Von Bernhard Ott
Staat
und Mafia sind in Italien lange Zeit identisch gewesen, sagt Leoluca Orlando,
Bürgermeister von Palermo. Im Interview erzählt er, wie der Umbruch gelang.
Der 67-jährige Jurist
Leoluca Orlando ist 2012 zum vierten Mal zum Bürgermeister von Palermo gewählt
worden. In seiner ersten Amtszeit ab 1985 vollzog er als Vertreter der
Democrazia Cristiana einen radikalen Bruch mit der Mafia. 1986 wurden in
Palermo über 400 Mafiosi zu insgesamt 2500 Jahren Haft verurteilt.
Die Mafia schwor Rache und
ermordete daraufhin Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und Staatsanwalt
Paolo Borsellino. Bürgermeister Orlando sollte der nächste sein und musste
zeitweise untertauchen. Das Schweigen um die Mafia war jedoch gebrochen.
Orlando war Mitglied des Europäischen Parlaments und ist Sprecher der Partei
Italia dei Valori im italienischen Parlament.
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Leoluca Orlando |
Frage: seit über 20 Jahren weiß ich nicht
mehr, was es heißt, in Italien allein spazieren zu gehen», schrieben Sie im
Jahr 2008. Können Sie heute wenigstens in der Schweiz allein spazieren gehen?
Orlando: In der Schweiz geht das. Aber in Italien bin ich seit meiner ersten Wahl
zum Bürgermeister von Palermo im Jahr 1985 Tag und Nacht von Leibwächtern
umgeben. Ich kann nicht spazieren gehen, Kaffee trinken oder ins Kino gehen
ohne Bodyguards. Ich bin seither auch nie mehr selber Auto gefahren.
Frage: Sie werden stets von einem Chauffeur
gefahren?
Orlando: Ich weiß gar nicht
mehr, was Autofahren heißt. Ich werde immer von Polizeibeamten gefahren. Aber
wichtiger als mein persönliches Schicksal ist die Veränderung in meiner
Heimatstadt Palermo. Heute ist Palermo nicht mehr unter der Kontrolle der
Mafia.
Frage: Was Ihr Verdienst ist.
Orlando: Ich habe meinen Beitrag
dazu geleistet wie viele andere auch. Aber zurück zu Palermo. Palermo und
Sizilien sind Mosaike, keine Bilder. Im Unterschied zu einem Bild braucht ein
Mosaik einen Rahmen. Die Bilder von Antonello da Messina (1430–1479) oder von
Joan Miró (1893–1983) brauchen keinen Rahmen. Es sind auch so wunderschöne
Kunstwerke. Ein Mosaik hingegen wäre ohne Rahmen bloss eine Ansammlung
einzelner Steinstücke.
Frage: Der Rahmen des palermitanischen
Mosaikes sind die Gesetze?
Orlando: In
einem normalen Land ist das so. In Palermo und Sizilien war das in der
Vergangenheit aber anders. Hier bildeten über Jahrhunderte die aristokratischen
Familien, die katholische Kirche und die Mafia den Rahmen. Sie haben eine Art
gesellschaftlicher Harmonie garantiert, wenn es sich dabei auch um eine
kriminelle Harmonie gehandelt hat. Danach kam der Faschismus, der mit Kirche
und Mafia den neuen Rahmen gebildet hat. Und nach dem Zweiten Weltkrieg war es
die Politik, die mit Kirche und Mafia die Dinge bestimmt hat.
Frage: Sie sind ja auch ein Politiker.
Orlando: Ja, aber ich kam nach
meiner ersten Wahl zum Oberbürgermeister von Palermo rasch mit der Mafia und
mit der Politik in Konflikt. Dabei hatte ich ja nicht die Funktion eines
Polizisten oder Staatsanwalts inne. Meine Rolle war es nicht, die Bosse der
Mafia ins Gefängnis zu bringen. Ich wollte Palermo vielmehr einen neuen Rahmen,
ein neues Wertesystem geben. Dabei geriet ich aber zwangsläufig in Opposition
mit den damaligen italienischen Ministerpräsidenten Giovanni Andreotti und
Bettino Craxi, die einen Teil des traditionellen Rahmens bildeten. Ob sich
diese Leute strafrechtlich verantwortlich gemacht haben, kann ich nicht sagen.
Sie waren aber die politischen Beschützer des Systems der Mafia. Das hat mich
auf die Todesliste gebracht. Nach der Ermordung von Richter Giovanni Falcone
und Staatsanwalt Paolo Borsellino 1992 sollte ich der nächste sein.
Frage: Da ist die Attentatsserie zum Glück aber
wieder abgebrochen. Seit der ersten Wahl Silvio Berlusconis zum
Ministerpräsidenten 1994 ist es merkwürdig ruhig um die Mafia. Ein Zufall?
Orlando: Die Mafia war kein
Phänomen außerhalb der italienischen Geschichte und der staatlichen
Institutionen. Die Mafia war Teil der Geschichte und Teil der staatlichen
Institutionen seit der Bildung des Nationalstaates im 19. Jahrhundert. Die
Mafia war Teil der Monarchie und des Faschismus. Sie hat der Landung der
amerikanischen Truppen auf Sizilien 1943 zum Erfolg verholfen. Sie war Teil der
Ersten Republik (1946–1994), Teil der diversen Regierungen der Democrazia
Cristiana, als es in der Ära des Kalten Krieges darum ging, eine Beteiligung
der kommunistischen Partei an der Regierung um jeden Preis zu verhindern. Und
sie war schließlich Teil des Systems Berlusconi.
Frage: Vor Berlusconi gehörten Attentate aber zum
Alltag. Ab 1994 jedoch nicht mehr. Warum?
Orlando: Berlusconi kam just zu
einer Zeit, als die Mafia Ruhe benötigte. In den Jahren 1992/93 begriff die
Mafia, dass die damalige Attentatsserie für sie zu einem Bumerang geworden war,
weil das Schweigegebot, die Omertà, zerbrochen war. Die Menschen redeten über
die Attentate und gingen erstmals in Massen auf die Straße, um gegen die
Untaten der Mafia zu protestieren. Unter Berlusconi war es für die Mafia zudem
gar nicht mehr nötig, zu gewalttätigen Methoden zu greifen. In den zwanzig
Jahren, in denen Berlusconi an der Macht war, hat er eine politische Kultur im
öffentlichen Leben Italiens installiert, die der Mafia nützlich war. Diese
bestand aus kontinuierlichen Angriffen auf das Justizsystem. Er diskreditierte
die Staatsanwälte als Extremisten und Kommunisten und als willkürlich.
Berlusconi hat die Laster der Ersten Republik zu einer Volkskultur umgewandelt.
In der Ersten Republik gab es viele Interessenkonflikte. Diese bestanden aber
auf einer institutionellen Ebene. Es waren die großen Institutionen im Land
involviert, wie zum Beispiel der Vatikan, die Mediobanca, die Investments in der
Industrie finanzierte, große Unternehmen wie Fiat und andere. Mit Berlusconi
wurde der Interessenkonflikt aber zum Volkssport.
Frage: Jeder hatte seinen kleinen Berlusconi in
sich.
Orlando: Exakt. Die Unterschiede
zwischen Kontrolleur und Kontrolliertem, zwischen Käufer und Verkäufer,
zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Staat und Markt wurden verwischt. Auch in
der Ersten Republik gab es Vulgarität, aber das geschah hinter vorgehaltener
Hand, man hat sich dafür geschämt, man übte sich in der Kunst des Heuchelns.
Mit Berlusconi wurde die Vulgarität zum Lebensstil erhoben.
Frage: Der siebenfache Ministerpräsident Giulio
Andreotti, dem zumindest in der Anfangsphase Kontakte zur Mafia nachgewiesen
werden konnten, war demnach ein diskreter Mann im Unterschied zu Berlusconi?
Orlando: Man kann vieles sagen
über Andreotti, aber er war gewiss nicht vulgär. In der Ersten Republik gab es
viele Korruptionsfälle. Mit Berlusconi wurde die Korruption zum System. Tausend
geahndete Korruptionsfälle in einem funktionierenden politischen System sind
weniger gefährlich als ein korruptes System mit hundert Korruptionsfällen, von
denen viele ungeahndet bleiben. Berlusconi hat alle und alles korrumpiert.
Frage: Es gab aber auch direkte Kontakte zwischen Berlusconi
und der Mafia. Diesen April wurde der Berlusconi-Getreue Marcello Dell’Utri,
der wegen Kontakten zur Mafia verurteilt wurde, im Libanon verhaftet. Der
ehemalige Staatssekretär für Wirtschaft, Nicola Cosentino, vor Monaten
ebenfalls verhaftet worden ist.
Orlando: Diese Leute sind
strafrechtlich verantwortlich. Die Beurteilung ihrer Taten ist Sache der
Justiz. Das Problem ist aber, dass für diese Leute das System Berlusconi der
Rahmen ihres Wirkens war und nicht das Gesetz. Berlusconi wie Andreotti haben
sich anstelle des Gesetzes gesetzt. Im Rahmen des Systems Berlusconi konnte man
«legal» illegal funktionieren. Der einstige Infrastrukturminister der Regierung
Berlusconi hat gesagt, dass es im Interesse der Geschäfte notwendig sein könne,
mit der Mafia zu leben. Ein Minister hat so etwas gesagt! Das ist ähnlich
pervers, wie die Leugnung der Mafia durch den damaligen Erzbischof von Palermo
in den Sechzigerjahren. Stellen Sie sich einmal vor, in welche Konflikte dies
die Priester in Sizilien gebracht hat, die im Alltag mit der Mafia konfrontiert
waren.
Frage: Bisher gab es immer eine Art
unausgesprochenen Pakt zwischen Staat und Mafia. Der neue Ministerpräsident
Matteo Renzi hat nun aber angekündigt, die Mafia zu bekämpfen. Besteht dabei
nicht die Gefahr, dass der Pakt zerbricht und eine neue Serie von Attentaten
ausgelöst wird?
Orlando: Es gab diesen Pakt erst
in den letzten Jahren. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg waren Staat und Mafia in
Süditalien identisch. Der Bruch trat erst bei der Attentatsserie von 1992/93
ein, weil die Mafia dem Staat den Krieg erklärt hatte. Danach erst gab es den
von Ihnen erwähnten Pakt zwischen den staatlichen Institutionen und der Mafia.
Ich bin Oberbürgermeister von Palermo und bin vom Volk gewählt. Meine Vorgänger
aber waren Freunde des jeweiligen Mafia-Bosses, einer war sogar Bürgermeister
und Mafiaboss in Personalunion. Berlusconi hat versucht, die Identifikation
zwischen Staat und Mafia erneut zu installieren.
Frage: Berlusconi ist weg. Wird es wieder Attentate
geben?
Orlando: Dieses Risiko besteht
immer. Sicher ist, dass die heutige Regierung gegen die Mafia ist. Wer in der
Ersten Republik oder unter Berlusconi die Identifikation von Staat und Mafia
anprangerte, war entweder ein Heiliger oder ein Verrückter, auf jeden Fall
erhielt er in seinem Kampf keine Unterstützung und blieb allein. Ich hoffe,
dass es der neuen Regierung von Matteo Renzi gelingen wird, eine neue
politische Kultur in Italien zu etablieren.
Frage: Das wird die Mafia doch provozieren?
Orlando: Die Mafia weiß, dass
sie nicht mehr zu den Mord-Kampagnen in den frühen 1990er-Jahren zurückkehren
kann. In Palermo ist es gelungen, eine selbstbewusste Zivilgesellschaft zu
etablieren. Der heutige Rahmen des Mosaiks Palermo ist der Respekt vor den
Menschenrechten. Seit meiner Wiederwahl zum Oberbürgermeister im Jahr 2012
versuche ich, das Bewusstsein für die Einhaltung der Menschenrechte zu
schärfen. Ich bin stolz, Oberbürgermeister einer Stadt zu sein, in der im
letzten Jahr die größte Gay Pride in Südeuropa stattfand.
Frage: Warum haben Sie 2012 zum vierten Mal als
Bürgermeister von Palermo kandidiert? Warum haben Sie sich das angetan?
Orlando: Diese vierte Kandidatur
war nicht meine ursprüngliche Absicht. Im März 2012 stellte ich mich öffentlich
hinter die Kandidatur von Rita Borsellino, der jüngeren Schwester des 1992
ermordeten Staatsanwaltes Paolo Borsellino. Zwanzig Jahre nach der Ermordung
Borsellinos wäre es ein starkes Zeichen gewesen, wenn dessen Schwester
Oberbürgermeisterin Palermos geworden wäre. Dann wurde sie aber Orlando: Ende März von ihrer Partei,
dem Partito Democratico (PD), aufgrund einer Manipulation von Stimmen nicht
nominiert. Ich hatte Angst, dass meine Stadt durch die erneute Wahl eines
ignoranten Politikers endgültig sterben könnte. Daraufhin habe ich mich in
letzter Minute entschlossen, nochmals anzutreten. Bei den Wahlen zwei Monate
später ist das Parteiensystem in Palermo und Sizilien regelrecht kollabiert.
Die Koalition der Parteien, die mich unterstützt haben, erhielt nur 14 Prozent
der Stimmen, ich selber erhielt aber 74 Prozent der Stimmen. Ich bin also nicht
der Bürgermeister einer Koalition. Meine Partei ist Palermo.
Frage: Sie sagten bei Amtsantritt, dass Sie
angesichts der riesigen Probleme der Stadt eigentlich die weisse Fahne hätten
hissen müssen. Worauf spielten Sie damit an?
Orlando: Bei meinem Amtsantritt
war die Stadt pleite. Ich hätte das hinnehmen und Palermo für bankrott erklären
können. Ich war ja nicht schuldig an der Misere, die Stadt wurde während eines
Jahrzehnts von einem Vertreter von Berlusconis Forza Italia regiert. Aber ich
war angetreten, um die Stadtverwaltung zu reformieren und wollte als Erstes das
Budget ins Gleichgewicht bringen. In den ersten zwanzig Monaten nach dem
Amtsantritt war ich verrückt und hysterisch. Danach war ich nur noch verrückt.
Frage: Palermo, eine Stadt mit 700'000 Einwohnern,
hatte bei Ihrem Amtsantritt 22'000 städtische Angestellte. Es standen zum
Beispiel rund 100 Busfahrer auf der Lohnliste, die gar keinen Führerausweis für
Busse besaßen.
Orlando: Das stimmt leider. Der
Personalaufwand betrug 64 Prozent des Budgets. Bis heute ist es gelungen, ihn
auf 47 Prozent zu senken. Die Investitionen wiederum beliefen sich auf weniger
als ein Prozent des Budgets. Heute ist unser Budget gemäß oberstem Rechnungshof
in Ordnung. Wir sehen Licht am Ende des Tunnels. Die Verbesserung der Lage
zeigt sich auch im Anstieg des Zuflusses an EU-Geldern. Im Jahr vor meiner
Wahl, 2011, erhielt die Stadt Subventionen von bloss 35'000 Euro von der
Europäischen Union. Angesichts dieser lächerlichen Summe hätte es sich eher
gelohnt, der EU den Krieg zu erklären und die Stadtpolizei nach Brüssel zu
schicken. Das hätte Palermo zwar kein Geld, aber zumindest weltweite Publizität
gebracht. Innerhalb von sechs Monaten ist es mir gelungen, EU-Gelder in der
Höhe von 400 Millionen Euro für Palermo lockerzumachen.
Frage: In Palermo gab es eine Volksbewegung gegen
den Pizzo, das Bezahlen einer Art von «Steuer», welche die Mafia mit Gewalt von
Gewerbetreibenden eintreibt. Wird noch Pizzo bezahlt in der Stadt?
Orlando: Vor kurzem musste ich
bei der Jahresversammlung der Vereinigung Addiopizzo sprechen. Das ist eine der
zivilgesellschaftlichen Organisationen, vor denen ich regelmäßig Rechenschaft
über meine Bemühungen ablege.
Frage: Was haben Sie den Leuten gesagt? Müssen die Ladenbesitzer
nach wie vor Pizzo bezahlen?
Orlando: Ja, das gibt es nach
wie vor. Aber früher bezahlten alle Pizzo, die nicht selber der Mafia angehört
haben. Heute bezahlen nur noch diejenigen Leute Pizzo, die bisher schon Pizzo
bezahlt haben. Neue Unternehmer sind kaum mehr erpressbar, auch wenn die
Erpresser bisweilen drohen, sie im Falle einer Verweigerung bei der Polizei als
Bezahler von Pizzo zu denunzieren.
Frage: Wie unterscheidet sich die neue von der alten
Mafia?
Orlando: Die traditionelle Mafia
hat die traditionellen Werte wie Ehre, Familie, Freundschaft und Glaube
pervertiert. Die neue Mafia hingegen operiert global.
Frage: Welche Rolle spielt dabei die Schweiz?
Orlando: Die, eines wunderschönen, idealen Treffpunktes. Organisierte Kriminelle
brauchen eine Bank, um illegales Geld in legales Geld zu transformieren und
umgekehrt. Ich habe nichts gegen Geld, ich brauche Geld. Aber seit der
Finanzkrise ist das Geld zum Gott in Europa geworden. Im Namen des Geldes gibt
es keinen Unterschied zwischen Mafia und ziviler Gesellschaft mehr. Es gibt keinen
Unterschied zwischen einem Mafia-Haus in Corleone und einer Bank in Frankfurt.
Im neuen Europa sind die einzigen Werte das Geld und das Vermehren von Geld.
Der Euro ist ein Dom zu Ehren des neuen Gottes. Die Produktion hat keinen Wert
mehr. Das Produzieren von Möbeln, das Handwerk, das Gewerbe oder das Lehren von
Wissen haben keinen Wert mehr.
Frage: Hat die Finanzkrise der Mafia geschadet?
Orlando: Die Mafia macht immer
Geschäfte. Sie kennt keine Krise, weil sie Geld kontrolliert. Wir haben eine
ökonomische Krise in Europa, aber die Finanzgruppen und die Banken sind reicher
geworden. Die Kosten der Krise bezahlen nicht die Finanzgruppen, sondern der
einfache Steuerzahler. Der wachsende Widerstand gegen den Euro in verschiedenen
Ländern Europas ist eine Reaktion auf die Vergöttlichung des Geldes. Die neue
Mafia pervertiert globale Werte. Sie braucht Freiheit ohne Regeln, sie braucht
Reichtum ohne Entwicklung.