenendvilla, trug eine 10 000-Euro-Rolex
und Designerklamotten. Er feierte eine Traumhochzeit mit einem Mädel aus dem
Viertel für 50 000 Euro und machte ihr drei Kinder, für die er seine Wohnung
inmitten der verkommenen Vela Gialla zu einem gepanzerten Neverland umgestalten
ließ: mit Terrassen-Pool und Marmorböden, mit Schleiflackmöbeln, Jacuzzi-Bad
und Mega-Flachbildschirmen an den Wänden.
Hier
musste Enrico zuletzt mehrmals wöchentlich als Versuchskaninchen antanzen, um
den von Giginos Leuten gestreckten Stoff zu probieren - ein zynischer
Freundschaftsdienst für eine Wochenration Stoff. Vier Mal landete Enrico danach
mit schwersten Vergiftungen auf der Intensivstation, er bekam psychotische
Anfälle und schlug im Delirium alles kurz und klein in der ärmlichen Wohnung
seiner Familie - ein Stockwerk unter Giginos goldenem Nest.
Der
war im Imperium des Paolo Di Lauro ein dicker Fisch geworden. Denn er hatte
zuletzt alle drei Wohnblocks unter sich, einen von rund einem Dutzend
Umschlagplätzen, die der Clan in Scampia und dem benachbarten Stadtteil
Secondigliano betreibt. Jeder einzelne bringt nach Kenntnis der Ermittler um
die 250.000 Euro ein, täglich. Der graumelierte Di Lauro, 51, hatte sein
Gewerbe wie ein Unternehmen organisiert: unter ihm ein fünfköpfiges
"Direktorium" der Allertreuesten, die wiederum kontrollierten das
Dutzend örtlicher Statthalter. Sie bekamen das Rauschgift kiloweise geliefert,
ließen es in eigener Regie strecken und portionieren. Ein Drittel der
Tageseinnahmen konnten sie für sich kassieren. Der Rest ging an den Boss.
Di Lauro war Ende der 90er Jahre zum mächstigsten und reichsten unter den Clanchefs in Neapel
aufgestiegen. Der Vater von elf Kindern hat sich selten öffentlich gezeigt, mit
seiner Familie ein unauffälliges Leben in einer unauffälligen Wohnung geführt.
Befehle gab er nie per Handy, nur über Kurier. Mit einem Heer von noch heute
auf 2.000 geschätzten Getreuen brachte er den Norden Neapels in seine Gewalt
und schuf dort eines der größten Drogen-Einkaufszentren Italiens: Kokain wird
über spanische Mittelsmänner aus Kolumbien geliefert, afghanisches Heroin kommt
über die Türkei, Ungarn und Montenegro oder Albanien ins Land, Haschisch aus
Marokko und Tunesien.
Auf
16 Milliarden Euro schätzt das Innenministerium in Rom die Jahreseinnahmen der
Camorra. Das meiste, sagen die Ermittler, fließt in Di Lauros Taschen:
gewaschen oder reinvestiert in Ferienimmobilien in Spanien und Kroatien, in
Spielcasinos und Bingo-Hallen und in den weltweiten Vertrieb von gefälschten
Bosch-Bohrgeräten, Canon-Kameras und Lederjacken aus China. Nur selten gelingt
es den Fahndern, Vermögen aus Drogengeldern zu konfiszieren: 100 Millionen Euro
sollen es in diesem Jahr insgesamt sein. Für einen Di Lauro die Portokasse.
Wer nicht in Drogen macht,
dem bleiben heute eher Peanuts. Das spüren die anderen Clans besonders, nachdem
das Geschäft mit geschmuggelten Zigaretten unterbunden wurde. Die einst
gefürchtete "Allianz von Secondigliano", ein Bündnis der Familien
Licciardi, Lo Russo, Mallardo und Contini, haben an Geld und Einfluss verloren.
Sie teilen sich die Einnahmen aus Schutzgelderpressungen, Waffenhandel und
Zinswucher. Im Zentrum herrschen die Clans Mazzarella und Giuliano, die neben
Schutzgeldern vor allem öffentliche Gelder für Bauaufträge, Sozialdienste und
die Müllabfuhr abkassieren. Und im Osten haben sich die Misso und Sarno einen
kleinen Anteil am Drogenmarkt gesichert.
Di Lauro - Boss der Camorra in Neapel |
Dass
alle Clanchefs inzwischen flüchtig sind, weil ihnen die Fahnder nach zähen
Ermittlungen mit Haftbefehlen gefährlich nahe gekommen waren, hat die Lage
nicht entspannt, sondern verschlimmert: "Wo die großen Bosse fehlen, kommt
es zu Spaltungen", sagt Giovanni Corona, 39, Chefermittler der
Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft in Neapel: "Weil sie aus ihren Verstecken
nur noch eingeschränkt agieren können, entsteht ein Vakuum, in das Neulinge mit
eigenen Clans drängen." Von den zehn wichtigen Familien haben sich inzwischen
zehn neue Unterclans abgespalten. "Mitunter werden um einzelne Straßenzüge
erbitterte Fehden ausgetragen", sagt Corona.
Der
Krieg um Paolo Di Lauro ist ein Fall wie aus dem Lehrbuch. Im Oktober 2002 wird
sein "Direktorium", später auch sein ältester Sohn Vincenzo
verhaftet. Paolo gelingt die Flucht. Er lässt den Zweitgeborenen Cosimo ans
Ruder, obwohl dem 31-Jährigen das Zeug zum großen Boss fehlt. Cosimo ändert die
Regeln und zerstört das fragile Gleichgewicht im Clan: Statt im Kilo bekommen
die Platzhirsche den Stoff jetzt bereits in Portionen abgepackt, statt einer
satten Gewinnmarge bietet Di Lauro junior schmale Angestelltengehälter.
Ein
paar seiner Führungsleute aus Secondigliano setzen sich daraufhin ab, sondieren
in Spanien neue Kokain-Kanäle und kurbeln das Geschäft auf eigene Rechnung an.
Die "Spanier", wie sie in der Szene heißen, werden den Di Lauros
schnell gefährlich: Denn wer seinen Bereich nicht mehr im Griff hat, ist fast
schon verloren.
Also schlagen die Killer
der Di Lauros zu. Ballern am helllichten Tage in Pizzerien und Spielhallen,
exekutieren in Tabakläden, Autowerkstätten oder auf offener Straße, wen sie für
einen Überläufer halten. Weil sich viele von denen nach den ersten Morden
versteckt halten, trifft es auch Unschuldige. Menschen, die mit einem der
Abtrünnigen verwandt oder befreundet waren. Gelsomina Verde etwa, eine hübsche
22-Jährige aus einem Nachbarviertel von Secondigliano, wurde Opfer der
Di-Lauro-Killer, weil sie mit einem Mitläufer der "Spanier" ausgegangen
war: Am 21. November schossen sie ihr zwei Kugeln in den Kopf, dann verbrannten
sie die Leiche im Fiat 600 ihres Vaters. Die neuen Rivalen sind nicht weniger
zimperlich.
Wie
immer, wenn das Gemetzel zu heftig wird, schreckt das Land auf: 13 000
Polizisten halten die Stadt zurzeit besetzt, Streifenwagen fahren in den
umkämpften Quartieren Parade, Hubschrauber knattern über die Dächer, während
unter ihnen die Stahlgitter und Schutzmauern der Dealer eingerissen werden.
Sieben Bandenchefs der "Spanier" wurden Ende November abgeführt, 51
Gefolgsleute der Di Lauros, darunter noch ein Sohn Paolos. "Für jeden
Kopf, den wir verhaften", seufzt Staatsanwalt Corona, "wachsen
mehrere neue nach." Nur Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen - oft
versprochen, nie realisiert - könnten der Camorra neue Generationen junger
Söldner entziehen.
"Wenn
das Morden vorbei ist", sagt der ehemalige Junkie und Klein-Dealer Enrico
resigniert, "werden die Bullen wieder abziehen, und alles bleibt wie
vorher." Schlangen Süchtiger vor den monströsen Wohnblöcken, wo sie sich
im Minutentakt mit Stoff eindecken. Enrico, heute fast 30, ist seit zwei Jahren
clean, raus aus dem Geschäft dank seiner Frau Cinzia und der Familie, die ihn
nie aufgegeben hat. Vor einem Jahr sind sie alle aus der Vela Gialla
ausgezogen, in eine neue Wohnanlage, zwei Straßenzüge weiter. Da gibt es ein
paar Bäume, saubere Treppenhäuser und Aufzüge, die funktionieren, weil sie noch
niemand zu Waffen- und Drogenlagern umfunktioniert hat.
Enrico hat die Schüsse gehört, die seinen alten Freund Gigino töteten. Der Mord geschah
keine 200 Meter von seiner Wohnung entfernt. Gigino hatte sich mit den
"Spaniern" eingelassen und als einer der Ersten dafür bezahlt. Dass
er, der Ex-Junkie, noch lebt und sein Freund, der Boss, tot ist, klingt für
Enrico wie ein schlechtes Märchen. Er will nicht fotografiert werden.
"Nennt mich Pasquale, Peppino. Ganz egal." Für uns ist er Enrico.
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