Ein
Aufsehen erregendes Interview mit Staatsanwalt Nino de Matteo
Das italienische Justizsystem begünstige die
Mächtigen, die Politik sei tief in die Organisierte Kriminalität verwickelt -
so Staatsanwalt und Mafia-Chefankläger Nino Di Matteo im Interview, das
Jan-Christoph Kitzler für tagesschau.de. geführt hat. Viel Hoffnung auf Besserung hat Di
Matteo nicht - und macht trotzdem weiter. Sogar, nachdem ein Mordauftrag gegen
ihn erteilt wurde.
tagesschau.de: Woher kommt der Druck, dem
Sie als leitender Staatsanwalt in Palermo ausgesetzt sind?
Nino Di Matteo: Wegen der wiederholten Drohungen, der anonymen Briefe, die auch zu
mir nach Hause geschickt wurden, wird gerade in Caltanisetta ermittelt. Eines
ist klar: Diese Drohungen gegen mich und einige meiner Kollegen, die sich mit
demselben Thema beschäftigen, kommen sowohl aus der Welt der Mafia als auch -
besonders was die anonymen Briefe betrifft - aus Kreisen, die nicht mafiös
erscheinen. Sie scheinen aus institutionellen oder halbinstitutionellen Kreisen
zu kommen.
Das wirklich Beunruhigende
ist, dass es vergleichbare Drohungen gibt, die aus zwei scheinbar verschiedenen
Welten kommen. Auf der einen Seite die Mafiaorganisation mit ihren
Bossen, ihren Helfershelfern und den sogenannten Ehrenmännern. Auf der
anderen Seite die Drohungen aus einer anderen Ecke. Der Ton, die Inhalte, die
Bezüge einiger anonymer Briefe, die sowohl an mich als auch an meinen Kollegen
Scarpinato gerichtet sind, kommen nicht von einem "reinrassigen"
Mafioso.
tagesschau.de: Wie sehr ist ihr Privatleben eingeschränkt?
Nino Di Matteo: Ich habe mittlerweile seit 20 Jahren Personenschutz. Die Eskorte
kann einem anfangs auch ein Gefühl der Sicherheit und des Trostes vermitteln,
weil man sich vom Staat beschützt fühlt. Doch nach und nach wird sie ein sehr
einschränkendes Element in unserem Leben. Ich werde den Leuten, die mich
geschützt haben und schützen, immer dankbar sein. Aber wenn das Leben des zu
Schützenden dadurch so entscheidend beeinflusst wird, wie bei mir, dann kommt
einem schon der Gedanke: In bestimmten Momenten leiden wir unter mehr
Einschränkungen als die Mafiosi. Und vor allen Dingen müssen auch unsere
Verwandten, die Menschen, die bei uns sind, diese Freiheitseinschränkungen
ertragen.
Viele Leute sehen im Personenschutz ein Privileg oder sogar ein
Statussymbol. Im Fall der gefährdeten Richter und Staatsanwälte ist das ganz
anders. Er ist vor allen Dingen eine schwerwiegende Einschränkung unserer
Freiheit. Das Leben unter diesen Umständen ist sehr schwer. Man kann das nur
ertragen, wenn man eine große Leidenschaft für seine Arbeit hat.
tagesschau.de: Wie stark ist die Justiz
in Italien?
Nino Di Matteo: Was den Bereich angeht, den ich am besten kenne - beim Kampf gegen
die Mafia - sind wir auf halber Strecke stecken geblieben. Es wurden viele
Schritte im Kampf gegen den militärischen Arm der Mafia gemacht, aber es fehlt
der Qualitätssprung. Den gibt es nur, wenn wir die Bedingungen
schaffen, ein für alle Mal die Verbindungen zu den Politikern und den
Institutionen zu kappen.
Die Politiker helfen uns dabei nicht. Die immer wieder
angekündigten Reformen im Kampf gegen die Korruption, gegen die typisch
politischen Straftaten - gekaufte Stimmen, die sogenannte
Weiße-Kragen-Kriminalität - die uns sehr helfen würden, werden nicht
verabschiedet. Ich denke da an Erpressung im Amt, Amtsmissbrauch, an die
Straftaten im Zusammenhang mit Auftragsvergaben. Unsere Gesetze gegen die
Korruption sind zu schwach. Und zu denken, dass der Kampf gegen die Mafia und
der Kampf gegen die Korruption zweierlei Dinge sind, ist ein großer Fehler.
Wenn das System uns nicht die Mittel gibt, die Korrupten erfolgreich zu
bekämpfen, laufen wir Gefahr, der Mafia in die Hände zu spielen, oder besser:
Das passiert ganz sicher.
Mit Hilfe der Korruption schafft es die Mafia, die Politik und die
öffentliche Verwaltung zu unterwandern und zu beeinflussen. Wir brauchen
daher eine Gesetzgebung, die die Korruption endlich als eine schwerwiegende
Straftat ansieht, denn sie ist der Schlüssel, mit dem Cosa Nostra die
politischen Beschlüsse und die Entscheidungen der Verwaltung beeinflusst.
Wenn wir das nicht verstehen, können wir weiterhin Dutzende,
Hunderte Mafiosi, Erpresser, Drogenhändler verhaften, und doch würden wir die
Mafia nie besiegen. Die Mafia ist erst ein für alle Mal besiegt, wenn wir der
Organisation die Möglichkeit nehmen, sich mit der Politik, mit der
Unternehmerwelt und mit der Wirtschaft zu verflechten.
tagesschau.de: Kann es sein, dass es in
Italien gewisse Kreise gibt, denen es ganz gut zupass kommt, wenn die Justiz
nicht stark, sondern schwach ist?
Nino Di Matteo: Ich würde gern nur an eine Tatsache erinnern: Wir haben in Italien
mehr als 60.000 Häftlinge und unter diesen gibt es nur acht, die wegen
Korruption in letzter Instanz verurteilt wurden. Diese dramatische Tatsache
führt allen klar vor Augen: Gegenüber den Mächtigen agiert das System sanft.
Mit Hilfe der Verjährungsregel weiß der Korrupte, der Mächtige, dass er
davonkommt, weil die Gesetzgebung eine geringe Strafe vorsieht und weil die
Verfahren kompliziert sind. Selbst wenn wir den Straftatbestand der Korruption
beweisen können. Das System läuft Gefahr, gerecht, effizient und rigoros, oft
unnachgiebig gegenüber dem Straßendieb zu sein und gegenüber dem Mächtigen
hingegen mit stumpfen Waffen anzutreten.
Eine politische Klasse, die von sich ständig behauptet, sich für
die Justizreform einzusetzen, um die Justiz effizienter zu machen, die aber
dann zum Beispiel das Hauptproblem der langsamen Prozesse nicht entschieden
angeht, beweist: Es gibt wahrscheinlich Personen, denen das System mit seinen
offensichtlichen Schwächen und seiner offensichtlichen Ineffizienz hilft, um
gewisse kriminelle Kreise zu schützen, die nicht zu den gewöhnlichen
Kriminellen gehören.
tagesschau.de: Haben Sie persönlich
Angst?
Nino Di Matteo: Wenn ich das verneinen würde, wäre ich nicht aufrichtig. Ich
glaube, dass die Angst, mich und vor allen Dingen meine Familie und Freunde
Rache- und Vergeltungstaten ausgesetzt zu sehen, menschlich ist, und sie
befällt mich oft. Paolo Borsellino, mein Vorgänger hier in Palermo sagte:
"Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst. Mut ist das Bewusstsein, dass es
Gefühle gibt, die dich vorantreiben und dich die Angst überwinden lassen".
Es ist ein Bewusstsein, dass dich mit deiner Arbeit erhobenen Hauptes
weitermachen lässt, ohne sich von gefährlichen Drohungen der Mafia oder anderern,
mafösen Organisationen beeinflussen zu lassen.
Wenn ich diese Überzeugung nicht mehr hätte, wäre es ehrlicher,
die Robe an den Haken zu hängen und sich anderem zuzuwenden. Wir sind keine
Helden, wir sind Menschen wie alle anderen - das wäre ja noch schöner! Und der
Beruf, den wir ausüben, und auch der Respekt für die vielen unserer Kollegen,
die getötet worden sind, zwingt uns weiterzumachen, ohne uns von der Angst
einschüchtern zu lassen.
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