Montag, 8. Dezember 2014

Der Mafia-Pate - Dein Nachbar gleich nebenan

Mitten in Rom hat sich die Mafia breitgemacht – die Römer sind geschockt. Auch "Welt"-Autorin Constanze Reuscher sieht ihren Stadtteil mit anderen Augen. Auf den Spuren der organisierten Kriminalität.



Die Mafia ist mitten unter uns: Die Bosse wohnen nebenan, gehen mit uns Kaffeetrinken, auf den Markt, und wir kaufen ahnungslos bei ihnen ein. Mir ist das passiert, in Rom. Der Pate der Mafia Capitale, die Anfang Dezember in Rom aufgeflogen ist, lebte und agierte in meiner Nachbarschaft. Es sind Leute, die immer höflich waren, nie laut und nicht auffielen – eben gute Nachbarn. Aber es gab Signale, die man hätte erkennen können.

Der gigantische Mafiaskandal, der ganz Italien erschüttert hat, ist vor wenigen Tagen aufgeflogen: Mafia Capitale ist so eine Bande von nebenan. Eine ganz neue Form der Mafia, nicht aus dem Süden importiert, sondern mitten in der Stadt gewachsen. 38 Personen wurden bei einer Razzia verhaftet. Gegen weitere 100 wird ermittelt, darunter auch Roms ehemaliger Bürgermeister Gianni Alemanno.

Der soll, wie aus abgehörten Gesprächen hervorgeht, "ganze Koffer voller Geld nach Argentinien" gebracht haben. Er bestreitet das zwar, doch der Hass auf die korrupte Politik wächst rasant. Der Antikorruptionschef der Regierung Renzi, Raffaele Cantone warnt jetzt vor einem Klima "der Lynchjustiz wie bei Tangentopoli 1993" – der riesige Korruptionsskandal, an den Politiker quer durch alle Parteien im ganzen Land beteiligt waren.

Mafia Capitale ist eine explosive Mischung aus gewalttätigen Rechtsradikalen, Ex-Terroristen, gewöhnlichen Mafiosi, kriminellen Roma, hohen Beamten und Politikern. Gemeinsam haben sie sich mit ihren schmutzigen Machenschaften in den Stadtkassen bedient. Allein in diesem Jahr wurden in der italienischen Hauptstadt Güter, Immobilien und Bargeld aus Mafiaverbrechen im Wert von 1,2 Milliarden Euro beschlagnahmt.

Ein Schock für die ganze Stadt. Dass Pate Massimo Carminati, oder wie er sich selbst nannte, der "König von Rom", und seine Schergen Leute von nebenan waren, ist für viele Römer – auch für mich – noch schlimmer.


Die Villa vom Boss


Foto: Constanze Reuscher - Eine Villa 15 Kilometer vor Rom: Hier hat es sich der Mafiaboss gemütlich gemacht 


Carminatis privates Hauptquartier war eine hübsche Villa in Traumlage auf den Hügeln 15 Kilometer vor der Stadt: von der Terrasse der Blick auf Rom im Süden, links auf die verschneiten Berge der Abruzzen im Osten. Rechts die Ebene, die bis zum Horizont im Westen reicht und wo die Sonne abends im Meer versinkt. Die Villa liegt an der Via Monte Cappelletto, gehört zum malerischen Borgo Sacrofano. Wir wohnen nur ein paar Kilometer weiter in Richtung Rom.

Die Gegend ist grün und ländlich, zum großen Teil Naturschutzgebiet, für römische Verhältnisse trotzdem stadtnah. Viele Familien ziehen hierher, damit die Kinder nicht im Großstadtsmog aufwachsen. Die Villa vom Boss Carminati kannten wir gut, haben oft auf der Terrasse gesessen, die Kinder haben glückliche Stunden hier verbracht: Einer ihrer Schulkameraden lebte dort. Die Familie verkaufte die Villa Anfang 2014 an die Lebensgefährtin von Carminati, die in der Straße einen Reitstall betreibt. "Wir waren ahnungslos", sagen sie heute verzweifelt. "Es ist eben immer das Gleiche: Heute können sich nur noch solche Leute eine Villa leisten!" Hätten sie beim Verkauf besser hinschauen sollen? Aus den Akten der Justiz geht hervor, dass viel Bargeld im Spiel war – davor wird von Mafiafahndern in Italien immer gewarnt.

Die Straße ist schmal. Das ist für das Hauptquartier eines Mafiachefs perfekt, man kann so alles gut kontrollieren. Es liegen hier noch mehr Prachtvillen, einige sind im Besitz von Bandenmitgliedern. Der italienische Innenminister Angelino Alfano warnte am Samstag, dass die "Mafia keine ethnisch-territorial definierte Bande ist, die nur in Corleone auf Sizilien ihre Heimat hat". Doch die herkömmliche Kontrolle des Territoriums, also der Gegend, in der die Mafiabosse leben und agieren, ist für diese Leute genauso lebenswichtig wie für ihre sizilianischen Kollegen.

Massimo Carminati wähnte sich in der kleinen Via Monte Cappelletto sicher. Bis zum Morgen des 30. November, als Carabinieri am Eingang der Straße auf ihn warteten und ihn verhafteten.

Eine blitzartige Aktion: Die Fahnder fürchteten, dass Carminati ins Ausland fliehen könnte. Das hatte er schon einmal versucht: vor 30 Jahren. An der französischen Grenze hatte er sich damals eine Schießerei mit der Grenzpolizei geliefert und dabei ein Auge verloren. Carminati soll Auftragsmorde begangen haben, war früher ein Mitglied der rechtsradikalen Terrororganisation NAR und im Dunstkreis der Banda della Magliana. Das ist eine römische Verbrecherbande, die in den 70er- und 80er-Jahren als Waffenlieferant und Bindeglied zwischen sizilianischer Mafia, Geheimdiensten und Terroristengruppen diente und oft die "schmutzige Arbeit" machte.


Die Bar als Gründungsort


Im Café "Vigna Stelluti" wurden die Mafia Capitale gegründet


Mafia Capitale wurde erst vor zwei Jahren eine straff organisierte Bande. Der offizielle Gründungsakt erfolgte am 13. Dezember 2012 in einer Bar am Largo di Vigna Stelluti. Der Platz liegt im Stadtteil Vigna Clara, das ist der erste Anlaufpunkt für Modebegeisterte, die von Sacrofano und dem nördlichen Stadtrand stadteinwärts kommen. An dem Platz und in den Straßen drum herum liegen schicke und renommierte Geschäfte. Viele der Läden hatte der Boss gekauft, wie jetzt aufflog. In anderen zog er Schutzgeld ein.

Das Café "Vigna Stelluti" ist eine Traditionsbar in Vigna Clara, stadtbekannt für köstlichen Cappuccino, Aperitifs, Torten und Dolci. Auch an diesem sonnigen Wintertag ist die Bar voll, draußen in den umliegenden Straßen sind die Läden in der Vorweihnachtszeit geöffnet. Am Tresen steht Starmoderator Amadeus und schlürft seinen Cappuccino.

Als Carminati hier seine Mafia Capitale gründete, schnitten und filmten die Fahnder bereits mit: Hier sagte er, dass die Bande die "Zwischenwelt" sei, die sich bei der "Oberwelt", also bei Politikern und hohen Beamten, mit Schmiergeldern einkaufe, um am Millionenkuchen öffentlicher Aufträge teilzuhaben. Sie werde die "Unterwelt", die "Toten" ausbeuten – Geschäfte mit Roma und Sinti und Gewinne mit der Verschiebung von Flüchtlingen machen.

Die Kellnerin will ihn nie gesehen haben, wird aggressiv, als ich sie danach frage. Aber "Er Guercio", der Schielende, saß doch oft hier, kontrollierte die Gegend. Will das niemand gesehen haben? Mein Nachbar am Tresen ist Sizilianer, lacht auf die Frage und sagt: "Das ist doch typisch!" Er selbst hat den Boss nie bemerkt, aber doch gesehen, wie der Stadtteil immer mehr heruntergekommen sei. "Das ist typisch für Gegenden, in die sich die Mafia einkauft. Sie haben kein Interesse, wirkliche Geschäfte zu machen, sondern kaufen sich ein, um ihr Geld zu waschen."


Die Tankstelle als Hauptquartier


Die Tankstelle Eni war das Hauptquartier des organisierten Verbrechens in Rom


Auf der Fahrt hinaus in unsere Vorstadt tanke ich, genau wie viele meiner Nachbarn, an der Eni-Tankstelle am Corso di Francia, der den Verkehr der Konsularstraße Flaminia aufgenommen hat. Gegenüber der Tankstelle führt eine Straße hinauf zum Largo Vigna Stelluti, der Corso di Francia teilt den Stadtteil Vigna Clara. Auf wenigen Kilometern dieser hier sechsspurigen Ausfallstraße machen sich viele Tankstellen Konkurrenz, aber die Preise von dieser sind ungeschlagen. Am letzten Sonntag war ich zuletzt dort. Die Tankwarte sind freundlich und hilfsbereit, kontrollieren immer schnell noch Öl, waschen die Scheiben. An der Waschstraße stehen nur Luxuswagen, Mercedes, BMW, Ferrari, Maserati, Jeep, aber in der Gegend wohnen ja viele reiche Leute.

Zum Zahlen kommt immer der Chef persönlich ans Auto, ist sehr höflich: "Guten Abend, Signora!", "Noch einen Wunsch, Signora?", "Arrivederci, Signora!" – bis zum nächsten Mal. Das dürfte jetzt dauern. Auch Roberto Lacopo war ein Bandenmitglied, sitzt jetzt hinter Gittern.

Mit dem Paten Massimo Carminati saß er oft auf der alten Holzbank vor dem Tankstellenshop, die eigentlich für Kunden der Waschstraße dort steht. Die Tankstelle war das Hauptquartier von Mafia Capitale. Von hier wurden Millionengeschäfte abgewickelt, Befehle per Handy erteilt und Drohungen ausgesprochen – alles von den Ermittlern mitgeschnitten. Die Tankstelle liegt im Herzen des Viertels, das von jeher für einen großen Anteil alt- und neofaschistischer Römer bekannt ist. Carminati und seine Kumpane lebten hier schon als Jugendliche, noch bevor sie als Kriminelle für die Banda della Magliana arbeiteten.

Heute ist Carminati selbst der Chef aller römischen Banden: Laut der Fahndungsergebnisse mussten selbst die Mafiaorganisationen aus Süditalien Cosa Nostra, Camorra und N'drangheta dem Boss Rechenschaft ablegen, Genehmigungen einholen. Die Mafia Capitale verkaufte Waffen an die Sizilianer, half der Camorra beim Business mit Giftmüll, der N'drangheta beim Großeinkauf von Immobilien, Läden und Restaurants. Mit der Familie Casamonica, sesshaften italienischen Roma, hat Carminati einen Pakt geschlossen.

Nicht weit von hier liegt auch das Romacamp Tor di Quinto, eins von acht römischen Lagern, die ein linker Bürgermeister schuf. Mit diesen Camps machte Mafia Capitale Millionenumsätze. Über ein Konsortium von Dienstleistungsfirmen, die Carminatis Partner und Vizechef, dem Unternehmer Salvatore Buzzi, gehören, wurden Politiker gekauft, die die Instandhaltungsaufträge an die Bande vergaben. Nur instandgehalten wurde nie: Die Roma-Lager sind verwüstete Favelas, in denen auch giftiger Müll verklappt wird und deren zum Teil kriminelle Insassen ganze Stadtteile mit Raubzügen in Schach halten.

Dass niemand die Mafia Capitale aufhielt, liegt wohl auch daran, dass einer der in die Strukturen der Bande verwickelten Politiker ein ehemaliger Chef der Provinzpolizei war. Er organisierte auch das einträgliche Geschäft mit den Flüchtlingen. Die Bande kassierte Gelder, war Betreiber der Flüchtlingsheime und schleuste illegal Menschen aus sizilianischen Aufnahmelagern nach Rom.


Piazza di Ponte Milvio als Umschlagplatz


Das Kneipenviertel an der Piazza di Ponte Milvio nutzte die Mafia Capitale als Umschlagplatz


Zur rechtsfreien Zone wurde in den letzten Jahren auch die hübsche Piazza di Ponte Milvio, tagsüber Marktplatz und Einkaufsgegend, nur 200 Meter vom Corso di Francia entfernt, und nachts Kneipenstraße und Treffpunkt einer römischen Movida. Aber auf der Brücke, die über 2000 Jahre alt ist und wo Kaiser Konstantin 312 "im Zeichen des Kreuzes" die bedeutende Schlacht an der Milvischen Brücke schlug, blüht nachts der Rauschgifthandel. Mafia- und Albanerbanden teilen sich das Geschäft.


Mafia-Pate Massimo Carminati bei seiner Verhaftung


Erst kürzlich gab es eine Schlägerei in einem der vielen Lokale in den Gassen rund um die Piazza, von denen einige Carminati und seinen Leuten gehören. Auch der Boss soll dabei gewesen sein, als sie sich im "Coco Loco" prügelten. Gleich gegenüber dem Lokal liegt ein Autohändler, der die Bosse mit Limousinen versorgte.

Zu viele. Vieles spielte sich da ab, was auf die Präsenz von Mafia deutet – in Palermo, aber auch in Mailand, Rom oder Berlin: Viele neue Luxusläden und elegante Restaurants, die aber in Zeiten anhaltender Rezession selbst keine Kunden mehr haben. Mein Vorstadtfriseur hatte vor Jahren eine Filiale gegenüber vom Szenelokal "Coco Loco" eröffnet, aber kurz darauf wieder geschlossen – jemand hatte Schutzgeld verlangt, aber er wollte da nicht mitmachen.
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http://www.welt.de/politik/ausland/article135139553/Die-Mafia-wohnt-hier-gleich-nebenan.html

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